Raoul Auernheimer
Metternich
Raoul Auernheimer

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Ein feiner alter Herr sitzt im Lehnstuhl

So könnte man die beiden letzten Bilder Metternichs überschreiben, die zeitlich ungefähr zehn Jahre auseinander liegen. Das eine zeigt uns den Achtundsechzigjährigen, auf dem anderen ist er um ein volles Jahrzehnt älter. Auf jenem trägt er noch das Galakleid des Ministers, das ihm wie eine Schlangenhaut schillernd und eng am Leibe sitzt, und sein Hals ist immer noch umstrickt von den Bändern der Ordenssterne und dem Kollier des Vließes. Auf dem anderen ist er glanzlos, aber bequem in feines Schwarz gekleidet, schwarzer Rock, schwarze, schwere Seidenkrawatte. Alle Würden sind von dem sichtlich durch die Revolution Gezeichneten abgefallen, nur die Würde ist ihm geblieben. Geruhsam hält er ein Buch auf den übereinandergelegten Knien. Auf dem ältlichen Ministerbilde saß er noch zwischen Bittschriften, Zeitung und einem dämmerigen Frauenreigen, der auf einem schattenhaften Möbelstück im Hintergrund gräzisierend eine mythische Begebenheit in Tanz auflöst. Sind es Grazien, sind es Musen? Auf dem späteren Bilde sind sie jedenfalls entschwunden, bitter blickt der Greis ins Leere. Merkwürdig, wie er jetzt dem alten Grillparzer gleicht, mit dem seitlich geneigten Kopf und dem tragisch 274 gefaßten, mürrischen Gesichtsausdruck: ihm, seinem alten Widersacher. Widersacher? Am Ende ihrer Tage waren sie doch beide zwei schmerzlich enttäuschte große Österreicher.

Zwischen diesen beiden Bildern liegt die Revolution von 1848, das größte Ereignis im Leben Metternichs, seit St. Helena. Dennoch darf man ihre Bedeutung für den Zusammenhang seines Charakters und Schicksals nicht überschätzen, genau wie im Falle seines Widersachers. Napoleon war derselbe auch auf St. Helena, Metternich kein anderer nach 1848. Nur daß er jetzt bloß redete, was er früher getan hatte. Und selbst das macht keinen allzu großen Unterschied; denn er hatte auch schon in den letzten zehn Jahren seiner Regentschaft hauptsächlich geredet. »He alone speaks«, witzelte sein eifersüchtiger Rivale Graf Kolowrat, hieße das Stück, das täglich im Regentschaftsrat aufgeführt werde. So freilich könnte jeder Diktator heißen; es ist ein Gattungsmerkmal, daß sie alleine reden. Diktatur ist Monolog und schon darum im Grunde undramatisch und unfruchtbar. Denn nur aus einem Dialog und dem Aufeinanderprall der Charaktere entwickelt sich eine folgerichtig fortschreitende Handlung.

Der Regentschaftsrat, das Perpetuum immobile, verhinderte fast jede derartige Möglichkeit. Dazu war er ja schließlich geschaffen, unter Metternichs eigener Mitwirkung geschaffen worden. Seinem im Grunde leidenschaftslos deliberierenden Wesen lag die Verteidigung besser als der Angriff. Leidenschaft tritt entgegen, Klugheit verhindert, und er war allzeit größer im Verhindern gewesen, sogar Napoleon hatte er schließlich verhindert. Das ging dann im Alter so weit, daß er, immer auf Verhindern bedacht, sich am Ende selbst verhinderte. In jenem anderen, seinem letzten Lehnsessel, sagte er einmal, elegisch zurückblickend: »Ich habe vielleicht Europa, aber niemals Österreich regiert.« Und noch im Ministerfauteuil seufzte er: »Nicht einmal einen Hausmeister kann ich ernennen!« Dies 275 wahrscheinlich aus dem Grunde nicht, weil die Hausmeister als eine innere Angelegenheit ins Ressort des Innenministers, des Grafen Kolowrat, gehörten.

Die von ihm künstlich erzeugte Ereignislosigkeit hatte aber zumindest einen Erfolg: es kam nicht zum Krieg, der im Sommer 1840 fast so nahe bevorstand wie im Sommer 1939 und aus einem ähnlich östlichen Grunde. Das Polen von 1840 hieß Ägypten, wo ein dynamischer Usurpator, Ibrahim Pascha, und sein nicht minder dynamischer Sohn, Mehemet Ali, aus den Bruchstücken des verfallenden Osmanenreiches sich ein eigenes Ostreich aufbauen wollten, das Syrien mit einbezog und Konstantinopel zu verschlingen drohte. Soweit war es eine orientalische Angelegenheit, aber plötzlich, nicht ohne diplomatisches Hinzutun Palmerstons, wurde eine westeuropäische daraus; mit einem Male hieß es, die Grenze Ägyptens läge am Rhein. Der im Jahre 1815 besiegte französische Nationalismus flammte hoch auf, genau wie fünfundzwanzig Jahre nach Versailles der deutsche; die öffentliche Meinung Frankreichs, ermutigt durch die kriegerische Haltung Thiers', verlangte gebieterisch das linke Rheinufer. Zur selben Zeit wurde die Asche Napoleons von Sankt Helena nach Paris gebracht und unter der Kuppel des Invalidendoms bestattet, die bonapartische Legende erhob ihr Haupt, aber Louis Philippe erkannte die Gefahr, die von dem im Hintergrunde schon lauernden Louis Napoleon, dem nachmaligen Napoleon III., ihn selbst und seine Dynastie bedrohte. Er schulterte seinen Regenschirm, entließ das kriegerische Ministerium Thiers und ernannte den friedlichen Guizot, mit dem Metternich sich ausgezeichnet verstand, war doch Guizot in der Zwischenzeit auch sein Nachfolger bei der Fürstin Lieven geworden. Noch einmal war es dem alternden Diktator gelungen, durch taktische Geschicklichkeiten und monatelanges »Finassieren« etwas zu verhindern, diesmal war es ein großer Krieg, und so darf man wohl von einem 276 befriedigenden Ausgang seiner Verschleppungspolitik reden. Freilich war der gerettete Friede ein Friede, der, indem er den eifersüchtigen Anspruch aller Großmächte, Österreich inbegriffen, auf die Erbschaft des »Kranken Mannes« wach erhielt, den Keim künftiger Kriege in sich trug. Was aber schließlich von jedem Frieden gilt, den nächsten immer ausgenommen.

