Raoul Auernheimer
Metternich
Raoul Auernheimer

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Viertes Buch

Der Weise mit den tausend Erinnerungen

Wien illuminiert • »Freut euch des Lebens«

Wien illuminiert

Als Metternich am 13. März 1848 gestürzt und nach siebenundvierzigjähriger Dienstzeit von der öffentlichen Meinung und seinem Kaiserhaus wie ein diebischer Bedienter davongejagt wurde, illuminierte Wien. Das will nicht viel sagen. Die entzündliche Stadt hat im Verlauf ihrer Geschichte des öfteren illuminiert, zuletzt am 13. März 1938, und fast immer nach kurzer Zeit reuig herausgefunden, daß es schade war um die verbrannten schönen Kerzen.

Auch im Jahre 1848 war die Illuminierung von langer Hand vorbereitet gewesen und zum Schluß beinahe angesagt. Nach der Februarrevolution in Paris war man sozusagen stündlich auf den Umsturz auch in Wien gefaßt. Man kann dies am sichersten von einigen überlieferten Anekdoten ablesen, in welcher Form das Weltgeschehen in Wien von jeher am sichtbarsten kristallisiert. Wenige Tage vor dem ominösen 13. März besuchte der ungarische Graf Szechenyi seine Kompatriotin und Standesgenossin, die Fürstin Melanie Metternich. Er wurde von ihr im Tone einer Gesellschaft, in der nichts ernst zu nehmen zum guten Ton gehört, mit der aus dem Wortschatz der Französischen Revolution stammenden Wendung »Bonjour, citoyen« 302 ironisch begrüßt; worauf er sofort mit der paprizierten Galanterie des Ungarn schlagfertig erwiderte: »Bonjour, délicieuse sansculotte.« Schlimmer war, was die Gräfin Felicie Esterházy im Salon Metternich anstellte. Sie kam am Vortage der Revolution mit den an die Hausfrau gerichteten Worten zur Tür herein: »Ist es wahr, daß ihr von Wien weggeht? Man hat uns aufgefordert, Kerzen zu kaufen, weil ihr morgen abreist.« Derjenige, der der bekannt törichten und ahnungslosen Gräfin Felicie diesen Wink gegeben hatte, war der Obersthofmeister der Erzherzogin Sophie gewesen, die eine Woche später in einem generös abgefaßten französischen Handschreiben Metternich ihr tiefes Bedauern über seinen Rücktritt verehrungsvoll ausdrückte. Aber vorher half sie, ihn stürzen . . .

Dieselbe Erzherzogin Sophie, als sie sich um die Mittagsstunde am Arm ihres Gatten über die Bastei zur Hofburg begab, wurde von der Bevölkerung mit Hochrufen stürmisch begrüßt, für die sie huldvoll, wenn auch stolz, dankte. Metternich, der etwas später vorbeiging, wurde angepfiffen. Es war der gleiche Platz, auf dem man ihn im Jahre 1813 nach der Schlacht bei Leipzig mit der Kantate »Heil dir, der du . . .« als »Le vainqueur du temps et le modèle des grands hommes« gefeiert hatte. Wie merkwürdig mußte es dem philosophisch geschulten Geist des alten Mannes erscheinen, daß sie auf einmal, wie auf Verabredung, alle gegen ihn waren: das Kaiserhaus, der Adel, das Volk, die Studenten und der Pöbel. Er konnte sich nicht darüber täuschen: die Wiener Revolution von 1848 war zunächst eine Revolution gegen Metternich.

