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Dreizehntes Kapitel.
Guy Harrison


Mr. Howard wurde bei seiner Rückkehr nach Ivy-Lodge mit großer Freude empfangen, und ohne auf seine ernste Stimmung zu achten, malte seine Schwester ihm am ersten Abend alle die Pläne aus, die sie in seiner Abwesenheit entworfen hatte, um diese Herbsttage zu genießen. Sie zeigte dabei eine ganz ungewöhnliche Lebhaftigkeit, die Lady Jane veranlaßte, sie zu größerer Mäßigung zu ermahnen; doch blieben ihre Winke unbeachtet, bis die Aufregung in tiefster Abspannung endete. Am nächsten Morgen zeigte es sich deutlich, daß dieses befremdliche Wesen seine Erklärung in einem fieberhaften Zustande fände, und nach einigen Tagen voll Angst und Sorge brachen bei Maud die Masern aus. Damit fielen alle Luftschlösser zusammen; statt zu reiten und weite Ausflüge zu machen, mußte das arme Mädchen im verdunkelten Zimmer liegen und viele Schmerzen erdulden; denn die Krankheit trat mit ungewöhnlicher Heftigkeit auf. Lady Jane wich kaum von ihrem Lager; vergebens bot Ilse ihre Hilfe an, da sie längst die Masern gehabt hatte und sich vor der Ansteckung nicht fürchtete; sie durfte das Krankenzimmer nicht betreten, und die einzige Erleichterung, die sie Lady Jane gewähren konnte, bestand darin, daß sie Harry in ihre Obhut nahm und mitunter beschäftigte, denn Mr. Wilmot hatte gerade eine mehrwöchige Urlaubsreise angetreten.

Es war unvermeidlich, daß Ilse in dieser Zeit sehr viel mit Mr. Howard zusammenkam, und sie war nicht unzufrieden damit. Er ritt täglich mit Harry aus, und sie konnte seiner Aufforderung, die dritte im Bunde zu sein, selten widerstehen. Was für ein Genuß war es, im hellen Herbstsonnenschein durch die Felder zu sprengen, einen liebenswürdigen, ritterlichen Begleiter zur Seite, der immer bemüht war, ihr diese Stunden angenehm zu machen. An Stoff zur Unterhaltung fehlte es niemals; zuerst wollte Ilse genau hören, wie er es in Krokengaard gefunden hätte, und für ihn schien dieser Gegenstand ebensoviel Interesse zu haben wie für sie. Mit Frida war er freilich nur in sehr flüchtige Berührung gekommen, aber um so lieber verweilte er bei Sigrid, deren Selbstbeherrschung im bittersten Schmerz ihm einen tiefen Eindruck gemacht hatte.

»Für dieses Mädchen kann ich mich nicht erwärmen,« meinte Ilse kopfschüttelnd. »Nach dem, was mir Frida von ihr schrieb, hielt ich sie für eine kühle Natur, mit der man sich schwer befreunden könnte; nach Ihrer Schilderung erscheint sie mir wie ein Eisberg, in dessen Innerem ein vulkanisches Feuer glüht. Solche Menschen liebe ich nicht.«

»Wenn Sie die Dame kennten, Miß Stein, würden Sie nicht so sprechen,« erwiderte er mit Wärme. »Es hatte etwas unbeschreiblich Ergreifendes, zu sehen, wie eine stolze, königliche Seele einen tödlichen Schlag empfing: sie setzte sich nicht zur Wehr, aber sie konnte sich auch nicht beugen, und so erinnerte sie mich an ein edles Wild, das seine Wunden im tiefsten Waldesdunkel verbirgt und einsam und klaglos verendet. Ich kann mir denken, daß Sigrid Svendson am gebrochenen Herzen stürbe, aber nicht, daß sie ihren Schmerz durch Jammern und Klagen entweihte.«

»Halten Sie es denn für eine Entweihung,« fragte sie lebhaft, »wenn wir die Mittel gebrauchen, die uns Gott selbst zur Erleichterung unseres Kummers gegeben hat, den süßen Trost der Tränen und des Aussprechens gegen teilnehmende Herzen? Wozu haben wir Menschen, die wir lieben, wenn wir nicht Freud und Leid mit ihnen teilen sollen?«

»Ich glaube, daß Miß Svendson jetzt ihren Trost allein bei Gott suchen und finden wird,« erwiderte er sehr ernst; »aber ich könnte den beneiden, dem dieses stolze Herz einmal seine volle, ungeteilte Liebe erschließen wird.« Ilse schwieg; ihre geheime Abneigung gegen Sigrid wurde durch dieses Gespräch nicht gemildert, und sie bedauerte im stillen ihre weichherzige kleine Frida, die neben dieser verschlossenen Natur sicher darben mußte.