Auch innenpolitisch hatte der unermüdliche Mann im Lehnstuhl noch etwas zustande gebracht, was wie eine Tat aussah, obwohl es, genau genommen, keine war. Ut aliquid fieri videatur, damit es so aussehe, als ob etwas geschehen sei, nennen es die Ärzte, und ein Lieblingsvergleich des allzeit vergleichsfrohen Metternich war ja die naheliegende Parallele der ärztlichen und staatsmännischen Kunst. Im gegebenen Falle hatte er der kranken Freiheit Österreichs ein sanftes Beruhigungsmittel verschrieben und nannte es »Akademie der Wissenschaften«. Zwölf Tropfen Baldrian auf ein Stückchen Zucker. Der Patient, nämlich Österreich, litt an wiederkehrenden Aufregungszuständen, verlangte, unruhig sich auf seinem Lager wälzend, mit zunehmender Heftigkeit nach Preßfreiheit und Aufhebung der lästigen Zensur. Nun, sagte Metternich bedächtig, beides wollen wir dir zugestehen, aber nur der Blüte des geistigen Österreich, der von uns ins Leben zu rufenden Akademie. Natürlich waren dann die für mündig befundenen Mitglieder dieser akademischen Vereinigung von der Regierung, also von Metternich, ernannt, nicht von der Körperschaft aus deren Mitte gewählt. Sogar seinen grämlichen Widersacher, Grillparzer, in diese Akademie durch eine Ernennung, die er als Staatsbeamter nicht ablehnen konnte, hineinzuzwingen, gelang dem Diktator. Der Dichter war, wie uns sein Tagebuch verrät, klug genug, um zu merken, daß er nur als liberaler Wandschirm für den reaktionären Präsidenten dienen sollte. Dennoch mußte er sich knirschend fügen und dazu hergeben, Metternichs Schöpfung durch seinen Namen zu verschönern. 277

Diese Methoden des feinen alten Herrn im Lehnstuhl gingen der »Bevölkerung« – Volk zu sagen konnte Metternich sich nie recht entschließen – schlimmer auf die Nerven, als selbst Gewalttaten vermocht hätten. Sie rührte sich, sie murrte, sie forderte und setzte da und dort ihre Forderungen sogar durch. In Deutschland gab der Preußenkönig durch Gewährung einer Art Konstitution ein böses Beispiel; in Italien mußte man eine Amnestie erlassen, um einen Besuch des Kaisers in Mailand zu ermöglichen; in Wien machte der Juridisch-Politische Leseverein sich durch Eingaben lästig. Einmal erdreistete er sich sogar, durch ein Komitee beim Staatskanzler vorstellig werden zu wollen. Metternich lehnte ab; es würde ihm ein Vergnügen sein, jeden der Herren einzeln zu empfangen. aber er wüßte nicht, was das heißen solle, ein Komitee in Österreich. Noch einmal entwand sich der alte Fuchs der Falle, und es blieb wieder einmal alles beim alten, die Preßfreiheit ein schöner Traum und die Zensur eine ebenso groteske wie peinliche Tatsache.

Über die Stückchen, die diese alte Dame, die Zensur – »Tante Anastasie« nennen sie die Franzosen – aufführte, haben die Wiener ein halbes Jahrhundert lang Tränen gelacht. Ein paar Beispiele. Im Burgtheater wurde ein Schiller-Stück, »Kabale und Liebe«, aufgeführt. Der jugendliche Held, Ferdinand, sagt sich am Schlusse des zweiten Aktes nach einer heftig gesteigerten Szene mit den Worten vom Präsidenten los: Es gibt eine Stelle in meinem Herzen, wohin das Wort »Vater« nie gedrungen ist. Im Burgtheater mußte er sagen: ». . . wohin das Wort Onkel nie gedrungen ist.«

In Mozarts »Don Juan« wird ein Chor gesungen: »Es lebe die Freiheit!« In Wien mußten die Choristen: »Es lebe der Frohsinn!« singen. Das Wort des immer wieder zensurwidrigen Schiller »Franz heißt die Kanaille« mußte, selbst nach dem Tode des Kaisers Franz, auf der Bühne unterdrückt werden. 278 und der Ausruf »O Jesus«, der in Trauerspielen schwer zu vermeiden ist, wurde jeweils durch »O Himmel« ersetzt. Als in einem zeitgemäßen Werke von Kosaken die Rede war, die »auf kleinen Pferden« reiten, wurde das Eigenschaftswort klein gestrichen, um das verbündete Rußland nicht zu kränken.

Zu Metternichs Ehre muß man sagen, daß er in einem besonderen Fall ungleich liberaler verfuhr. Es handelte sich um ein neues Stück eines gewissen Bauernfeld, der für das Wien jener Tage ungefähr war, was Sacha Guitry für das Paris von gestern oder Behrman für das New York von heute. »In Bauernfeld«, urteilt ein großer Wiener Theaterkritiker, »hat Wien sich einen Schnabel wachsen lassen.« Diesen Schnabel selbst am System zu wetzen, erkühnte sich der Demokrat Bauernfeld, der unter eine Radierung von Kriehuber seinen Namenszug setzte mit dem Motto: »Lieber unvorsichtig als unwahr.« Sein Stück hieß »Großjährig«, was schon an sich eine Anspielung auf die unterdrückten Wünsche des minderjährigen Österreich war, und es handelte von einem jungen Baron, der sein vernachlässigtes Gut nicht selbst übernehmen und bewirtschaften darf, weil sein aufgeblasener Vormund – Blase heißt der Mann – ihm die Eigenberechtigung nicht zugestehen will. Diesem Blase fehlt es nicht an Selbstbewußtsein. Er hält sich für unentbehrlich und behauptet: »Wenn ich ginge, würde alles zusammenstürzen . . . Arbeite ich nicht mehr als jeder andere? Eben habe ich zwanzigmal meinen Namen unterschrieben.« Das Dach eines Meierhofes ist seit langem schadhaft und man schlägt Blase seine längst fällig gewesene Erneuerung vor. »Nur keine Neuerung«, ruft er abwehrend. »Das System, auf dem das Weltgebäude ruht, ist konservativ, Gott in Person ist konservativ. Das Firmament ist stets das gleiche, die Planeten ziehen ihre vorgeschriebene Bahn« – und so weiter . . . Man sieht auf den ersten Blick, wohin das zielt. Auch der feine alte Herr im Lehnstuhl sah es natürlich und blickte 279 zur Seite. Er duldete die Aufführung der anzüglichen Komödie, die Kolowrat an der Nase der Zensur vorbei ins Burgtheater bugsiert hatte. Graf Kolowrat war Innenminister und hinter ihm stand die Erzherzogin Sophie, Mutter des nachmaligen Kaisers Franz Joseph, eine auch körperlich mächtige, schöne Frau, die man in Wien den einzigen Mann bei Hofe nannte. Der feine alte Herr wußte das alles, er kannte die Zusammenhänge. Er war nicht kleinlich; aber er gab nicht nach.

Noch am 13. März – der 13. März ist ein österreichischer Lostag, 1848 wie 1938 – widersetzte er sich im Ministerrat als der einzige jeglichem Zugeständnis. Er redete und redete und leugnete die Möglichkeit einer Revolution in Österreich, während vor den Fenstern schon geschossen wurde. Schließlich mußte man ihm ins Ohr schreien, daß das einzige, was die Revolution verhindern könnte, sein sofortiger Rücktritt wäre – das einzige Zugeständnis, auf dem die Bevölkerung, jetzt schon Volk, bestünde.

