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Erstes Kapitel.
Jenseit des Kanals


An Bord eines der schön ausgestatteten Dampfschiffe, die den regelmäßigen Verkehr zwischen Hamburg und London vermitteln, standen an einem Frühlingsabend zwei junge Mädchen in enger Umarmung. Die Kleinere hatte das tränenüberströmte Gesicht an die Schulter der andern gelegt und stieß, von Schluchzen unterbrochen, abgerissene Worte hervor: »Ilse, liebste, beste Freundin – treues Schwesterherz – ich kann dich nicht lassen – ach, ich ging noch nie einen Schritt ohne dich – ich werde so grenzenlos verlassen und hilflos sein ...«

Die Größere streichelte ihr die Wangen und löste sanft die umschlingenden Arme. »Sei mutig und tapfer, Frida,« flüsterte sie halblaut, indem sie sich alle Mühe gab, die eigene Rührung zu verbergen; »bedenke, was du mir und den Eltern versprochen hast. In einem oder anderthalb Jahren sind wir, will's Gott, wieder in der lieben Heimat beisammen, bis dahin halte den Kopf oben.«

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, »wir müssen fort,« sagte eine männliche Stimme. Ilse sah auf und blickte in das Gesicht eines alten Herrn von hoher und breiter Gestalt und scharfen Zügen, in denen sich jedoch eine unverkennbare Teilnahme malte; sie streckte ihm die Hand hin und schüttelte kräftig die seinige. »Leben Sie wohl, Herr Holmböe,« sagte sie mit freimütigem Blick und Ton, »und haben Sie herzlichen Dank für alle Ihre Freundlichkeit. Bitte,« fügte sie leiser hinzu, »haben Sie Geduld mit meiner Schwester, wenn ihr der Abschied ein Weilchen in den Gliedern liegen sollte; ich hoffe, sie überwindet ihn bald und schaut dann wieder frisch und froh in die Welt. Ade, mein Fridchen, Gott behüte dich! Laß bald von dir hören!« Sie küßte die Weinende zärtlich und schob sie leise von sich; der alte Herr erfaßte deren Hand und geleitete sie zu der schmalen Treppe, die in das unten liegende Boot führte. Willenlos folgte Frida seiner Leitung; unten angekommen, hob sie die tränenden Augen noch einmal empor und ließ ihr Tuch zum Abschiedsgruße flattern; aber bald schoben sich andere Schiffe dazwischen, und nach wenig Minuten war der Dampfer ihren Blicken völlig entschwunden.

Ilse und Frida Stein waren Zwillingsschwestern aus einem kinderreichen westpreußischen Pfarrhause und in den achtzehn Jahren ihres Lebens bisher kaum einen einzigen Tag getrennt gewesen. Aber der Pfarrer Stein, der, mit Ausnahme seiner Studienjahre, immer an die heimische Scholle gefesselt gewesen, auf der er einst seinem Vater im Amte gefolgt war, wünschte um so dringender, daß seine Kinder etwas von der Welt sehen und im Verkehr mit fremden Menschen und Verhältnissen Erfahrung und Selbständigkeit erwerben möchten. Als ihm deshalb seine älteste, seit mehreren Jahren verheiratete Tochter schrieb, ein englischer Freund habe sie ersucht, ihm eine passende Gefährtin für seine junge Schwester zu empfehlen, da war er gleich entschlossen, seine Ilse dorthin ziehen zu lassen. Bald danach erhielt er einen Brief eines Herrn Holmböe aus Norwegen, den er in Karlsbad kennen und schätzen gelernt hatte, und der ihn an sein Versprechen erinnerte, ihm eine seiner Töchter zu einem längeren Besuch zu schicken, um seiner Enkelin, die bei dem alten Großvater gar zu einsam lebte, freundliche Gesellschaft zu leisten. Der Pfarrer hatte dieses Versprechen ganz vergessen, und die Mahnung daran verursachte ihm viele Bedenken; er hatte, als er es gab, immer nur an Ilse gedacht, denn seine kleine, schüchterne Frida allein in die Fremde hinauszusenden, wollte ihm fast grausam erscheinen. Sie besaß nicht die unbefangene Sicherheit, mit der sich ihre Zwillingsschwester überall geltend zu machen wußte; sie war zarter und unscheinbarer, weniger begabt und lebhaft – aber trotz alledem war sie sein Augapfel und sein Herzblatt. Doch sein Wort war einmal gegeben, Ilse hatte sich bereits für die Stellung in England verpflichtet; so blieb denn nichts übrig, als seinen Liebling von sich zu lassen. Auch Frida kämpfte einen schweren Kampf, in dem aber schließlich Ilsens kräftiges Zureden den Ausschlag gab. »Du wirst unsere Trennung weniger schwer empfinden, wenn du selbst in neuen Umgebungen bist, als wenn du zu Hause bleibst,« hatte sie gemeint; »wir verlassen vereint die Heimat, sehen zusammen ein schönes Stückchen von der Welt und tauschen nachher unsere Erfahrungen in der Fremde aus – erscheint dir das nicht reizvoll und lockend?« So war es entschieden worden; Mitte Mai hatten beide Mädchen das Vaterhaus verlassen, waren in Hamburg von Herrn Holmböe empfangen worden und hatten ein paar Tage in allen den ungeahnten Schönheiten der großen Stadt geschwelgt, bis die trübe Stunde des Abschieds schlug und ihre Wege sie weit auseinander führten. –