Unter den Ausflügen, die Maud für diese Zeit geplant hatte, war auch einer nach einem einige Meilen entfernten Dorfe, in dessen Nähe die Überreste einer altrömischen Niederlassung waren. Harry war besonders für diese Unternehmung begeistert; er hatte im Geschichtsunterrichte, der in England immer die vaterländische Geschichte in den Vordergrund stellt, viel von der Zeit der Römerherrschaft in Britannien gehört und wünschte sehnlich, ihre Spuren mit eigenen Augen zu sehen. Eines Tages, als der kleine Familienkreis beim Lunch saß, drang er wieder in Mr. Howard, einen Ritt dorthin zu unternehmen. »Du kannst gar keinen vernünftigen Grund dagegen anführen, Archie,« sagte er in überredendem Ton, »der Himmel sieht aus, als wüßte er gar nichts mehr von Regen, und Miß Stein brennt darauf, das alte Römerlager zu sehen, von dem ich ihr soviel erzählt habe. Willst du mir den Gefallen nicht tun, dorthin zu reiten, so tue es doch ihr zuliebe.«

»Ich fürchte gerade, der Ritt würde für Miß Stein zu weit sein,« erwiderte Mr. Howard.

Ilse wollte eben ihre Lippen zu einem lebhaften Widerspruch öffnen, als ihr Blick auf Lady Janes Gesicht fiel, das einen ihr wohlbekannten, strengen Ausdruck trug und ihr deutlich sagte, daß sie mit dem Plane nicht einverstanden sei. »Es ist sicher zu weit für mich,« sagte sie seufzend, »ich würde die geübteren Reiter nur aufhalten.«

»O Miß Stein!« rief Harry unzufrieden, »wie können Sie so kleinmütig sein! Ohne Sie wird Archie den Ritt gewiß nicht unternehmen!«

»Ich will euch einen Vorschlag machen,« nahm Lady Jane jetzt sehr freundlich das Wort. »Miß Robson hat schon lange gewünscht, das römische Lager zu besuchen; sie hat jetzt Muße dazu, da ihre Zöglinge größtenteils fortgereist sind. Kann sie euch begleiten, so nehmt ihr den offenen Wagen, Harry kann noch Bob Anderson mitnehmen, ihr brecht früh auf, frühstückt dort und seid zum Mittagessen wieder hier. Wie gefällt euch der Plan?«

Harry jubelte laut, Ilse machte ein sehr erfreutes Gesicht, Mr. Howard war es zufrieden, und in der heitersten Stimmung bestiegen alle drei am nächsten Morgen den Wagen, um auf dem Wege durch das Dorf die vorher eingeladenen Gäste abzuholen. Bob Anderson stand schon wartend vor der Tür und sprang mit gleichen Füßen in das Gefährt; Miß Robson aber war nicht zu sehen, und Ilse mußte aussteigen, um sie zu suchen. Erst nach einer Weile trat sie ihr im Hauskleide entgegen. »Verzeihen Sie, daß ich Sie aufgehalten habe,« sagte sie eilig, »mein Vater ist in der Nacht heftig erkrankt, er bedurfte meiner Hilfe.«

»Das tut mir sehr leid,« entgegnete Ilse. »Hoffentlich geht es ihm besser – wir warten gern ein Weilchen, bis Sie alles für ihn besorgt haben.«

»Ich muß bei ihm bleiben, Miß Stein; ich kann ihn unmöglich verlassen.«

»Sie wollen uns nicht begleiten?« fragte Ilse sehr erschrocken, »aber das zerstört unseren ganzen Plan!«

»Ich bedauere es aufrichtig – doch da ruft mein Vater – farewell, Miß Stein, viel Vergnügen!«