Er trat sofort zurück, und es stellte sich sofort heraus, daß dieses einzige Zugeständnis nur das erste war. In diesem Punkte hatte er, wieder einmal, recht behalten. Was half es ihm? Er war eben nachgerade der letzte, der noch eine persönliche Erinnerung an den Gang der Französischen Revolution hatte, die die anderen nur vom Hörensagen kannten. Er war fünfundsiebzig Jahre alt, und seine müden Kassandrarufe verhallten im Leeren.

*

Wenn der feine alte Herr dann im Lehnstuhl auf seine achtundvierzig Dienstjahre zurückschaute, so konnte er nur schwer der Versuchung widerstehen, sich seinen eigenen Nachruf zu halten, was wir ihm nachfühlen können. Nachrufe bei Lebzeiten sind die einzigen, die einem Vergnügen machen. 280 Auch haben sie etwas ungemein Beruhigendes. Das letzte Wort, das allerletzte, ist noch nicht gesprochen, aber es läßt sich voraussehen. Es ändert sich nicht mehr viel zwischen fünfundsiebzig und fünfundachzig. Man ist eigentlich schon tot und hat auf ein bißchen Nachruhm Anspruch.

Um mit dem nächsten anzufangen: das war vor allem Österreich, das er ein halbes Jahrhundert lang mehr oder weniger und ungefähr vierzig Jahre lang ausschließlich regiert hatte, wenn auch, nach außenhin, unter Kaiser Franz, der Kaiser die erste Geige und er nur das Cello gespielt hatte. Wie hatte Österreich sich entwickelt unter seiner Herrschaft? Das war die Frage, auf die zunächst alles ankam: denn »an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen«, hieß es in der Bibel. Der alte Metternich war ein eifriger Bibelleser geworden, zumal in den Briefen des Apostels Paulus blätterte der alte Briefschreiber gern.

Politisch war Österreich seit den Franzosenkriegen mächtig erstarkt und erblüht. Es gab den Ton an in Deutschland und Italien; es schlug den Takt im europäischen Konzert. Keine Kleinigkeit fürwahr, zumal wenn man die vorangegangene Erniedrigung in Betracht zog und die Schwierigkeiten, mit denen man zu kämpfen hatte. Napoleon war nur eine dieser Schwierigkeiten gewesen, eine vorübergehende. Die andere, bleibende war, daß man es mit Österreichern zu tun hatte, einem Volk, das kein Volk, und einer Nation, die keine Nation ist. Trotzdem und vielleicht sogar eben darum – der Österreicher ist ein paradoxes Wesen – ein Volk, ein Land »wohl wert, daß sich ein Fürst sein unterwinde«, wie es in Grillparzers »Ottokar« heißt. Ein schönes, südlich überhauchtes, warm belebtes Land, liederlich und begabt, fromm und undankbar, musisch und närrisch, kindisch und weise, einfältig und tiefsinnig, aus lauter Widersprüchen zusammengesetzt, wie aus Berg und Tal, aber welche Anmut auf den Bergen und in den Tälern! Welche Fülle von Möglichkeiten bei aller Unmöglichkeit, welche Sicherheit 281 des Lebensgefühls zwischen Natur und Gott, welche holde Schwindelhaftigkeit über Abgründe bei tiefster Unbeirrbarkeit des richtigen Empfindens für Maß und Würde und Menschlichkeit. Österreich, das Griechenland Deutschlands, das Herzland Europas, Europa in Zentraleuropa: Metternich hat es nicht erfunden, so wenig, wie er, der Rheinländer, den Österreicher erfunden hat. Aber der Österreicher, als eine selbstherrliche Spielart in der europäischen Völkerfamilie, hat sich unter ihm, in einem trotz alledem milden Klima, erst entwickelt. Unter Metternich ist der österreichische Charakter mündig geworden und hat eine ausgesprochene Haltung angenommen.

Dieser Charakter spiegelt sich in der österreichischen Kunst, zumal in der Musik und in der Literatur. Der eine Spiegel wandert von Hand zu Hand durch die Länder und über die Erdteile. Wer, der Schuberts Wiegenlied oder Haydns Oxford-Symphonie, und wäre es wo immer, hörte; der Mozart und Beethoven, aber auch Dvoऩák und Gustav Mahler in seinem Gemüt aufnimmt, und säße er dabei auch in New York, oder in Paris, oder Buenos Aires, spürte nicht gleich, daß er in Österreich zu Gaste ist und daß dieses Völkergebilde, was ihm immer geschehen mag, zumindest in der Idee unzerstörbar bleibt? Der Spiegel der Literatur freilich ruht in einem verschlosseneren Schrein, wenigen zugänglich. Wem in der weiten Welt sagen die Namen Grillparzer, Raimund, Stifter, Lenau, Nestroy, Bauernfeld, Feuchtersleben etwas? Dem Österreicher sagen sie alles. Und alle haben sie, was immerhin bezeichnend ist, im Metternich-Zeitalter gelebt. Es war nämlich ein Zeitalter, obwohl es sich echt österreichisch damit begnügte, eine Zeit, nämlich die sogenannte Biedermeierzeit zu sein.

Da gibt es etwa das Raimundsche »Hobellied«, diese andere österreichische Volkshymne, die Volkshymne des österreichischen Charakters: 282

Da streiten sich die Leut' herum
Oft um den Wert des Glücks.
Der eine heißt den andern dumm,
Am End' weiß keiner nix.
Da ist der allerärmste Mann
Dem andern viel zu reich:
Das Schicksal setzt den Hobel an
Und hobelt s' beide gleich.

Diese volkstümliche Weisheit ist österreichisch.

Oder es gibt die Verse aus Grillparzers »Medea«:

Was ist der Erde Glück? – Ein Schatten.
Was ist der Erde Ruhm? – Ein Traum.
Du Armer! der von Schatten du geträumt!

Dieses Adagio des Verzichts ist österreichisch. Und wie österreichisch erst ist desselben Dichters praktisches Lebensbekenntnis, das antiheroische, im »Traum ein Leben«:

Eines nur ist Glück hienieden:
Eins: des Innern stiller Frieden
Und die schuldbefreite Brust!
Und die Größe ist gefährlich,
Und der Ruhm ein leeres Spiel;
Was er gibt, sind nicht'ge Schatten,
Was er nimmt, es ist so viel!

Auch hier wieder: Verzicht auf die Tat, die Guizot Metternich als staatsmännisches Gebrechen in späteren Jahren ankreidet, Flucht in die Betrachtung, Weisheit statt Handlung; auch hier der Versuch, den Menschen zu retten im Wirbel des Geschehens, den Menschen im Menschen zu erhalten und 283 wiederherzustellen, worin Österreichs europäische Sendung bestehen mag. Auch hier schließlich das stolze Kulturbewußtsein, daß es nicht die lärmenden Taten sind, die den Gang der Welt bestimmen, sondern die leise Stimme, die sie übertönen wird und die am Ende doch das letzte Wort spricht:

Was – so rufen sie vermessen –
Ist geschehen und getan?
Und das Große reift indessen
Still heran.