Seine Schuld? Vielmehr war die von ihm allerdings mitverschuldete Regierungsmaschinerie schuld, das Perpetuum immobile des unglückseligen Regentschaftsrats. Er bestand aus zwei in verschiedene Richtungen ziehenden Kräften, Metternich und Kolowrat, und dem Erzherzog Ludwig, der wie ein Bleigewicht an dem Querbalken der Waage hing und jede 303 Bewegung erschwerte. Statt dieses Gewicht fallen zu lassen, entledigte man sich Metternichs treibender Kraft, die plötzlich entbehrlicher schien als die hemmende des durch einen geistesschwachen Monarchen vertretenen Kaiserhauses. Dabei hatte dieser gutmütige Scheinkaiser, der, am Revolutionstage am Fenster stehend, die Stellwagen zählte, die durchs Burgtor hinausrollten, noch am längsten und treuesten zu seinem Staatskanzler gehalten. Er beauftragte sogar Kolowrat, Metternich von der ihm angeratenen Flucht abzubringen. Aber Kolowrat ließ sich so lang Zeit, daß er den gestürzten Nebenbuhler zu seiner Freude nicht mehr in seiner Wohnung fand, weder in der Staatskanzlei noch in dem schönen Hause am Rennweg mit der Überschrift »Parva domus magna quies«, das der tobende Pöbel bereits zu plündern begann. Daß es nicht ganz zerstört wurde, ist das Verdienst der Wiener Studenten, die, obwohl für die Revolution begeistert, ihre Ausartung verhinderten. Es war noch nicht die Zeit gekommen, da die Bildungsträger mit dem bildungsfeindlichen Mob gemeinsame Sache machten; das sollte erst später, im Zeichen des nationalen Aufschwungs und jener tieferreichenden »Volksverbundenheit« der Dummheit und der Roheit geschehen: der Roheit einer vertierten Menge und der Dummheit jener Elite unseres Bürgertums, das, an sich selbst verzweifelnd, die Schutzwälle des Geistes freiwillig und beflissen abtragen half.

Überhaupt war es eine wienerische Revolution, was an ein paar Nebenzügen heiter sichtbar wird. Die vollbärtigen Professoren und der seinen Schlapphut unentwegt schwenkende akademische Nachwuchs – es galt damals als ein Zeichen besonderer politischer Verworfenheit, einen Vollbart und Schlapphüte, sogenannte Kalabreser, zu tragen – trachteten vor allem, sich bei ihrem Vorhaben der Protektion des Kaiserhauses untertänigst zu versichern. Ein gemeinnütziges Unternehmen ohne den Ehrenschutz mindestens eines Erzherzogs konnte sich 304 der Wiener nicht gut vorstellen, und so wünschte er instinktmäßig, auch seine republikanischen Bestrebungen unter dem Protektorate Habsburgs tunlichst zu verwirklichen. Das Haus Habsburg kam ihm dabei auf halbem Wege bereitwillig entgegen, die Herren Erzherzoge machten, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, gemeinsame Sache mit der Revolution. Erzherzog Ludwig zumal, dessen Vorzimmer in der Burg am 13. März das Hauptquartier der Umwälzung wurde, empfing jeden und versprach jedem, sein möglichstes zu tun. Auch den Sturz Metternichs zu befördern, erklärte er sich wohlwollend bereit, er werde gleich nachher mit seinem Bruder darüber reden, der nur augenblicklich beim Mittagessen wäre. »Wie kann man an einem Tage wie dem heutigen zu Mittag essen?« rief der Wiener Lustspieldichter Bauernfeld, der als Wortführer aufgetreten war, vorlaut aus. Man fand die kecke Bemerkung wahrscheinlich nur lachhaft, die so gut zu Bauernfelds Aussehen paßte. Er hielt einen Knotenstock und einen breitrandigen Kalabreser in der Hand, ein ungepflegtes Lippenbärtchen saß ihm im Gesicht und ein in theatersicheren Pointen erfahrenes bissiges Mundwerk darunter, das niemand ganz ernst nahm. Wenn er trotzdem mit seiner Forderung auf Abschaffung der Zensur und sofortige Beurlaubung des Staatskanzlers schließlich durchdrang, so geschah es vermutlich, weil auch die Wiener Weinhändler sich mit ihm verbunden hatten. Das waren unerschrockene, gleichfalls vollbärtige Männer, die wacker dafür sorgten, daß der Wein der Wiener Revolution entsprechend mit Wasser verdünnt wurde. Metternich muß weg! schrien sie; das war wohl das wenigste, was sie erwarten konnten. Und am Ende erreichten sie denn auch mit Unterstützung des Allerhöchsten Kaiserhauses ihr hochgestecktes Ziel. Das Wiener Lustspiel und der Wein hatten den Allgewaltigen zu Fall gebracht, den Besieger Napoleons besiegt. Eine Sache zum Lachen. Aber dessen enthielten sich die braven Wiener 305 Bürger fürs erste noch, weil eine Revolution wenigstens sich selbst ernst nehmen muß.