.

»Sei mutig und tapfer Frida.«

Wir überlassen Frida vorläufig der väterlichen Obhut des biederen Normannen und begleiten Ilse auf ihrer einsamen Reise. Als das Boot, das ihr die Schwester entführte, in dem Gewirr zahlloser Schiffe und Kähne, die den Hafen erfüllten, verschwand, war es ihr, als lege sich ein eiskalter, beklemmender Druck auf ihr Herz; in diesem Augenblick empfand sie erst ganz, was ihr die liebenswürdige Gefährtin zeitlebens gewesen war, die ihre geistige Überlegenheit immer so bereitwillig und neidlos anerkannt hatte, und deren sanfte Friedfertigkeit doch so oft vermittelnd und versöhnend eingetreten war, wenn die leicht erregte Heftigkeit der eigenen Empfindungen sie in Verlegenheit zu bringen drohte. Sie hatte im Bewußtsein ihrer höheren Fähigkeiten oft ein wenig mitleidig über Fridas langsamer arbeitenden Geist hinweggesehen – und fühlte es doch jetzt in demütiger Beugung, daß die Schwester ihr an Gemüt und wahrer Weiblichkeit weit überlegen sei.

Aus dem schwarzen Schlot des Dampfers stiegen dunkle Rauchwolken auf, ein schrilles Pfeifen ertönte, die gewaltigen Räder begannen zu arbeiten und das Wasser ringsumher zu Schaum zu zerpeitschen. Langsam und majestätisch setzte sich der prächtige »Triton« in Bewegung, und weit hinauslaufende Wellen und Kreise bezeichneten seinen Weg. Ilse stand noch immer an den Bord des Schiffes gelehnt und blickte scheinbar aufmerksam hinaus. Aber sie sah nichts mehr; ein bitteres Heimweh, das Gefühl der Einsamkeit trieben ihr die Tränen in die Augen, die unaufhaltsam herabtropften. »Reisen Sie auch nach London, Fräulein Stein?« fragte plötzlich jemand dicht neben ihr.