Es erscheint; und niemand sieht es,
Niemand hört es im Geschrei.
Mit bescheidner Trauer zieht es
Still vorbei.

Das ist Feuchtersleben, der große Arzt der Metternichzeit, der achtzig Jahre vor Freud eine klassische »Diätetik der Seele« schrieb und nebenher ein paar unsterbliche Gedichte, darunter das weltbekannte: »Wenn dir geschenkt ein Blümlein was – so tu es in ein Wasserglas . . .« Auch österreichisch, diese Dankbarkeit für die kleinen Freuden des Lebens, überhaupt: Größe im Kleinen.

Das Aufspüren der Größe im Kleinen, der Kleinheit angemaßter Größe, mit einem Wort die Relativierung der Größe, ist zugleich eine der Grundbedingungen desjenigen, was wir Humor nennen, und auch diesen Zug, die Lachfalte, trägt die österreichische Literatur der Metternich-Zeit tief ins Gesicht geprägt. Bauernfeld, bei dem das Lachen mehr ein Lächeln blieb, war ein Lustspieldichter feinster Art, der einzige deutsche Lustspieldichter, wenn man das Wort Dichter betont und nur denjenigen so nennt, der nicht ausnahmsweise einmal ein Lustspiel, sondern immer wieder, ein Leben lang, Lustspiele schreibt. Ein 284 solcher Mann war auch Nestroy, der genialere von beiden, ein Satiriker großen Stils, ein diabolischer Spötter, ein Aristophanes, der etwas von Aretin hatte. Er sagte als ein selbstbewußter Wiener von sich selbst: »Ich glaub von jedem Menschen das Schlechteste, auch von mir, und ich hab mich selten getäuscht.« Hier haben wir, zum Epigramm verdichtet, das Satirspiel der österreichischen Tragödie, die nihilistische Verneinung des österreichischen Charakters, wie er unter Metternich zwischen Argwohn und Unterdrückung zweideutig erblüht ist.

Das Merkwürdige ist nur, daß diese Blüte der österreichischen Literatur – denn es war eine Blütezeit und, was sechzig Jahre später nachkam, das sogenannte Jung-Wien, nur die Nachblüte –, daß diese gepflegte Gartenpracht keine andere Rückäußerung hervorrief als die giftigsten Invektiven gegen Metternich. der ja am Ende doch der Gärtner war. Alle österreichischen Dichter der damaligen Zeit, mit einziger Ausnahme des frommen Stifter, der Metternichs Kinder unterrichten durfte, waren gegen ihn, und der größte unter ihnen, Grillparzer, sein schlimmster Feind. Alle verlangten sie stürmisch Pressefreiheit von ihm, Meinungsfreiheit, Abschaffung der Zensur. Gewiß mit Recht. Es lastete ein dumpfer Druck auf dem geistigen Leben der Universitäten wie des Schrifttums. Und trotzdem dieser Blütensegen? Trotzdem? Auch der überzeugteste Demokrat wird hier ein nachdenkliches Lächeln nicht ausschalten können. Goethe und Schiller lebten an einem autokratischen Fürstenhofe, die französische Literatur erlebte ihre große Zeit unter Ludwig dem Vierzehnten, mit dem Metternich als lebenslustige Regentenpersönlichkeit am meisten Ähnlichkeit haben mag, und keineswegs unter Marat und Robespierre . . . Indem Metternich den Dichtern den Zugang zur Politik verwehrte, zwang er sie um so mehr, Dichter zu sein. Was er an Gesinnung unterdrückte, kam der Gestaltung zustatten.

Was für die Literatur und Musik, das gilt auch für die 285 Baukunst und die Malerei; es gilt in noch erhöhtem Maße für die Wissenschaft, die ja seinem rechnerischen Verstande im Grunde zugänglicher war als das Bereich der schönen Künste. Die Behauptung, daß die Architektur der Metternich-Zeit einige der schönsten Repräsentationsbauten dem Stadtbilde Wiens hinzufügte, bedarf keines besonderen Beweises: »dictators are good for architects«, sagt die geistreiche Dorothy Thompson. Auch dies ist eine Gattungseigenschaft, wenngleich der Bramante Metternichs den wienerischen Namen Kornhäusl führte. Persönlich neigte der alternde Staatskanzler immer mehr der Gotik zu, aber er ließ wenigstens keine künstlichen Ruinen auf seinen Besitzungen errichten wie sein Zeitgenosse, der Fürst Liechtenstein. Alles Historische war damals Trumpf, und so nahm auch die Geschichtsschreibung, die er besonders begünstigte, im damaligen Wien einen hohen Rang ein. Doch auch die anderen Fakultäten ließen sich nicht spotten, die Jurisprudenz und vorzüglich die Heilkunst machten der Wiener Hochschule überall in Deutschland und in Europa Ehre. Auch die Technik machte gewaltige Fortschritte. Er selbst, so rückschrittlich oder vielmehr stillbeharrend er immer sein mochte, hielt rüstig Schritt mit ihnen, auch im Alter. Er war der erste Österreicher, der die neue Erfindung des Herrn Daguerre, ihre Bedeutung erkennend, zustimmend zur Kenntnis nahm, wie er auch als erster die Gasbeleuchtung in seiner neuerbauten Villa einführen ließ. Die Donaudampfschiffahrts-Gesellschaft wurde unter ihm gegründet und unter Heranziehung des Rothschildkapitals die Nordbahn ins Leben gerufen, allen Abmahnungen ängstlicher Professoren zum Trotz, die vor den verhängnisvollen Folgen der neuen Erfindung warnten. Als der neugierige Weltreisende Fürst Pückler-Muskau sich mit einer aus dem Süden mitgebrachten schwarzen Sklavin in Wien aufhielt, lud er seine Standesgenossin, die Fürstin Metternich, ein, mit ihm zusammen den ersten Viehtransport im Wiener Nordbahnhof anlangen 286 zu sehen. Dreihundert lebende Ochsen kamen, von einer dampfenden Maschine herbeigeschleppt, unter den bewundernden Blicken einiger bevorzugter Mitglieder der Wiener Gesellschaft an. Eine märchenhafte Begebenheit, die die gute Melanie sofort gewissenhaft in ihrem Tagebuch verzeichnete.

Der feine alte Herr im Lehnstuhl konnte, soweit der kulturelle Aufschwung des von ihm betreuten Landes in Frage kam, mit dem Geleisteten wohl zufrieden sein. Und wie sehr wäre er es erst hundert Jahre später gewesen. Denn was dem Metternichschen Wien zu einem perikleischen Zeitalter und ihm selbst zum Perikles allenfalls noch gefehlt haben mag, war kaum mehr als der Hintergrund eines Hitlerzeitalters.