Bevor er gestürzt wurde, schritt der alte Staatskanzler noch einmal, zum letztenmal, durch die vom Volke aufgeregte Antichambre, »von jedem gegrüßt, von keinem angeredet«. Schon seine äußere Erscheinung widersprach der saloppen Umgebung. Er trug einen zeisiggrünen, eng anliegenden Leibrock, perlgraue, gestraffte Beinkleider und ein Rohr mit goldenem Knauf nebst dem hohen Seidenhut in der behandschuhten Hand. So schritt er hochmütig an den Vollbärten und Knotenstöcken vorüber, das verkörperte achtzehnte Jahrhundert, das am neunzehnten vorbeigeht, und verschwand in der Türe des Erzherzogs, ein pergamentenes Lächeln auf den glattrasierten Lippen seines altgewordenen Schauspielergesichts. Ein paar Stunden später stellten die Wiener ihre Kerzen ins Fenster.

*

Tags darauf reiste er mit seiner Frau von Wien ab. Es war eine armselige und schimpfliche Flucht, zu der er sich schließlich genötigt sah, weil das Kaiserhaus nach allem anderen sich weigerte, die Sicherheit seines Lebens zu verbürgen. Es blieb kaum Zeit, etwas einzupacken, auch fehlte es im letzten Augenblick an Geld. Die Staatskasse lehnte die Auszahlung seines Gehaltes ab, und wenn Freund Rothschild nicht tausend Dukaten herübergeschickt hätte, wären Melanie und »ce pauvre Clement« in große Verlegenheit geraten. Wie merkwürdig, daß das Wort »pauvre« jetzt plötzlich zu seinem Ursinn zurückkehrte; er war nicht mehr der Arme, er war arm.

In einem gewöhnlichen Mietwagen, eingeklemmt zwischen seiner tapferen Melanie, die den gefährlicheren Platz am Fenster einnahm, und dem treuen Baron Hügel, rumpelte der Fünfundsiebzigjährige kläglich durch den grauen Märzabend. Man 306 hatte die Dämmerstunde abgewartet, teils um sicher nicht erkannt zu werden, teils weil es nicht ganz leicht gewesen war, sich über das Ziel der Fahrt zu einigen. Wo in Österreich war Metternich noch seines Lebens sicher? Am wenigsten auf seiner eigenen Besitzung in Böhmen, wohin sich zurückzuziehen ein naheliegender Gedanke war. Schließlich hatte Fürst Liechtenstein sein Schloß Feldsberg zur Verfügung gestellt: es lag eine Tagereise von Wien, in nördlicher Richtung an der mährischen Grenze. In der Praterstraße, damals noch Jägerzeile, schon außerhalb der Stadt, huschte man möglichst unauffällig in den bereitgestellten Reisewagen, und dann ging es in einem mühseligen Trab über elende Landstraßen – warum waren die Straßen unter seiner Regierung nicht besser gehalten, mochte der gequälte Kanzler jetzt denken – die ganze Nacht ohne Aufenthalt weiter, bis man um fünf Uhr früh gerädert in Feldsberg ankam. Das unbewohnte Schloß war eiskalt, wie es nur ein altes Schloß am Ausgang des Winters sein kann, in einem einzigen Zimmer hatte man ein Feuerchen notdürftig angeheizt. Da bettete man den Gejagten auf ein Sofa, und die Kinder und die Frau deckten den vor Frost Klappernden mit ihren Schals und Mänteln zu. Ein rührendes Familienbild, auf das er aber augenblicklich wenig Wert legte.

Es war gegen sechs Uhr morgens, im März, also noch dunkel. Eine einzige Kerze erhellte notdürftig den Raum, in dem vier halbwüchsige Kinder, zwischen elf und neunzehn Jahren, und die schon matronenhafte Frau um den alten Mann beschäftigt waren. Ein zweites Licht anzustecken, wagte man nicht, bevor der Schloßverwalter die Vorhänge nicht sorglich über den Fenstern zusammengesteckt hatte. Es war kein Verlaß mehr auf die Robotbauern, die neuestens ihre Sensen und Dreschflegel mit ganz sonderbar wilden Blicken betrachteten, während sie von der »Herrschaft« redeten. Und jedenfalls schien es geraten, mit dem nächtlichen Besuch kein Aufsehen zu 307 machen. »Kein Aufsehen« war immer ein Metternichscher Grundsatz gewesen . . .