Überrascht wandte sie den Kopf und sah eine Dame neben sich stehen, die ihr im ersten Augenblicke nur eine unbestimmte Erinnerung erweckte. »Jawohl,« antwortete sie, indem sie hastig die Augen trocknete und sich auf die Persönlichkeit zu besinnen suchte, »sind wir Reisegefährten?«

»Reise- und Schicksalsgenossen,« erwiderte die andere mit einem kurzen Lachen, das halb wie ein Seufzer klang, »denn ich mutmaße, daß Sie auch ins Blaue hineingehen und drüben Ihr Glück machen wollen.«

»Das nicht,« sagte Ilse, »ich werde erwartet und trete sofort in eine feste Stellung ein.«

»Sie Glückliche!« rief die Fremde. »Mir bereitet das Schicksal freilich nicht so bequeme Wege; ich muß mir erst ein Unterkommen suchen. Sie erinnern sich meiner doch noch? Wir haben in Danzig dieselbe Schule besucht.«

Jetzt wußte Ilse, wen sie vor sich hatte: es war eine gewisse Meta Weller, die, einige Jahre älter als sie, schon die Stelle einer Hilfslehrerin bekleidet hatte, als sie selbst noch Schülerin war. Die Erinnerung war freilich nicht sehr angenehm, denn Fräulein Weller hatte sich keiner besonderen Liebe und Anerkennung erfreut: doch hier in der Fremde war jedes Gesicht, das an die Heimat mahnte, ein unschätzbarer Gewinn; herzlich schüttelte Ilse jener die Hand, und beide suchten sich ein geschütztes Plätzchen auf dem Verdeck, wo sie sich niedersetzten und plauderten. Meta war die Hauptsprecherin; sie hatte endlos viel zu erzählen, aber wenig Erfreuliches, denn das Leben hatte ihr bisher nur Täuschungen gebracht. »Wenn man keine einflußreichen Freunde hat und weder Schönheit noch Geld besitzt,« sagte sie bitter, »so hat man es schwer, sich ehrlich durch die Welt zu bringen. Das Vaterland hat mir kein freundliches Gesicht gezeigt; deshalb habe ich ihm den Rücken gewandt und will mein Glück in der Fremde versuchen. Man hat mir gesagt, in England wären deutsche Erzieherinnen sehr angesehen, und es sei gar nicht schwer, dort eine vorzügliche Stelle zu finden.«

Ilse sah nachdenklich vor sich hin; ihr schien es, als trüge Fräulein Wellers Persönlichkeit die meiste Schuld an ihren Mißerfolgen, und sie zweifelte, ob man drüben anspruchsloser sein würde als daheim. Sie öffnete schon den Mund zu einer solchen Bemerkung, als ihr die Ermahnung ihres Vaters einfiel, schnell zu sein zum Hören, aber langsam zum Reden, und so schwieg sie klüglich.

»Wohin gehen Sie denn eigentlich?« fragte Meta.

»Auf einen Landsitz, Ivy-Lodge, einige Meilen von London,« erwiderte Ilse. »Der Besitzer ist augenblicklich in Indien; seine Schwester lebt dort unter Obhut ihrer Tante. Ihre Erziehung ist eigentlich beendet; da sie aber erst sechzehn Jahre alt ist und noch nicht in die Gesellschaft eingeführt werden soll, so werde ich alle Wissenschaften, vornehmlich aber Sprachen und Musik mit ihr treiben, weniger wie eine Lehrerin, als wie eine ältere Freundin.«

»Gott! Sie Glückliche!« rief Meta wieder mit einem neidischen Ausdruck. »Wenn es mir gar nicht gelingt, eine gut besoldete Stelle zu finden, dann werde ich mich an Sie wenden, Fräulein Stein; Sie können mir dann durch Ihre Bekanntschaften aus der Not helfen. Ihr Indier ist wohl gar ein Lord oder noch etwas Höheres?«

»Nein, er ist ein schlichter Mr. Howard.«

»Nun, sicher ist er ein Krösus, denn das sind diese Engländer alle, und auf ein paar Pfund Sterling wird es ihm wohl nicht ankommen. Ich betrachte es als ein günstiges Vorzeichen, daß ich Sie hier getroffen habe; eine befreundete Seele in einem fremden Lande ist Goldes wert!«

Ilse erschrak über die Zuversicht, mit der Meta Weller auf eine flüchtige Bekanntschaft ihre Hoffnungen baute, doch hatte sie nicht den Mut, ihr geradezu zu widersprechen. Das Mädchen, so wenig anziehend es war, tat ihr leid; es hatte früh den Vater verloren, mußte sich ohne Heimat und Liebe unter fremden Menschen sein Brot erwerben und hatte offenbar schon viele trübe Erfahrungen gemacht. Schließlich war England ja groß und weit, und schwerlich würden sie dort je wieder zusammentreffen. »Wo gedenken Sie zu bleiben, bis Sie ein Unterkommen gefunden haben?« fragte sie teilnehmend.