*

Zwischen Politik und Kultur schaltet sich vermittelnd die Gesellschaft ein, und in dieser Mittlerschaft vor allem war der Mann der Mittel und Wege, wie er selbst sich gerne nannte, groß.

Seine drei Frauen waren Gesellschaftsfrauen. Die erste, Eleonore, eine Botschafterin alten Stils, in diesem Stil erwachsen und erzogen; die zweite und lieblichste, Antoinette, baut eine liederfrohe Häuslichkeit um ihn auf, in der die schönen Künste sich am wohlsten fühlten und glücklich waren und glücklich machten, wenn auch das Glück leider von kurzer Dauer war. Die dritte, eine Ungarin, konnte sich das Leben gar nicht anders vorstellen als in einem Menschenwirbel und übertrug diese Vorstellung auch auf ihren Mann. Metternich war an ihrer Seite eigentlich immer in Gesellschaft; wenn er nicht in seiner Staatskanzlei Besuche empfing, empfing er sie zu Hause, und wenn es nicht Besuche waren, so waren es Gäste. Das fing gleich nach der Hochzeit an, ein Ballgedränge umflutete die Neuvermählten, erst gegen Mitternacht verebbend, und so ging es 287 dann weiter, sogar im Exil, bis zum Tode seiner unersättlich geselligen Melanie. Wenn je ein Witwer, blieb der achtzigjährige Metternich einsam zurück.

Wie war sein Verhältnis zu dieser trotz ihrer Fülle nie wahllosen Gesellschaft, wie wirkte er auf sie, wie dankte sie ihm die Wirkung? Drei Fragen, die drei Antworten erheischen.

Die Gesellschaft fing beim Kaiserhause an, von dem er mit Ausnahme der währenden Freundschaft des alten Kaisers Franz und einiger Liebenswürdigkeiten des jungen Kaisers Franz Joseph nur Undank erfahren hat. Die Erzherzogin Sophie führte März 1848 durch ein kunstvoll eingefädeltes Intrigenspiel seinen Sturz herbei, und Erzherzog Ludwig, sein langjähriger Mitarbeiter, war im letzten Regentschaftsrat der erste, der das Wort Rücktritt aussprach.

Ungefähr das gleiche wie vom Kaiserhaus gilt auch vom Hochadel. Er katzbuckelte vor ihm, solange er an der Macht war, und rächte sich später für empfangene Wohltaten; daß er treu zu Metternich gehalten hätte, läßt sich nicht behaupten, eher das Gegenteil; die Schwarzenbergs, Starhembergs, von den Kolowrats gar nicht zu reden, waren ihm nie recht gewogen. Was blieb, war die in Wien sogenannte zweite Gesellschaft, die aber wieder durch den Hochmut der Fürstin von einer zu weit gehenden Annäherung ausgeschlossen blieb. Das Bürgertum schließlich sah sich völlig abgewehrt und in die Ecke gedrängt: das galt auch von der bürgerlichen Literatur, soweit sie einheimischen Ursprungs war. Die ausländische, der Metternich weit entgegenkam, war ebenso wie die durchreisende Gesellschaft von ihm entzückt. Auch in diesem Punkte also war er mehr Europäer als Österreicher.

Metternichs lange nachwirkender Grundsatz war, im Ausland liberaler zu scheinen, als er im Inland war. So sahen sich auch die fremdländischen Literaten immer freundlichst von ihm empfangen, teils weil sie eben erst angekommen waren, und 288 auch weil sie bald wieder abreisten; es konnte kein Dauerverkehr daraus entstehen. Auch wußte er wie jeder Diktator den Wert der Auslandspropaganda richtig einzuschätzen und stellte sie bereitwillig in Rechnung. Hier lohnte sich der Wert der Liebenswürdigkeit, und er war liebenswürdig. Mit Balzac, der sich mit Madame Hanska in Wien verabredet hatte und bei der »Goldenen Birn'« auf der »Landstraße« wohnte, hatte der sechzigjährige, vielbeschäftigte Staatskanzler stundenlange Gespräche, die ihn sogar zum Dichten anregten. Die Idee zu Balzacs »La paix du ménage« stammt von Metternich. Stendhal war ein glühender Verehrer von ihm; er himmelte ihn backfischmäßig an und hat sich, wie ein Backfisch, ein eigenes Bild von ihm zurechtgelegt, das nicht ganz mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Als »Graf Mosca«, der mit einer Herzogin schläft und das aus dem Haar seiner Geliebten geflochtene Armband Metternichs am Handgelenk trägt, hat er uns sein geschmeicheltes Bild überliefert. Mit dem steifleinenen Varnhagen, bei dem man sicher sein konnte, daß er alles, was man ihm sagte, schriftlich aufbewahrte, führte er sinnige Gespräche über Liebe und Ehe. Mit Goethe hatte er Begegnungen in den böhmischen Bädern; er schrieb ihm Briefe im Goethestil, die Goethe im Metternichstil beantwortete, da es ihm hauptsächlich um den Schutz seiner Schriften in Österreich zu tun war. Das beste, ähnlichste und am wenigsten retouchierte dieser Spiegelbilder, wie sie uns die lichtempfindliche Platte aufnahmefähiger Besuchergemüter überliefert hat, verdanken wir dem Amerikaner George Ticknor. Er zeigt uns zugleich am deutlichsten, wie man den Europäer Metternich außerhalb Europas bei Lebzeiten beurteilte. Nicht ungünstig, wie sich der Mann im Lehnstuhl nicht ohne Befriedigung eingestehen mochte.

Professor Ticknor aus Boston war die etwas nüchterne transatlantische Ausgabe des romantischen Reiseschriftstellers jener Tage. Er reiste in der weiten Welt umher und machte die 289 Bekanntschaft berühmter Menschen, die er uns, mit Anekdoten ausgestopft, in der anziehendsten Weise vorstellt. Seine Schriften sind ein Museum; eine Vitrine ist Metternich gewidmet.

Nach Wien kam Ticknor im Sommer 1836, kurz nachdem der junge Herzog von Orléans, frisch bekorbt, von dort abgezogen war. In Schönbrunn sah er, als er zu Metternich hinausfuhr, den Gasttrakt des Schlosses hell beleuchtet; der König Ferdinand von Neapel wäre eben angekommen, wurde ihm bedeutet. Es war der klerikale Nachfolger des liberalen Herzogs von Orléans, der dann auch die Erzherzogin Therese als Braut heimführte. Aber von diesen Zusammenhängen hatte die Mitwelt und somit auch Mister Ticknor keine Ahnung. Er sah nur erleuchtete Fenster; ein König wohnte dahinter.