Im nächsten Augenblick war Miß Robson verschwunden, und ihre Gefährtin blieb in großer Verwirrung zurück. Was sollte sie anfangen? umkehren und nach Hause fahren? Das wäre in Lady Janes Augen wohl am passendsten gewesen, doch erschien es ihr kindisch und fast beleidigend gegen Mr. Howard. Sie fuhr ja nicht mit ihm allein, es waren noch die beiden Knaben dabei, die sie nicht um dieses Vergnügen bringen durfte. Auch schaute sie schon so lange nach einer Gelegenheit aus, um ganz ungestört mit dem jungen Manne zu sprechen und den Auftrag der alten Bridget zu bestellen. Dieser Gedanke gab den Ausschlag; rasch stieg sie in den Wagen und erklärte in kurzen Worten Miß Robsons Ausbleiben; die Pferde zogen an, und ehe noch eine andere Überlegung aufkommen konnte, waren sie schon so weit hinter dem Dorfe, daß an eine Umkehr nicht mehr zu denken war.

Ilse war entschlossen, sich das Vergnügen des heutigen Tages durch kein Bedenken trüben zu lassen; sie mischte sich in die Unterhaltung der anderen und lachte und scherzte um so lebhafter, je deutlicher eine Stimme in ihrem Innern sie an Lady Janes unausbleibliche Mißbilligung mahnte. Die Fahrt durch den taufrischen Herbstmorgen war köstlich; die Besichtigung der römischen Überreste bot viel Interessantes und Lehrreiches dar, einige Stunden vergingen in ungetrübter Freude, bis endlich in allen das Bedürfnis nach leiblicher Speise erwachte. Nun wurde ein weißes Tuch auf dem Boden ausgebreitet und der Korb ausgepackt, den Mrs. Kings Fürsorge mit allerlei guten Dingen gefüllt hatte; jeder neue Leckerbissen erregte einen Sturm des Entzückens bei den Knaben, und unter fröhlichem Geplauder wurde das Mahl verzehrt. Dann schickte Mr. Howard die beiden Knaben fort, um Pflanzen und Steine zu sammeln, während er sich selbst im Schatten eines riesigen Dornbusches behaglich ausstreckte. »Wenn ich es wagte,« begann er in demütigem Ton, aber mit einem schelmischen Blick, »mir hier in dieser unschuldigen Natur – fern von der Etikette der gebildeten Gesellschaft – eine Zigarre anzuzünden, würde es Sie unheilbar beleidigen, Miß Stein?«

»Ganz und gar nicht!« erwiderte sie lachend. »Deutsche Frauen finden in dieser treuen Freundin des stärkeren Geschlechts nur eine Erhöhung der Gemütlichkeit.«

»Sie sind zu gütig,« entgegnete er, »seien Sie meiner ewigen Dankbarkeit versichert!«

Bald stiegen die blauen Rauchwölkchen in die stille, klare Luft, und ein träumerisches Behagen senkte sich auf die beiden herab. Jetzt war der richtige Augenblick gekommen; Ilse legte sich schon die Worte zurecht, um von der alten Bridget zu erzählen, als Mr. Howard ihr zuvorkam. »Armer Harry!« sagte er mitleidig; »wie ahnungslos und unbekümmert ist er bisher durchs Leben gegangen. Ich wollte, ich könnte ihm die Erkenntnis ersparen, daß er ganz allein in der Welt dasteht.«

»Er ist eine Waise, nicht wahr? Aber bisher hat er wohl noch wenig davon verspürt, er genießt hier so reiche Liebe. Wie ist er eigentlich mit Ihnen verwandt?«

»Gar nicht; er ist ein Findling, den das Meer ausgeworfen hat. Hat Ihnen Lady Jane nie seine wunderbare Geschichte erzählt?«

»Nein,« sagte Ilse, deren Teilnahme lebhaft erregt war, »aber ich würde sie gern hören.«