»Zuerst gehe ich in ein deutsches Home in London, das auch Stellen vermittelt; hoffentlich dauert es nicht lange damit, denn meine Mittel reichen nicht weit,« erwiderte Meta, immer in demselben bittern Tone, der oft von einem kurzen Lachen ohne alle Heiterkeit unterbrochen wurde.

Der Dampfer hatte jetzt seine Stromfahrt hinter sich; in Kuxhaven wurde noch einmal angelegt, und dann ging es ins offene Meer hinaus. In unbewölkter Klarheit war die Sonne in die Fluten getaucht, die jetzt die Glut des Abendhimmels in köstlichem Farbenspiel zurückwarfen; eine sanfte Brise machte sich auf und kräuselte die Wellen, die, ohne stark bewegt zu sein, doch das Schiff in jenes beständige Schaukeln versetzten, das den meisten Reisenden zum Verderben wird. Schon sah man manches Angesicht erbleichen, schon schwankten einzelne Damen am Arm ihrer Begleiter die Kajütentreppe hinab, um ihr Elend zu verbergen; schon forderte der Dämon Seekrankheit hie und da ein Opfer vor aller Augen, und mit gutmütigem oder schadenfrohem Lächeln erwiesen die Schiffsleute den Unglücklichen die nötige Hilfe. Ilse zog ihren Mantel enger um sich zusammen und schaute unbekümmert hinaus: sie war seefest. Von Kindheit auf hatte sie sich unzählige Male auf schwankendem Kahn von ihrer geliebten See schaukeln lassen oder den Vater begleitet, wenn er nach der Halbinsel Hela hinüberfuhr, die vom Pfarrhause aus nur wie ein feiner Strich am Horizont erschien. Auch als Meta erklärte, sie wolle versuchen zu schlafen und die unsichere Zukunft zu vergessen, blieb Ilse oben sitzen, sah mit stillem Entzücken den Mond und die Sterne immer glänzender strahlen, dachte an die Lieben daheim und ihre sanfte Frida, die sich jetzt wohl in dem hocheleganten Gasthause in Hamburg einsam in den Schlaf weinte. Liebe Erinnerungen, gute Vorsätze, lachende Bilder schwebten vor ihrer Seele, bis ihr die Augen schwer wurden und auch sie ihre Hängematte aufsuchte.

Als Ilse nach einigen Stunden gesunden Schlafes – das Ächzen und Stöhnen um sie her störte sie wenig – wieder auf dem Verdeck erschien, hüllte ein leichter Nebel Himmel und Erde in weiße Schleier ein. Verschiedene Reisende gingen, in ihre Mäntel gewickelt, fröstelnd auf und nieder und warteten sehnsüchtig auf den Klang der Frühstücksglocke; andere standen am Bord und bemühten sich, Spuren des nahen Landes in dem wogenden Nebelmeer zu entdecken. Das junge Mädchen wandte sich mit einer Frage an eine ältere Dame, offenbar eine Engländerin; diese sah sie einen Augenblick erstaunt an, antwortete dann aber in freundlicher Weise. Ihr Begleiter, ein Herr mit weißem Backenbart, mischte sich in das Gespräch und erklärte ihr die Gegenstände, die allmählich sichtbar wurden; andere Engländer traten dazu, und es entstand eine lebhafte Unterhaltung, jedoch blieb sie ganz unpersönlich; niemand fragte Ilse nach dem Woher und Wohin, niemand nannte seinen Namen oder verlangte den ihren zu wissen. Als die Glocke zum Frühstück rief, fiel ihr Meta ein, und sie eilte in die Kajüte hinunter, um nach ihr zu sehen; aber Fräulein Weller hatte eine elende Nacht zugebracht, fühlte sich unfähig aufzustehen und verlangte in verdrossenem Ton nichts weiter, als in Ruhe gelassen zu werden.