Bei Metternich hatte Ticknor zunächst eine Einführung von Humboldt abgegeben, und da eine gute Empfehlung in einem autoritär gelenkten Staat, wie es das damalige Österreich war, fast so großen Eindruck macht wie in einer demokratischen Republik, sah er sich alsbald von dem Vielbeschäftigten empfangen. Er ließ ihn alles in allem kaum zwanzig Minuten in der Antichambre seiner Staatskanzlei warten, während welcher Zeit der scharfäugige Reisende bereits seine Beobachtungen macht. Was ihm als Amerikaner zunächst auffällt, ist die große Anzahl überflüssiger Bedienter (er weiß nicht, daß es zum Teil verkleidete Detektive sind), aber auch manches andere ist anders als zu Hause. In einer Ecke des geräumigen Vorsaals sitzt eine Deputation der Stadt Mailand gefügig wartend und ängstlich flüsternd beisammen. Überhaupt wird, so scheint es, hier nur geflüstert. Zwei Minister werden vorgelassen und rasch wieder weggeschickt. Auch die Mailänder sind gleich wieder draußen. Mittlerweile durcheilen ein paar Kabinettssekretäre, Papiere in der Hand schwenkend, geschäftig den Raum; Türen klappen auf und schließen sich lautlos. Und plötzlich öffnet sich eine, die mittlere, und Fürst Metternich kommt seinem Besucher 290 bis an die Schwelle lächelnd entgegen, so freundlich, als hätte er die ganze Zeit nur auf ihn gewartet. Er geleitet ihn durch die angrenzende Bibliothek – fünfundzwanzigtausend Bände schätzt der Amerikaner – bis zu seinem Schreibtisch. Dort angelangt, weist er ihm den besseren Stuhl an, setzt sich selbst auf den schlechteren ihm gegenüber und läßt nun erst sein Auge auf ihm ruhen, um es für die Dauer der Audienz nicht mehr von ihm abzuwenden. Gespannteste Aufmerksamkeit und die Fähigkeit, sie spannen zu können, ist eine von Metternichs besten Eigenschaften.

Das Gespräch, ein Scheingespräch nur, ist eigentlich eine von Liebenswürdigkeit verschleierte Prüfung. Ticknor, der sich nach wenigen Minuten taktvoll erhebt, hat sie augenscheinlich nach jeder Richtung bestanden, denn er sieht sich alsbald zu einem Abendempfang zugelassen, der in Metternichs Sommerresidenz, am Rande des kaiserlichen Parks von Schönbrunn, stattfindet; der bayrische Gesandte nimmt ihn in seinem Wagen mit hinaus. Ein ganzer Schwarm farbig livrierter Bedienter fällt ihm auch diesmal wieder auf und auch, daß der Fürst, der jedem Gast mit gemessener Artigkeit entgegenkommt, dazwischen immer wieder mit einzelnen Persönlichkeiten sich in Fensternischen flüsternd zurückzieht und dort auch geflüsterte Meldungen entgegennimmt. Offenbar arbeitet er auch in Gesellschaft. Zuweilen begibt er sich bis in die Mitte des Salons und zieht den einen oder anderen ins Gespräch; er schlägt das Thema an und führt es weiter. Mit dem amerikanischen Besucher spricht er über das Wiener Polytechnische Institut; warum gerade über dieses, wird der neugierige Reisende nie erfahren. Aber er spricht gut, »mit der natürlichen Überlegenheit eines Mannes, dem die Ausübung der Macht selbstverständlich ist«. Sobald er zu reden anhebt, schließt sich ein Kreis um ihn, die Herren und Damen kommen auf Zehenspitzen näher und hören andächtig 291 zu.

Auch die Fürstin lernt Ticknor bei diesem Empfang kennen, der im kleinen Kreis stattfindet und schon gegen Mitternacht verebbt. Sie ist jung und schön, aber verstimmt und traurig, kommt dem aufmerksamen Beobachter vor. Er macht darüber auf der Rückfahrt eine Bemerkung zu seinem Freund, der kopfnickend seinen Eindruck bestätigt. Die Fürstin, weiß er zu erzählen, hat erst vor zwei Wochen ein Kind begraben, das zweite oder dritte, das sie dem Sechzigjährigen in rascher Aufeinanderfolge geboren hat. Aber der Gesellschaftsbetrieb geht ungehemmt weiter. Auch scheint der Gast aus Übersee trotzdem einen angenehmen Eindruck hinterlassen zu haben. Denn wenige Tage später, unmittelbar vor Antritt seiner Rückreise, wird ihm noch eine Einladung zu einem Diner in der Staatskanzlei am Ballhausplatz zuteil, und damit beginnt der bemerkenswerteste Teil der Schilderung unseres ebenso klar blickenden wie unbestochenen Augenzeugen.

Um drei Uhr nachmittags ist er diesmal gebeten, sich im Kaunitzpalais einzufinden, denn Metternich, der zu allem Zeit hat – eins der Geheimnisse der Liebenswürdigkeit –, will sich noch vor Tisch ein Stündchen mit ihm unterhalten. Wieder sitzt er ein paar Minuten lang in der fürstlich stilisierten Antichambre und kann einige ähnliche Beobachtungen machen wie das erstemal. Der Polizeipräsident ist der erste, der aus der lautlos sich auftuenden und lautlos den angemeldeten Besucher verschlingenden Tür des Kabinetts tritt. Hierauf ist ein sardinischer Finanzminister an der Reihe, den die weißgoldene Tür aber gleich wieder ausspuckt. Ein ungarischer Graf in der malerischen Paradeuniform eines Husarenoffiziers tritt als nächster auf. Er hält einen ungeheuren Brief mit schwarzen Ecken in beiden Händen, den er zum Fürsten stolz hineinträgt. Es ist das Dankschreiben des Königs von Sachsen für eine ihm zuteil gewordene Kondolenz. Kaum ist er abgefertigt, erscheint der Fürst und geleitet den neugierig Wartenden durch die 292 herrliche Bücherei in sein Arbeitszimmer, wo er ihm wie das erstemal lächelnd den besseren Platz anweist. Und sogleich, als hätte er den ganzen Tag nichts anderes im Sinne gehabt, spinnt er mit ihm ein Gespräch über Demokratie an. Ein ungemein aufschlußreiches Gespräch.

Es wäre ihm wohlbekannt, hebt er freundlich an, daß man ihn draußen in der Welt für einen großen Autokraten halte: er wäre es nicht. Allerdings wäre er kein Freund der Demokratie, das müsse er zugeben. Diese Staatsform wäre etwas für die Neue, nicht aber für die Alte Welt; in Amerika gewiß, da ist sie eine Wahrheit, »une verité«, wer zweifelt daran? Aber nicht bei uns, da ist sie eine Falschheit, »un mensonge«, und darum müsse er, Metternich, als ein großer Wahrheitsfreund, der zu sein er behauptet, sich gegen sie aussprechen. Demokratie löse auf, sie teile, sie zersetze die Elemente des Staates; Monarchie hingegen vereinheitliche; sie nähere an und bringe die Menschen zusammen; sie verbinde und mache daher viel größere Kraftanstrengungen möglich. Übrigens gäbe er gerne zu, daß Demokratie dem einzelnen förderlicher sein möge; sie erzeuge auch mehr Individualität und fordere, indem sie die Initiative freigebe, die Einzelleistung heraus. Ihr größter Nachteil bestünde nur darin, daß sie nicht haltmachen könne; sie müsse immer weitergehen. Amerika, sagt er – 1836 –, werde immer demokratischer werden. »Ich sehe nicht, wie es enden kann und wo es enden soll. Aber sicherlich ist ihm auf diesem Wege kein abgeklärtes schönes Alter beschieden – a quiet ripe old age« . . . Da haben wir aus dem Munde Metternichs das Bekenntnis der Alten Welt. Sie will nichts anderes mehr, als in Schönheit altern. Nicht der Sonnenaufgang, der Sonnenuntergang ist der Sinn des Tages. Eine sentimentale und sehr österreichische Auffassung, die man auch viktorianisch nennen kann.