»Vor einer Reihe von Jahren«, begann Mr. Howard, »kehrte mein Vater auf dem ›Viktor‹ von einer Reise aus dem südlichen Frankreich zurück. Im Kanal überfiel ihn ein heftiger Sturm, ein dichter Nebel hüllte das Meer in tiefe Finsternis. Plötzlich erhielt das Schiff einen furchtbaren Ruck; es war mit einem anderen zusammengestoßen, das sofort in die Tiefe versank. In wenig Augenblicken war die wild erregte Flut mit ringenden Gestalten erfüllt, und das Jammergeschrei der Ertrinkenden übertönte noch das Geheul des Windes und das Brausen der Wellen. Der Kapitän und die Mannschaft des ›Viktor‹ hatten alle Hände voll zu tun, das eigene Schiff flott zu erhalten; sie konnten nicht an die Rettung der Unglücklichen denken. Mein Vater und einige Reisegefährten erlangten nur mit großer Schwierigkeit die Erlaubnis, die Boote auszusetzen; man sagte ihnen, daß bei solcher See alle Mühe vergebens sei und sie ihr Leben nutzlos preisgäben. Es gelang ihnen in der Dunkelheit nur, eine einzige Frau und ein Kind zu bergen; diese beiden hielten sich so fest umklammert und waren so erstarrt, daß man sie nicht trennen und nur mit unsäglicher Anstrengung an Bord des ›Viktor‹ bringen konnte. Als man die Arme der Frau gewaltsam öffnete, war sie schon tot, das Kind aber kehrte bald zu Leben und Bewußtsein zurück. Es war ein etwa zweijähriger Knabe von kräftig entwickeltem Körper, doch war seine Sprache noch so unvollkommen, daß er wenig Auskunft über sich geben konnte. Auf die Frage, wie er hieße, antwortete er nur: I Harrys, woraus man auf Harry schloß. Dann sprach er von Pa und Ma, von Sissy und Polly, aber keiner Bemühung wollte es gelingen, den Namen seiner Eltern oder ihren Wohnort aus ihm herauszubringen. Um ihn nicht dem Armenhause anheimfallen zu lassen, nahm ihn mein Vater unter seine Obhut und brachte ihn meiner Mutter mit – aber leider auch noch ein anderes Andenken an diese Sturmnacht, nämlich den Keim einer tödlichen Krankheit, die ihn nach wenig Monaten in der Blüte seiner Jahre hinraffte. Meine Mutter war ganz gebrochen; bald danach wurde auch sie uns entrissen; der kleine Harry aber blieb bei uns als ein teures Vermächtnis, das die aufopfernde Nächstenliebe unseres Vaters uns hinterlassen hatte. Tante Jane Rivers nahm ihn und Maud unter ihre mütterlichen Flügel, während ich ins Ausland ging, um meine Bildung zu vollenden. Das ist jetzt gerade acht Jahre her, und trotz aller Nachforschungen ist es uns nicht gelungen, Harrys Angehörige ausfindig zu machen – vermutlich waren Eltern und Geschwister in der Schreckensnacht ertrunken.«

Ilse hatte zuletzt mit atemloser Ungeduld das Ende der Erzählung abgewartet. »Wie wunderbar!« rief sie jetzt, »es ist, als hätten Sie mir die Geschichte von Guy Harrison erzählt!«

»Guy Harrison? wer ist das?«

»Der Sohn der Amerikanerin in Marscourt-Hall, Evelyns kleiner Bruder, der vor acht Jahren auf einer Reise nach England verloren ging.« In fliegenden Worten erzählte sie ihm die Begebenheit, ohne die begleitenden Umstände, den Zwist der Eltern und die heimliche Abreise, zu erwähnen.

»Das ist in der Tat höchst merkwürdig,« sagte Mr. Howard gedankenvoll, »sollten wir der Lösung dieses Rätsels so nahe stehen? Ich muß noch heute nach Marscourt-Hall, um die Sache zu ergründen,« fügte er aufspringend hinzu; »wenn Sie recht hätten, so wäre es ein himmelschreiendes Unrecht, einer trauernden Mutter ihren Sohn auch nur einen Tag vorzuenthalten. Erlauben Sie, daß ich den Wagen bestelle, Miß Stein?«