Die Gesellschaft saß schon bei Tische, als Ilse den Speisesaal betrat, und mit Überraschung sah sie ein vollständiges Mittagsessen mit mehreren warmen Schüsseln aufgetragen. Man hatte die Auswahl zwischen Hammelkotelette und Roastbeef, gekochtem Schinken und gebratenem Speck. Dazu gab es Eier, Salat, Radieschen und Käse. Es erschien ihr sehr wunderlich, ihren Tag mit Fleischspeisen zu beginnen, doch fand sie das trefflich bereitete Hammelrippchen gar nicht unangenehm und die Tasse Tee zum Schlusse des Mahls höchst wohltätig. Unterdessen hatte sich der Nebel gelichtet, immer zahlreicher wurden die Schiffe, die ihnen entgegenkamen, und freudig verkündeten die anwesenden Engländer, daß man sich der Mündung der Themse nähere. Es war, als empfinde jeder einen frohen Stolz beim Auftauchen der vaterländischen Küste, des bedeutenden Stromes, der bis mitten in das Herz des meerbeherrschenden Albions führt. Der freundliche alte Herr nahm Ilse ganz unter seine Flügel und erklärte ihr mit unermüdlichem Eifer die immer deutlicher auftauchenden Ufer: die lieblichen Hügel der Grafschaft Kent zur linken Hand, im Schmuck der köstlichen Laubbäume, der sauberen Dörfer und hübschen Städte; die flachen Wiesengründe der Grafschaft Essex zur Rechten; den großen Hafen und die riesigen Arsenale von Woolwich, die berühmte Sternwarte von Greenwich, die sich auf einem hervorragenden Hügel unter hohen Zedern erhebt, und über deren kreuztragende Kuppel die Engländer den ersten Meridian gezogen haben. »Das ist der bestimmende Mittelpunkt der Welt!« sagte der alte Herr mit begeistertem Blick.

Hinter Greenwich wurde das Gedränge der Dampfer, Kähne und Segelschiffe beängstigend groß; in beiden Richtungen schossen sie mit voller Dampfkraft, geblähten Segeln oder unter kräftigem Ruderschlag dahin, und die Steuerleute mußten mit allen Sinnen aufpassen, um unliebsame Zusammenstöße zu vermeiden. Endlich tauchte das ungeheure Häusermeer von London auf, und der »Triton« legte vor dem Zollhause an; die Reisenden wurden ausgeschifft, und man unterzog ihr Gepäck einer strengen Prüfung. Hierbei traf Ilse wieder mit Meta Weller zusammen, die sich erst beim Betreten des festen Landes von den Schrecknissen der Nacht auf der See erholte. Ein Bedienter in einfacher, dunkler Kleidung trat auf Ilse zu und fragte ehrerbietig, ob er Fräulein Stein vor sich sähe; er wäre von Lady Jane Rivers abgeschickt, um ihr behilflich zu sein und sie nach Ivy-Lodge zu geleiten. Dem jungen Mädchen fiel ein Stein vom Herzen; jetzt war ihr vor dem unverständlichen Durcheinander zahlloser Stimmen, in deren Lauten sie das sorgfältig erlernte Englisch gar nicht wieder erkannte, nicht mehr bange; mit frischem, frohem Mut schaute sie um sich, um alle die neuen Eindrücke der Weltstadt in sich aufzunehmen. »Hier muß ich Ihnen Lebewohl sagen, Fräulein Weller,« sagte sie herzlich, »möchten Sie in England in reichem Maße das gehoffte Glück finden!«

»O Gott, verlassen Sie mich noch nicht, Fräulein Stein,« bat Meta, indem sie sich an die Reisegefährtin klammerte, »wie soll ich, wildfremd und unerfahren, das Home auffinden? Sie gebieten ja über einen Wagen – nehmen Sie mich mit, und setzen Sie mich an der Tür des Hauses ab.«