Im Grunde ist es ein Speisewagengespräch vor dem Essen; ein sophisticated dialogue, der naturgemäß da und dort an 293 Unsinn grenzt. Denn das Gegenteil ist wahr. Die Demokratie, die alles gleich macht, standardisiert auch den Menschen. Sie schafft viel weniger Individualitäten als die Monarchie, die alles ungleich macht. Auch ist es so eingerichtet von Natur und Geschichte, daß das Goldene Zeitalter hinter uns liegt, nicht vor uns. Das Leben ist keine Altersversorgung, die Geschichte keine Versicherungspolizze. Doch ändern diese Einwendungen, die auch Mister Ticknor in schicklicher Form, aber mit großer Festigkeit macht, nichts an dem schönen Gedankenfluß der Metternichschen Rede, die immer die Äußerung eines Mannes bleibt, der sich auch geistig mit seiner Aufgabe auseinandersetzt, weil er sich dazu verpflichtet fühlt. Nur daß ihm seine Wohlredenheit manchmal gefährlich wird, was ihm zuweilen geschieht, zumal in späteren Jahren. Bei Metternich war immer schon der Sprecher mit dem Plauderer unterfüttert und der Plauderer mit dem Schwätzer.

Die Unterredung muß abgebrochen werden, da die Fürstin durch einen Livrierten in den Salon hinüberbitten läßt. Ticknor macht sich auf den Weg, augenscheinlich allein die ihm gewiesene Richtung verfolgend. Er durchquert wiederum die herrliche Bibliothek und, nach einer zweiten saalartigen Antichambre, eine längere Reihe von Prunkgemächern, so daß er, da er nirgends einen Menschen sieht, das ängstliche Gefühl hat, er habe sich verirrt, und umkehren will. Da springt von irgendwo ein Diener vor und führt ihn lächelnd auf dem angedeuteten Weg weiter, von Salon zu Salon, bis sie schließlich im Salon der Fürstin anlangen. Die Fürstin sitzt und um sie herum ein paar alte Damen und Herren, vier oder fünf im ganzen, die, wie er selbst, zu Tisch gebeten sind. Der Raum erscheint ihm überaus prächtig und so groß, daß ihn fünf »Ormoulu«-Kandelaber beleuchten müssen. Dann wird gemeldet, es sei aufgetragen, die schöne Hausfrau nimmt den Arm des Amerikaners, der offenbar als Ehrengast behandelt 294 wird, und führt ihn die lange Reihe der Gemächer, in denen er sich zuvor beinahe verirrt hätte, wieder zurück bis in die zweite Antichambre, wo jetzt plötzlich ein herrlich gedeckter Tisch steht. Acht Gedecke im ganzen; hohe Stühle, in denen man aufrecht sitzen muß, in geziemender Haltung, und hinter jedem steht ein Diener, der ihn dem Gaste unterschiebt, aber nur zwei von diesen Lakaien sind in Livree. Das Essen ist köstlich und nicht übermäßig, nach den Begriffen dieser wohlleberischen Zeit: zwölf bis vierzehn Gänge im ganzen; die Weine von erster Güte und weise gestuft, nach dem Johannisberger kommt der Tokaier. Der Johannisberger ist eigene Fechsung, worauf die Fürstin beim Anstoßen ausdrücklich hinweist. Dabei erwähnt sie, so von ungefähr, daß Herr Ticknor sich dieses Weinchen auch in New York verschaffen könne, sie hätten dort einen eigenen Agenten. Mister Ticknor merkt es sich – für sein Tagebuch.

Bei Tisch wurde sicherlich nur französisch gesprochen, was der Berichterstatter vermutlich unerwähnt läßt, weil es im damaligen Österreich selbstverständlich war. Einmal wird das Gespräch unterbrochen durch einen Kabinettssekretär, der Metternich eine Depesche und ein Bündel ausländischer Zeitungen überbringt. Metternich öffnet die Depesche und scheint unangenehm berührt, obwohl er keine Miene verzieht. In London ist ein Mitglied des liberalen Kabinetts, das er gerne gestürzt wüßte, vor Gericht gestellt, aber freigesprochen worden; es geht eben nicht immer alles, wie es sollte. Der Fürst reicht die betrübliche Nachricht samt den Zeitungen, die für gewöhnliche Sterbliche in Österreich wahrscheinlich verboten sind, der Fürstin hinüber, die auch nicht entzückt ist. Sie liest das Ende des Prozeßberichtes zuerst, legt das Blatt beiseite, sorgt aber in der Folge dafür, daß Clemens in einer Fensternische den Fall aufgeregt flüsternd besprechen kann, während sie dem Gast, auch um ihn abzulenken, ein kürzlich eingelangtes 295 Geschenk des russischen Zaren zeigt: eine herrliche Standvase mit dem emaillierten langgezogenen Gesicht des unlängst verstorbenen Kaisers. So vergeht die Zeit, und es ist acht Uhr abends geworden, bevor der österreichische Staatskanzler seinen Gast, dem er nicht weniger als fünf Stunden gewidmet hat, zur Tür begleitet und ihn aufs anmutigste verabschiedet. Der Amerikaner weiß das zu schätzen, aber auch richtig einzuschätzen. Mit jener klassischen amerikanischen Nüchternheit, die einem nichts vormacht und sich nichts vormachen läßt, schließt er seinen Bericht, indem er feststellt, daß Metternich noch in der Türe ihn mit Freundlichkeiten überhäuft, um, wie Ticknor sich ausdrückt, »fünf Minuten später sicherlich ebenso wenig an ihn zurückzudenken wie an die Wolken vom vorigen Jahr«. Zuvor aber nennt er, sein Urteil nach drei Besuchen zusammenfassend, Metternich »the most consumate statesman of his kind«, und auch das ist wahr. Sie haben alle von ihm gelernt.

*

All das ist Glanz und Macht und Eitelkeit und der alles vergoldende Rückstrahl des Erfolges – wo aber bleibt und worin besteht die säkulare Leistung des feinen alten Herrn im Lehnstuhl, die ihn berechtigte, von sich selbst zu sagen: I say to you that in a hundred years writers will judge me differently from those who deal with me today? Das Jahrhundert ist um, die Rechnung fällig.