Ilse war ganz bereit zur Heimkehr; sie war selbst in nicht geringer Aufregung über diese plötzliche Entdeckung. Der Weg wurde ziemlich schweigsam zurückgelegt; die Knaben waren müde vom Umherlaufen, die älteren Personen hatten zuviel zu denken, um zu sprechen. »Sagen Sie Tante Jane noch nichts,« flüsterte Mr. Howard beim Aussteigen Ilsen zu, »ich will erst mit Miß Harrison reden und Klarheit erlangen.« Lady Jane war sehr erstaunt, als sich ihr Neffe sofort von ihr verabschiedete, ohne auch nur das Mittagessen abzuwarten, um nach London zu fahren, wo, wie er sagte, dringende Geschäfte auf ihn warteten. Er war zwar dem Namen nach seit seines Großvaters Tode das Haupt des großen Handlungshauses Howard & Comp., aber er hatte seit seiner Rückkehr von Indien noch keinen tätigen Anteil an den Geschäften genommen. Doch fiel es der Lady nicht ein, sein Wort in Zweifel zu ziehen.

Bei Tische ließ sie sich über die Ausfahrt berichten und nahm herzlichen Anteil an Harrys begeisterter Schilderung. »Miß Robson konnte euch gewiß manche Auskunft geben,« sagte sie, »sie ist in diesen Dingen sehr bewandert.«

»Miß Robson?« rief Harry, »ei, die war gar nicht dabei!«

»Nicht?« fragte Lady Jane mit einem erstaunten Blick auf Ilse, die mit gesenkten Augen dasaß, »wie soll ich das verstehen?«

»Sie konnte nicht mitkommen, da ihr Vater erkrankt war,« erwiderte das junge Mädchen, und die Verlegenheit, in die sie geriet, gab ihrem Ton einen trotzigen Anstrich.

»Und so machten Sie diesen Ausflug ohne jede Begleitung, Miß Stein?« fragte die Dame streng.

»Ich hatte ja drei Kavaliere bei mir,« entgegnete die andere mit etwas erzwungener Heiterkeit, »war das nicht Schutz genug?«

Lady Jane richtete sich steif in die Höhe. »Ich bedaure wirklich, Miß Stein,« hob sie an – dann stockte sie plötzlich, denn sie sah ohne Zweifel ein, daß sie die Lehrerin nicht in Gegenwart des Schülers tadeln dürfe. »Ich bedaure aufrichtig,« fuhr sie mit schneller Fassung fort, »erst jetzt von Dr. Robsons Krankheit zu hören; ich werde sogleich den Diener hinschicken, um mich nach seinem Befinden zu erkundigen.«

Ilse fühlte, daß nur Harrys Gegenwart sie vor einer ernsten Strafpredigt geschützt hätte; ihr war sehr unbehaglich zumute, doch hatte sie gar keine Lust, sich schuldig zu bekennen. Sie war froh, daß eine Botschaft von Maud deren Tante gleich nach dem Essen abrief, schickte Harry früh zu Bett und zog sich in ihr Zimmer zurück.

Am andern Morgen erschien Lady Jane mit so ernstem Gesicht zum Frühstück, daß sich Ilse besorgt nach Mauds Ergehen erkundigte, doch war dieses augenscheinlich nicht der Grund der Verstimmung, denn der Kranken ging es besser. Während der Mahlzeit überreichte der Diener Ilsen auf einem silbernen Teller eine eben eingetroffene Depesche; sie erbrach sie und las:

Alles in Richtigkeit, geben Sie Lady Jane volle Aufklärung, kommen Sie sogleich mit Harry her, sagen Sie ihm nichts.

Archibald Howard.

Das Blut schoß dem jungen Mädchen vor freudiger Erregung in die Wangen. »O mein Gott, was für ein Glück!« sagte sie mit strahlenden Augen und wollte Lady Jane die Depesche reichen, als ihr einfiel, daß diese ja noch nichts von der Entdeckung wisse und die Worte gar nicht verstehen könne. In Harrys Anwesenheit konnte sie dieselben nicht erklären, deshalb zog sie die Hand schnell wieder zurück und legte das Blatt neben sich.

»Woher kommt Ihre Nachricht?« fragte die Dame.

»Aus Marscourt-Hall – von Mr. Howard,« war die zögernde Antwort.