»Aber das darf ich nicht!« meinte Ilse sehr erschrocken. »Ich habe keine Ahnung von der Entfernung – wie kann ich fremder Dienerschaft und Pferden einen möglicherweise weiten Umweg zumuten?«

»Lassen Sie mich das nur machen, Sie ängstliche Seele,« erklärte Meta ruhig. »Holla, guter Freund,« rief sie dem Kutscher zu, der in feierlichem Ernste auf dem hohen Bock thronte, »Sie können mich wohl zuerst nach Bryanston Square fahren; es soll mir auf ein kleines Trinkgeld nicht ankommen.«

Diener und Kutscher wechselten einen vielsagenden Blick, in dem sich Spott und Unwillen mischten; doch zogen sich die Gesichter beider schnell wieder in die üblichen ehrerbietigen Falten. »Es ist ein Umweg von ungefähr vier Meilen,« sagte der Bediente mit höflichem Ernst.

»Nein, dann kann keine Rede davon sein!« rief Ilse hastig. »Ich bedauere sehr, Fräulein Weller ...«

Aber Meta saß schon im Wagen. »Seien Sie doch vernünftige Kind,« sagte sie mit ärgerlicher Gemütsruhe; »es sind natürlich englische Meilen gemeint, von denen ein halbes Dutzend auf eine der unsrigen geht. In gutem Deutsch bedeuten die vier Meilen nur ein paar hundert Schritte. Vorwärts, mein Lieber, nach Bryanston Square!«

Der Diener sah Ilse fragend an: »Wenn das Fräulein befiehlt ...«

»Ja, bitte, seien Sie so freundlich; die Dame ist fremd und kennt den Weg nicht,« erwiderte Ilse verwirrt, indem sie mit Tränen bitteren Ärgers kämpfte; sie fühlte, daß nur die Anwendung von Gewalt sie von ihrer Genossin befreien könnte, wenn sie ihr nicht den Willen tun wollte. Aber sie wandte der aufgedrungenen Begleiterin fast den Rücken zu und gönnte ihr auf dem ganzen Wege kein Wort.

Freilich wäre es auch kaum möglich gewesen, sich in dem Lärm des Straßenlebens verständlich zu machen. Das Gewühl der Menschen und Wagen erschien Ilse vollständig sinnverwirrend; alle Augenblicke glaubte sie, es müsse ein Zusammenstoß mit einem der riesigen Omnibusse, der schwerbeladenen Lastwagen mit den gewaltigen Pferden davor oder den pfeilschnell dahinsausenden Cabs stattfinden, der ihr leichtes Fuhrwerk zertrümmern würde. Was für ein atemloses Leben und Treiben! Auch die Menschen auf den Bürgersteigen schienen es alle eilig zu haben. Und dann fuhren sie plötzlich über einen großen Platz, einen Square, dessen Mitte ein eingehegter Garten im köstlichsten Frühlingsschmuck einnahm, von mannshohem Gebüsch begrenzt und so frisch und grün, als ob ihn die reinste Landlust umfächelte. Zu dem rastlosen Getriebe in den Straßen der City, in denen Handel und Gewerbe zu Hause sind, und wo jeder Geschäftsinhaber nur bestrebt scheint, durch Auffälligkeit seiner Anpreisungen seine Nachbarn zu überbieten, stehen die vornehmen Straßen des Westends in einem auffallenden Gegensatz; hier sieht man keine Läden, sondern nur lange Häuserreihen, die wie ein einziger riesiger Palast erscheinen. Bei näherer Kenntnis aber gewahrt man eine Menge dreifenstriger Häuser, die ganz gleich gebaut und mit genau denselben Verzierungen ausgestattet sind, während sich reizend angelegte, im lieblichsten Blumenflor prangende Terrassen davor hinziehen. Hier donnern keine Omnibusse und keine Lastwagen über das glatte Pflaster, nur elegante Spazierwagen und stattliche Kutschen gleiten geräuschlos darüber hin. Endlich war Bryanston Square erreicht; vor der angegebenen Hausnummer hielt der Wagen still, der Diener setzte das Köfferchen an der Haustür ab, und mit erleichtertem Herzen fuhr Ilse weiter, ohne auf Metas Abschiedsworte zu achten; sie war froh, die unbescheidene Genossin los zu sein und hoffte nur, sie nie wieder zu sehen.