Welch ein Gegensatz: Dieses schwach beleuchtete Zimmer im winterkalten öden Schloß und das illuminierende Wien beim Anbruch des Völkerfrühlings. Das Leben sorgt für Antithesen, die kein Dramatiker geistreicher erfinden könnte, nicht einmal Hans Saßmann, der eine Metternich-Trilogie in den letzten Jahren Österreichs in Wien hat aufführen lassen.

*

Das Schicksal hat seine Gezeiten, wie der Mond oder das Meer. Wie dieses flutet oder ebbt das Glück, nimmt zu, nimmt ab, und beides dauert eine Weile. Der Fliehende muß immer weiter fliehen, der Verstoßene wird von Ort zu Ort gestoßen, nirgends ist des Bleibens mehr für einen, der seine »Bleibe« erst verloren hat. Auch Metternich im Sturze machte diese unerbittliche Erfahrung, sosehr er sich dagegen wehrte, sie zu machen. In Wien, als man sich für Feldsberg entschied, hatte der brave Hügel sich mittels einer sogenannten »Eingabe« an den Erzherzog Ludwig gewandt, mit der Bitte, die Garnison unweit von Feldsberg mit dem Schutze des abgedankten Kanzlers zu betrauen. Er erhielt keine Antwort, und da man in Feldsberg unter aufsässigen Bauern auf die Länge nicht bleiben konnte, wandte man sich, die Entfernung von Wien noch vergrößernd, gegen Olmütz. Wieder machte man sich bei stockdunkler Nacht auf die Strümpfe, aber als das vormalige Haupt der österreichischen Staatsregierung und seine Begleiter um vier Uhr morgens an die ängstlich verschlossenen Tore der Festung Olmütz pochten, wurde ihnen nach einer Weile ebensowohl vom Festungskommandanten wie von dem die Stadt regierenden Erzbischof bedeutet, der Besuch wäre derzeit unerwünscht. Der unausgesprochene Grund war natürlich, daß der 308 hohe Kirchenfürst und sein Kommandant Angst hatten, Angst vor der Menge, die, wie es scheint, unwiderstehlichste Form menschlicher Feigheit. Für einen vom Volk Verfolgten einzutreten, wagt ja erfahrungsgemäß niemand, auch die besten Freunde lassen ihn im Stich, um erst hinterher, wenn er sich zu bergen vermochte und keine Gefahr mehr damit verbunden ist, ihrer Freude über seine glückliche Rettung in Worten und Briefen beredten Ausdruck zu geben.

In Olmütz abgewiesen, setzte man die lebensgefährlich gewordene Reise in wiederum geänderter Richtung fort, um womöglich die bereits ausgebaute Strecke der Prager Eisenbahn zu erreichen. Wieder eine gehetzte Wagenfahrt über bodenlose Landstraßen, an drohenden Bauernhaufen und murrenden Postknechten vorbei, die einem giftig nachblickten, nur halb unterdrückte Flüche murmelnd. Dann auch noch die Bahnfahrt, die die ganze Nacht in Anspruch nahm. Schließlich kam die sechsgliedrige Familie in Prag an, wo für den nur noch mühsam die Wagentreppe Herabkletternden ein anderes trübseliges Kapitel begann: der Abschied von den Kindern, die in Begleitung nach Wien zurückzuschicken man unterwegs schweren Herzens beschlossen hatte. Der Fürst und die Fürstin ihrerseits wollten nach England gehen, was freilich auch wieder leichter geplant als durchgeführt war. Die unaufhaltsame Flucht wurde, je mehr sie sich der deutschen Grenze näherte, desto gewagter, denn in Deutschland war der Name Metternich womöglich noch verhaßter als in den sogenannten »Erblanden« Es bleibt nichts übrig, als diesen weltberühmten Namen zu verleugnen und sich unter einem schmählich angenommenen zu verbergen. Als Monsieur und Madame Matteux kommt das französisch parlierende Paar in Dresden an, wo man sie unbehelligt läßt, obwohl nicht alle davon überzeugt scheinen, daß sie Matteux heißen. An der österreichischen Grenze schaute der Posthalter dem klapprigen alten Herrn und seiner 309 anspruchsvoll dasitzenden Ehehälfte lange mißtrauisch nach und sagte am Ende, in dem unbestimmten Gefühl, daß da etwas vielleicht nicht ganz richtig wäre: »Das ist wohl gar ein König auf der Flucht!« Aber der Schwerhörige im Silberhaar hätte sich nicht umgewandt, selbst wenn ihn die Bemerkung erreicht hätte. Er war froh, die österreichische Grenze hinter sich zu haben.