Nun, wir sind um eine Antwort nicht verlegen. Metternichs größtes geschichtliches Verdienst ist gerade dasjenige, was ihm die deutsche Geschichtsschreibung eines Jahrhunderts als seinen unverzeihlichsten Fehler anrechnet: seine völlige Abkehr vom deutschen Nationalismus. Der Vorwurf drang auch schon bei Lebzeiten an sein Ohr, und einmal, auf der Höhe seiner Macht, antwortete er darauf. »Nichts beweist, daß der Nationalstaat 296 wesentlich besser ist als der Rechtsstaat«, schreibt er an Prokesch-Osten. Da haben wir sein politisches Konzept, das auch wieder seiner Verneinung der nach seinen Begriffen gestaltlosen Masse entspringt. Merkwürdig, wie er sich hiebei mit Goethe begegnet, der auch den Volkssturm der Freiheitskriege mit den Worten abtat, was da losbräche, wäre nichts anderes als die »noch unschuldige Vorform von etwas Schrecklichem, das sich eines Tages unter den Deutschen zu den grassesten Narrheiten manifestieren wird und wovor Sie selbst sich, wenn etwas davon zu Ihnen dränge, in Ihrem Grabe umdrehen würden«. Thomas Mann zitiert den Satz in seiner »Lotte in Weimar«. Die Ähnlichkeit des vorahnenden Mißvergnügens an der Entfesselung der Volksbewegung ist unverkennbar, was zumindest Metternichs angebliche Volksfremdheit entschuldigen würde. Der große Dichter bedarf keiner Entschuldigung. Er erwies sich schlechthin als Prophet.

Womit der vorblickende österreichische Staatsmann die völkische Verwüstung einzudämmen hoffte, war noch der Feudalstaat. Er träumte von einer europäischen Ordnung, die in abgegrenzten großen Herrschaftsverbänden das nationale Durcheinander kraft der »balance of power« niederzuhalten hätte. Das ist die autokratische Lösung. Aber ist das die nationalistische nicht erst recht? Indem sie den Nationalismus proklamiert, proklamiert sie ihn auch für die anderen Nationen; denn Nationen sind sie schließlich alle, und daß nur eine von den zwanzig, aus denen Europa sich zusammensetzt, die Herrenrasse ist, werden die anderen neunzehn nicht ohne weiteres einsehen wollen. Man muß sie also unterwerfen; aber sie unterwerfen heißt, die nationale Lösung verneinen, die man selbst als die einzig mögliche empfahl. So kommt, indem man den Irrgang des Nationalismus bis ans Ende verfolgt, der Irrsinn heraus, der er von allem Anfang an war. Die europäische Lösung kann nur eine übernationale sein. Man muß die 297 Nationen, anstatt sie gegeneinander aufzubringen, daran erinnern, daß sie noch etwas anderes sind als Nationen, nämlich Menschen. Laßt uns das Menschliche voranstellen, und der Erdteil ist gerettet.

Das ist die Metternichsche Auffassung, die heute aktueller und begründeter ist denn je. Ein nationales Europa ist eine Weltgefahr, ein übernationales Europa ist eine Weltverheißung geworden. Solcher Verheißung bewußt zugestrebt zu haben, ist Metternichs europäisches Verdienst. Es war zugleich sein österreichisches, denn in Österreich, das Europa seine eigene Zukunft bis zum Zusammenbruch vorlebte, stellte sich das Problem des national gemischten Staates zuerst, wie ja Österreich auch das erste Opfer des entzündeten Nationalismus wurde. Sein nächstes war die Tschechoslowakei, gleichfalls ein Nationalitätenstaat, der in Brand geriet. Heute aber brennt oder raucht ganz Europa, was der Mann im Lehnstuhl voraussah. Für ihn war Nationalismus immer schon Jakobinismus gewesen, und das heißt, zeitgemäß geredet: Barbarei. Eine doktrinäre Marotte diese Gleichung, fand man bei seinen Lebzeiten. Bis sich ein Jahrhundert später für den schaudernden Beobachter herausstellte, daß er keineswegs übertrieben hatte. »Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität«, beschrieb auch Grillparzer den Weg. Zurück zum Rechtsstaat also und zum Menschheitsstaat, wir haben keine andere Wahl, wenn wir »Europa retten wollen«, wie Metternich durch die Schlacht bei Leipzig es tat. Damals war es der Halbgott Napoleon, heute sind es die Maschinengewehr-Götter des Totalstaates. Das Rezept bleibt das gleiche.

Ein zuschanden geschossenes Europa stöhnt heute in blutigen Qualen. Soll man es darum aufgeben und zu den Toten werfen mit den Worten des Kulturpessimisten Spengler, der noch vor wenigen Jahren feststellte, daß »die Tatsache Europa im Weltkrieg dumm und würdelos zugrunde ging?« Selbst Spengler, 298 dessen Pessimismus sich später bedenklich der nationalen Auferstehung zuneigte, wird kaum leugnen können, daß diese Tatsache noch dümmer und noch würdeloser in dem darauffolgenden Kriege vor die Hunde ging, den ein fluchwürdiger Nationalismus unter dem Beifall gewisser Kulturpessimisten entzündet hat.

Vor dreihundert Jahren hat sich die europäische Menschheit zerkriegt und zerfleischt, weil die eine Hälfte der Ansicht huldigte, daß der Wein im Meßkelch das Blut des Heilands sei, und die andere, daß er das Blut Christi nur bedeute. Heute lächeln wir über die Unglaublichkeit, daß diese Meinungsverschiedenheit die Menschheit so blutig entzweien konnte. Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wird man wahrscheinlich über den Kriegszustand der nationalen Verschiedenheit ganz ähnlich denken und sich genau so wundern. Denn was heißt am Ende national sein? Stolz sein darauf, daß man irgendwo geboren ist, was sich, wie wieder Grillparzer sagt, »freilich von selbst versteht«. Metternich hat die Gefahr richtig erkannt, die gerade für den deutschen Charakter aus dieser Selbstverständlichkeit entsteht; denn mit Philosophie vermischt, wirkt sie wie Schießbaumwolle.

Der Deutsche ist zugleich jähzornig und besonnen. Wenn er besonnen ist, macht er seine großen Erfindungen, jähzornig seine größten Dummheiten, und seine allergrößte war der neudeutsche Nationalismus. Ein Jähzornsausbruch der Geschichte, und Metternich, dieses Beruhigungsmittel der Geschichte, hat ihn immerhin um ein volles Jahrhundert hinausgezögert. Das wollen wir alle, die wir in diesem Jahrhundert glücklich waren und in einem umgeschmolzenen Europa wieder werden sollen, dem feinen alten Herrn im Lehnstuhl hoch anrechnen. Er war ein Pionier des Antinationalismus. Volksstaat oder Rechtsstaat – er war für den Rechtsstaat. Und er hatte recht. 299

 


 


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