»Aber mein Neffe ist in London ...«

»Nein, er fuhr in einer wichtigen Angelegenheit zu Miß Harrison ... darf ich sie Ihnen allein mitteilen?«

Lady Janes Gesicht wurde immer länger. »Wir wollen erst frühstücken,« sagte sie sehr kühl. Das Mahl wurde in tiefem Schweigen beendet; Ilse konnte keinen Bissen hinunterbringen, so heftig schlug ihr das Herz vor Teilnahme und Erwartung; daneben suchte sie die rechten Worte zu finden, um die erzürnte Dame zu besänftigen und sie schnell von allem zu unterrichten. Endlich war sie mit ihr allein. »Darf ich die Depesche lesen?« fragte die Lady ernst und streckte die Hand danach aus. Ihre Stirn wurde noch bewölkter. »Ich bin in der Tat sehr begierig auf die Aufklärung dieser seltsamen Angelegenheit,« sagte sie in schneidendem Ton. »Sie fahren mit meinem Neffen allein aus, Sie haben Geheimnisse mit ihm, von denen ich nichts ahne – ich muß gestehen, Miß Stein, daß mir Ihr Benehmen äußerst befremdlich, um nicht zu sagen: ganz unpassend erscheint.«

In Ilse bäumte sich der Widerstand auf. »Wir haben zufällig Harrys Herkunft entdeckt,« sagte sie kurz, »und Mr. Howard will nicht zögern, ihn seiner Mutter zuzuführen.«

Über Lady Janes Gestalt flog ein Zittern, als hätte sie einen Schlag erhalten; sie preßte die Lehne des Stuhls, der neben ihr stand, krampfhaft mit beiden Händen fest. »Und wer ist seine Mutter, wenn ich fragen darf?«

»Mrs. Harrison in Marscourt-Hall.«

Die Lady sank in den Sessel und deckte die Hand über die Augen. »Und das alles geschieht über mich hinweg, als hätte ich gar kein Recht an ihn?« sagte sie langsam nach einer langen Pause. »Ich habe ihn acht Jahre lang behütet und geliebt wie mein eigenes Kind und muß im entscheidendsten Augenblick seines Lebens hinter einer Fremden zurückstehen?«

Der Schmerz, der aus diesen Worten sprach, rührte Ilsens Herz; sie beugte sich nieder, ergriff die schlaff herabhängende Hand und küßte sie ehrerbietig. »Verzeihen Sie, Mylady, verzeihen Sie uns!« bat sie reuig, »wir haben es gewiß nicht beabsichtigt, Ihnen eine Kränkung anzutun – es machte sich ganz von selbst.« Dann berichtete sie von den traurigen Erlebnissen, die Evelyn ihr erzählt, und wie wunderbar diese mit Mr. Howards Geschichte zusammengepaßt hätten. »War es nicht wie eine ausdrückliche Fügung,« setzte sie hinzu, »daß Miß Robson uns gestern nicht begleiten konnte? In ihrer Gegenwart wäre die Angelegenheit schwerlich zur Sprache gekommen.«

Lady Jane antwortete nicht; sie saß noch immer regungslos, mit verhüllten Augen da. Ilse stand wie auf Kohlen daneben; es ging soviel Zeit verloren, ehe Harry auf den Weg gebracht wurde. »Darf ich eine Bitte aussprechen?« fing sie etwas zaghaft wieder an. »Überlassen Sie mir für heute Mauds Pflege und geleiten Sie Harry selbst nach Marseourt-Hall; aus Ihren treuen Händen würde er doch am besten in die seiner Mutter übergehen.«

»Nein!« erwiderte Lady Jane herbe. »Möge es so geschehen, wie es mein Neffe bestimmt hat, er ist Harrys Vormund. Ich bitte Sie, sich fertig zu machen, um in einer Stunde mit Harry abzufahren; ich habe keinen Teil an dieser Sache.«

Damit stand sie auf und verließ das Zimmer; tief bekümmert eilte Ilse in das ihrige. Die freudige Erwartung eines Wiedersehens zwischen Mutter und Sohn war arg getrübt durch den offenbaren Kummer, der Lady Jane aus der Sache erwuchs: sie verlor nicht nur einen geliebten Pflegesohn, sondern sie mußte zu diesem Verlust noch eine bittere Kränkung in den Kauf nehmen.


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