Doch auch die Flucht durch das sonst so knechtselige Deutschland war nicht ganz ungefährlich, wie aus einem verbrieften Geschichtchen hervorgeht. Metternich mußte sich ein paar Tage bei dem schwäbischen Dichter Justinus Kerner verbergen, der ihn im Gemäuer eines mittelalterlichen Turms versteckt hielt. Wenn Leute vorbeigingen, so hörten sie die Töne der damals eben wieder zeitgemäßen Marseillaise aus dem Fenster dringen. Metternich selbst, so behauptet sein Gastgeber, entlockte sie in zittrigen Klängen seiner Geige. Auch soll er darauf gedrungen haben, daß Kerner eine rote Fahne ins Fenster hängte, und dem Dichter auch sonst mit seinem »Liberaltun« auf die Nerven gefallen sein. Welch ein Bild, der uralte Staatsmann im schattendunklen Turmgemach die Marseillaise geigend! Es war der Freiheitsgesang seiner Jugend, den er ein halbes Jahrhundert lang gefürchtet und niedergehalten hatte, und den er jetzt selbst anstimmen mußte, um das nackte Leben zu retten. Und was mag die hinter ihm stehende adelsstolze Frau dazu gesagt haben!

Nach der deutschen und holländischen war dann auch noch die englische Grenze zu überqueren, bevor am 20. April das Ehepaar Matteux sich wieder in die Metternichs zurückverwandeln konnte. Sobald dies geschehen, war der Träger dieses Namens geborgen. Der alte Herr, trotz allem, was Palmerston gegen ihn zu sagen wußte und sagte – denn dem Emigranten wird nichts geschenkt –, war der Besieger Napoleons; er und Wellington, der noch lebte, teilten sich in diese Ehre. Auch 310 kam ihm zustatten, daß er schon einmal, vor fünfundfünfzig Jahren, in London sich umgetan und daß England, bewußt und unbewußt, einiges zu seiner Bildung beigetragen hatte. Sich ins Englische zu übersetzen, machte ihm daher keine besondere Mühe. Er war immer ein halber Engländer gewesen. Sein trockener Idealismus war englisch; seine Art sich zu kleiden, seine Tory-Mentalität, die Unberührtheit, mit der er im gleichen Ton von den Meliorationen seines Gutes wie von seinen Begegnungen mit Napoleon erzählte, sein Phlegma und seine auf der Grundlage klassischer Zitate unerschütterlich ruhende Philosophie waren englisch. Manchmal hätte er geradezu aus Oxford sein können.

Die englische große Gesellschaft bemächtigte sich sofort des interessanten Flüchtlings und übertrug ihm die immer dankbare Rolle des grand old man. Der unaufhörlich redende alte Märtyrer sah sich auf Schlössern und in drawingrooms wie eh und je verwöhnt. Auch die Prinzeß hatte nicht zu klagen; sie wurde eingeladen und lud ein; es war schon fast wieder genau wie in Wien. Nur der Hof und die Regierung hielten sich vorerst noch etwas zurück. Auch gab es eine andere kleine, aber störende Schwierigkeit: das Geld. In einem wohlhabenden Lande wie England setzt man als selbstverständlich voraus, daß ein grand old man auch reich sein müsse. Das war Metternich leider nicht, und auch die Pension, auf die er als verabschiedeter Staatsminister Anspruch hatte, wurde ihm vorenthalten. Pensionen zu sparen ist ja der letzte und tiefere Sinn aller Revolutionen; sie brechen mit der Vergangenheit, um nicht zahlen zu müssen. Aber London war ein teures Pflaster. Also übersiedelten die Metternichs erst nach Richmond und dann im September geräuschlos nach Brighton. Es geschah aus einem durchaus prosaischen Grunde: weil es sich dort wohlfeiler leben ließ.