Unmerklich gehen die Straßen der eigentlichen Stadt in die Vorstädte über, die, einst selbständige Ortschaften, unwiderstehlich in das Netz der Riesenspinne London hineingezogen wurden, und ebenso unmerklich verlaufen sich diese in die offene Landschaft. Voll Erstaunen sah sich Ilse auf einmal vom üppigen Grün weiter Wiesengründe und prächtiger Bäume, von werdendem Vieh und blühenden Dornenhecken umgeben. Dann zeigten sich die netten Häuser des Dorfes Thornton mit einer alten gotischen Kirche in der Mitte; durch ein eisernes Gittertor bog der Wagen in eine schöne Allee und hielt endlich vor einem Wohnhause, das so völlig mit dunkel glänzendem Efeu überzogen war, daß nur hie und da das rote Ziegelwerk darunter hervorguckte und Türen und Fenster wie bekränzt aussahen.

Ilsens Herz pochte hörbar. »Jetzt«, dachte sie, »wird sich die Tür auftun und Maud Howard erscheinen, um mich zu begrüßen und zu ihrer Tante zu führen, die im Hausflur meiner wartet.« Aber es erschien nur ein Diener, der ihr aus dem Wagen half und sie mit stummer Gebärde einlud, einzutreten. In der hohen, getäfelten Halle, die sie zuerst betrat, stand eine stattliche Dame in einem schwarzseidenen Kleide, mit einem weißen Häubchen und einem Schlüsselbund an der Seite, die sie höflich willkommen hieß. »Habe ich die Ehre –« begann das junge Mädchen etwas zaghaft.

»Ich bin die Haushälterin«, erwiderte die andere würdevoll, »und von Lady Jane Rivers beauftragt, das Fräulein zu empfangen. Lady Jane und Miß Howard sind ausgefahren und werden erst zum Mittagsessen zurückkehren, das um sieben Uhr eingenommen wird. Darf ich Sie auf Ihr Zimmer führen, Miß S-tehn?«

Sehr befremdet folgte Ilse der Voranschreitenden die teppichbelegte Treppe hinauf und durch einen langen Gang in ein freundliches Zimmerchen, das eine anmutige Aussicht auf den Park hatte. Die Haushälterin entfernte sich mit einer Verbeugung, die einer Dame von Stande würdig gewesen wäre; gleich darauf klopfte es, und eine zierlich gekleidete Kammerzofe trat ein, um dem Ankömmling ihre Dienste anzubieten. Sie nahm ihr Hut und Mantel ab, und während jene von den bereitstehenden Erfrischungen aß, packte sie im Nebenzimmer geräuschlos ihren Koffer aus und bot ihr dann an, sie auszukleiden, da sie gewiß der Ruhe bedürfe und bis zum » dinner« noch zwei Stunden Zeit seien. Ziemlich willenlos ließ Ilse alles mit sich geschehen; als sie in dem geräumigen Schlafzimmer, dessen Fenster durch dichte Vorhänge verdunkelt waren, auf dem breiten Bette lag, fühlte sie erst, daß sie sehr müde sei, und doch konnte sie nicht schlafen. Der Empfang war so ganz anders, als sie ihn sich geträumt hatte; die Abwesenheit der Damen des Hauses erschien ihr so kühl und rücksichtslos – und doch war anderseits so gut für sie und alle ihre Bedürfnisse gesorgt. »Ein fremdes Land und fremde Sitten,« dachte sie; »wie werde ich mich darin zurechtfinden?« Eine bange Beklommenheit, die ihr bisher ganz fern gelegen hatte, überschlich sie, und allerlei beängstigende Fragen drängten sich ihr auf, bis ein wohltätiger Schlummer ihr die Augen schloß und allen Sorgen ein Ende machte.


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