In London hatte der »Alte vom Berge«, wie man ihn jetzt 311 nannte, unter anderem eine Eroberung gemacht, die dem greisen Rattenfänger Freude bereitete. Es war der junge Disraeli, der sich in den Doyen der europäischen Staatskunst stürmisch verliebt hatte und ihm in seinem blumigen Stil glühende Liebesbriefe schrieb. Aber auch hinter seinem Rücken nannte er ihn den größten Staatsmann und gütigsten Menschen, nannte ihn seinen »teuren Lehrer« und sich seinen »dankbaren Schüler«. Oder er entwirft mit beredter Feder dieses Augenblicksbildchen von einem Besuch bei seinem neuen Freund: »Er sprang gleich in Galopp ein und begann wie ein Gott zu reden. I never heard such divine talk.« (Wie reizend viktorianisch diese beiden einander ausschließenden Bilder: das Rennpferd und ein himmlisches Geplauder; bester Leitartiklerstil.) »Er gab eine meisterhafte Übersicht des derzeitigen Zustandes in Europa und sagte mehr witzige und weise Dinge, als ich behalten konnte. Dabei glänzten seine Augen in Übereinstimmung mit den blendenden Gedanken, die er äußerte.« Übrigens ermutigte der Altkanzler seinen Schüler nebenher auch ein bißchen im Kampfe gegen seinen alten Gegner Palmerston, und auch das gehörte zu den Genugtuungen seines englischen Exils: daß er, wenn er es auch nicht mehr hören, doch wenigstens tags darauf in der »Times« lesen konnte, was Disraeli gegen Palmerston im Unterhaus vorgebracht hatte. Schließlich gründeten die beiden, der Meister und der Schüler, zusammen sogar eine konservative Monatsschrift, den »Spectateur de Londres«, der allerdings drei Monate später wieder einging – Geldmangels wegen.

Der Plan dieser Blattgründung geht auf die allerersten Tage nach der Illuminierung Wiens zurück. Auf Schloß Feldsberg, in einer Atempause seiner Flucht, brachte Metternich die Grundlinien dieses Zeitungsunternehmens zu Papier. Das erinnert an Napoleon, der im brennenden Moskau das Statut der Comédie Française entwarf. Die Ähnlichkeit liegt auf der Hand. Nicht daß die beiden Männer auch nur annähernd von gleicher Größe 312 gewesen wären. Aber es war doch so etwas wie ein napoleonischer Funke in Metternich. Größe ist Größe, und sie ist vor allem die durch Selbstzucht erweiterte Gabe, von der eigenen Situation völlig absehen zu können.

Hier sei auch die Gelegenheit wahrgenommen, Metternichs Verhältnis zum geschriebenen Wort noch einmal ins Licht zu rücken. Er war ein großer Schreiber und ein großer Leser. Das zweite ist besonders bemerkenswert, denn ein Staatsmann, der Zeit zum Lesen findet, erscheint uns heute fast wie eine Märchenfigur. Auch las er keineswegs nur die »einschlägige Literatur«, wie dies die Pedanten tun; er las überhaupt nicht nur der Belehrung wegen, sondern des Lesens wegen, als ein richtiger Leser, der den seelischen Drang in sich spürt, über den Alltag des Lebens nach allen Richtungen hin und auch auf der Brücke der Phantasie ins Freie zu gelangen. Er las sogar Romane und las sie sogar zu Ende. Einmal kam er von einer Reise zurück, ein Buch in der Hand, in dem er unterwegs gelesen hatte. Eine wichtige Meldung wurde ihm erstattet und die dringende Frage an ihn gerichtet, wie er sich entscheiden werde. Er antwortete: »Ich werde erst einmal meinen Roman zu Ende lesen, vielleicht fällt mir nachher die richtige Entscheidung ein.« Keine schlechte Methode für einen »Meister des nächsten Schritts«.

Bei alledem ist es vielleicht unangebracht, Metternich einen Schriftsteller zu nennen, obwohl er zumindest die Gabe des plutarchischen »Wortes«, der treffenden Wendung und desjenigen, was die Franzosen »le mot heureux« nennen, in hohem Maße besaß. Jedenfalls aber war er, wenn schon kein schöpferischer Schriftsteller, so doch ein Journalist von Rang, der als solcher in Paris und Wien die beste Schulung genossen hatte; in Wien hieß sein Meister Gentz. Auch wirkte er hier als Vorbild durch viele Jahrzehnte weiter, im Leitartikel und vielleicht noch mehr im Feuilleton; der metaphorische, in mehr oder 313 minder geistreichen Vergleichen schwelgende Wiener Zeitungsstil blieb dauernd von ihm beeinflußt, wie ja überhaupt Metternichs Schatten bis weit in die franzisko-josephinische Abenddämmerung hinein fällt. Es war dabei auch kein Zufall, daß der schreibende Politiker in ihm sofort sich zum Worte meldete, kaum daß der tätige seine Tätigkeit hatte einstellen müssen. Als dann auch der Druck sich weigerte, seine Gedanken aufzunehmen, brachte er, was er publizistisch zu verbreiten wünschte, in seinen Briefen schön ausgefeilt zu Papier. Ohnehin war dies von jeher sein eigentlichstes Talent gewesen; der Brief war seine Domäne. Nur daß er früher mehr an Frauen geschrieben hatte und jetzt mehr an Könige schrieb. In London, Brighton und zuletzt in Brüssel stand er jahrelang mit fast allen gekrönten Häuptern und ihren Staatsministern in ununterbrochener schriftlicher Verbindung, um ihnen seine Gedanken einzuflößen und den Weg zu ihrer Verwirklichung zu weisen. Sogar mit Wien, wo es am schwersten war, begann er nach einiger Zeit wieder zu korrespondieren, mit dem Hof sowohl wie mit seiner ehemaligen Staatskanzlei, wo jetzt ein anderer regierte; so zwar, daß die boshafte Nachrede sein drittes Emigrantenheim in Brüssel bereits »the second chancellery« nannte. Allerdings war er auch so vorsichtig gewesen, seinem Nachfolger Fiquelmont zu seiner Ernennung noch von Feldsberg aufs herzlichste Glück zu wünschen. Gleichzeitig, wieder von Feldsberg, legte er seine Ehrenstellen, das Kuratorium der Akademie der Wissenschaften und die Kanzlerschaft des Maria-Theresien-Ordens, in schönverfaßten Abschiedsschreiben nieder. Wie ein König schied er aus seinem Amte.

*

Paléologue, der über Metternich zu schreiben sich selber schuldig war, nennt seinen großen Kollegen im neunzehnten 314 Jahrhundert einen »romantischen Staatsmann«. Es liegt für einen Franzosen nahe, einen Mann romantisch zu nennen, weil er Liebesverhältnisse gehabt hat, wobei außer Betracht bleibt, daß Liebesverhältnisse nicht notgedrungen romantisch sein müssen. In dieser wie in mancher anderen Hinsicht war der Held unserer Erzählung durchaus kein Romantiker; eher könnte man ihn einen klassischen Staatsmann und Liebhaber nennen. Seine Auffassung vom Staate, wie sie sich in dem während seines Exils niedergelegten politischen Testament enthüllt, setzte eine »kosmische Ordnung« voraus. »Natur und Wahrheit« hießen ihm ihre Stützen. Man glaubt in einer Ästhetik der Goethe- und Schiller-Zeit zu lesen. Das, was dort das »ewig Menschliche« heißt, ist ihm die Gleichheit vor dem Gesetze, die einzige Gleichheit, die er zugesteht. All das ist klassisch; denn klassisch ist, was unabänderlich im Unabänderlichen ruht; klassisch ist die Ruhe.

Zur Zeit freilich, als er mit diesen Gedanken sub specie aeternitatis umging, ergaben sich in Brighton auch einige zwar wehmütige, aber irdischere Lustspielszenen. Eine seiner Tänzerinnen vom Frankfurter Krönungsball, damals vierunddreißig, jetzt zweiundneunzig, besucht ihn. Und bald besuchen ihn auch die anderen: die Sagan, die Bagration, die Fürstin Lieven; alle, soweit sie nicht bereits tot sind, kommen sie herangeschwebt, die ihm einstmals teuer waren, und seine fünfzehnjährige Enkelin, Prinzessin Pauline, die daneben sitzt, wenn Großpapa Besuch empfängt, beschreibt sie uns in ihrem Erinnerungsbuch: Madame Bagration, den Bel ange nu, die »vergessen hat, alt zu werden«, und sich noch immer genau so kleidet, wie sie Lawrence vor vierzig Jahren auf die Leinwand warf: »in wolkenartige Schleier gehüllt und mit Rosen bekränzt«; die Herzogin von Sagan, fein gekleidet und reizend anzusehen und mit ihren sechsundsiebzig Jährchen immer noch, bei aller Treulosigkeit, rettungslos in ihren alten Freund verliebt. Und dann 315 natürlich die Fürstin Lieven, eine feierlich daherwandelnde pompöse alte Dame jetzt, mit einem Riesenfächer, einem Riesenhut und einem riesigen grünen Augenschirm, weil sie vermutlich den Star hat. Alles ist groß an ihr, auch ihr Schicksal, das vor ihr hergeht. Als gestürzte Botschafterin nach Petersburg heimgeschickt, hat sie dort, im Verlauf weniger Tage, zwei heranblühende Söhne begraben müssen. Sie ist dann schaudernd nach Paris geflohen und hat dort, fünfzigjährig, eine Niobe und noch dazu verwitwet, ein neues Liebesleben angefangen, an der Seite Guizots. Er hat wie sie einen Sohn begraben, das bringt sie einander anfänglich nahe; geteiltes Leid, halbes Leid. Sie wird die Freundin des bedeutenden Mannes in einem schönen und dann sogar im schönsten Sinne. Er schreibt fast so gescheite Liebesbriefe wie sie. Einer davon, der erhalten blieb, fängt mit den legendären Worten an: Le Cardinal de Retz dit quelquepart . . . Doch zitiert er nicht immer den Kardinal von Retz. Einmal, so erzählt man sich in Paris, gab Dorothy Lieven eine größere Gesellschaft, an der auch Guizot, damals französischer Regierungschef, teilnahm, angetan mit dem Großkordon am blauen Band. Mérimée, der berühmte Schriftsteller, steht am Rande und beobachtet alles; auch daß um Mitternacht, da die Gäste aufbrechen, Guizot allein zurückbleibt. Offenbar hat er mit der Hausfrau noch etwas Politisches zu besprechen. Dann, auf der Straße, bemerkt Mérimée plötzlich, daß er ein mitgebrachtes Manuskript im Salon hat liegen lassen. Er eilt zurück und dringt unangemeldet in das verlassene Gemach. Nebenan, im Schlafzimmer, wird noch gesprochen. Und auf dem Sofa neben der von Mérimée vergessenen Mappe liegt der Großkordon des Ministers Guizot, den dieser als ein ordnungsliebender Mann vorher abgelegt hat.

Schade, daß man dieses Geschichtchen, das in Paris die Runde macht, dem alten Metternich nicht mehr ins Ohr flüstern kann; er hört ja nicht einmal mehr, wenn man ihm ins Ohr schreit. 316 Aber er macht als ein liebenswürdiger Hausherr seinen alten Damen immer noch anmutig die honneurs. Und die alten Damen ihrerseits vergelten es ihm mit einem vergilbten Lächeln. Nur die Fürstin Lieven, deren »kaltes und weltliches Herz« sich einzig noch am Klatsch, den sie gierig einsaugt, verjüngt, verbrieft in ihrer spitzen Art den Eindruck, den ihr der greise Herzensfreund hinterläßt, mit den dürren Worten »langweilig, wenn er von sich, reizend, wenn er von Napoleon erzählt«. Man sieht: die griechisch-türkische Frage, die sie auseinander brachte, ist noch immer nicht ganz gelöst und bleibt ungelöst, als sie ein paar Jahre später, noch vor Metternich, stirbt. »Mich wundert, daß sie nicht schon früher gestorben ist«, ist alles, was der Achtzigjährige dazu bemerkt.

In Brighton war es eine Art Abschiedsparade seines Liebeslebens. Welch ein Bild, im spätherbstlichen Zwielicht: der greise Paris und seine drei Göttinnen, die sich mittlerweile in drei Liebesparzen verwandelt haben. Ein Gespensterreigen, im Nebel auftauchend, im Nebel verschwindend, mochte er finden. Aber wie? Hatte er denn nicht immer für das Längstvergangene geschwärmt? Seine Vorliebe für das Alte rächte sich an dem Alten. 317

 


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