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Zwölftes Kapitel.
Die Trauerbotschaft


In Norwegen war es Herbst geworden; droben in den Bergen war schon längst Schnee gefallen, man hatte die Herden herabgetrieben und die unermeßlichen Weidegründe den wilden Renntieren, den Bären und Wölfen überlassen, die in dem langen, harten Winter dort die unbestrittene Herrschaft führten. Aber auch in den Tälern und an den Ufern des Fjords zeigten sich unverkennbare Zeichen des Vergehens: die Birken sahen krank und schwärzlich, die Espen blaßgelb aus, denn mehr als ein heimlicher Nachtfrost hatte sie schon berührt; auch die Ebereschen hatten dürre und zusammengeschrumpfte Blätter, aber sie prangten stolz mit ihren roten Früchten. Die Bäche, die im Laufe des Sommers sehr zahm und müde geworden waren, rauschten in neuer Kraft und Fülle einher und stürzten sich in lustigem Sprunge über die Felskanten; man sah es ihnen an, daß sie sich in der Höhe an Schnee und Regen satt getrunken hatten und nun ihr Leben genießen wollten, ehe sie der Winter in Fesseln schlüge. Die Felder waren kahl, nur hier und da hatte man noch Garben über Stangen gehängt, damit sie besser trocknen sollten; dazwischen keimte in ununterbrochenem Kreislauf die junge grüne Saat als erste Verheißung der neuen Ernte.

Auf den Höfen und in den Häusern herrschte überall emsige Tätigkeit; die Dreschflegel klapperten auf den Tennen, und in Küche und Keller waren alle Frauenhände geschäftig, die Vorräte für den Winter aufzuhäufen. Da wurden ungeheure Haufen Fladbröd ausgerollt und gebacken, Hammelkeulen gedörrt, Schweine geschlachtet, gesalzen und geräuchert, Massen von Wurst und die beliebte Mölja bereitet, ein Gemisch von Blut und Mehl, das man in Blasen füllt und aufbewahrt, um es später gekocht und gebraten zu verzehren. Ein ganz besonderer Eifer wurde zu Bunserud entfaltet, denn dort sollte in kurzem eine Hochzeit gefeiert werden. Ambjör war als Braut von den Sätern zurückgekehrt, und noch vor Eintritt des Winters wünschte sie ihr Bräutigam, ein ansehnlicher Bauerssohn aus der Nachbarschaft, als Frau in sein Haus einzuführen.

Frida kehrte immer mit Vergnügen in dem Bauernhause bei Mutter Brita ein. War die alte Frau auch, wie die meisten älteren Leute in Norwegen, für gewöhnlich ernst und wortkarg, so hatte sie für »das kleine Fröken« doch jederzeit einen freundlichen Blick und ein herzliches Wort, die ihr zeigten, daß sie gern gesehen sei. Für das deutsche Mädchen war alles, was sie hier sah, von hohem Interesse, denn es sprach von sehr alter Zeit; hier schienen nicht nur die Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte vorübergegangen zu sein, ohne am Inneren und Äußeren viel zu ändern. Die Balken, aus denen das Haus bestand, waren schwarz von den Einflüssen unzähliger Sommer und Winter und so hart wie Eisen; alte Sprüche in seltsam verschnörkelten Buchstaben, die man jetzt kaum noch zu deuten wußte, waren über der Tür eingeritzt. Der große Raum, der das ganze Erdgeschoß einnahm, erinnerte sie an die Schilderung von Frithjofs Wohnung in Framnäs; gern malte sie es sich aus, wie an dem riesigen, gemauerten Herde einst Wikingerhelden gesessen und in den uralten, schwerfälligen Stühlen, bei denen Sitz, Lehne und Fußgestell in einem Stück aus einem ungeheuern Baumstamm herausgearbeitet waren, von ihren Kriegs- und Beutezügen ausgeruht und dem Gesange der Barden gelauscht hätten, während draußen der Wintersturm um das niedrige Dach brauste und der Schnee die Bewohner des Hauses von der übrigen Welt abschnitt. Die altertümlichen Truhen, die mit bunten Blumen kunstlos bemalt waren, die großen Bettgestelle, die wie Kasten an der Wand klebten und auf ihren breiten Gesimsen allerlei Gerät trugen, blankes Zinngeschirr und seltsam geformtes Töpferzeug – das alles war zum größten Teil viel älter als das lebende Geschlecht, und wenn auch die Ehefrau des jedesmaligen Besitzers immer etwas Neues zur Einrichtung hinzugefügt hatte, so war doch der Charakter des Ganzen nicht wesentlich verändert worden.

Heute kam Frida nach Bunserud, um ihre Hilfe bei der Ausschmückung des Hauses zur Hochzeitsfeier anzubieten; in Ermangelung aller Blumen steckte sie große Sträuße von Tannengrün und roten Vogelbeeren in die alten Krüge und bekränzte das schön geschnitzte Türgerüst mit ebensolchen Gewinden. Mit Entzücken sah sie aus den ererbten Truhen eine Anzahl bunter Decken, sogenannte Aaklaeder, ans Licht kommen, echte Erzeugnisse des Landes, die in jedem wohlhabenden Bauernhause Norwegens zu finden sind und bei feierlichen Gelegenheiten zum Schmuck dienen. Diese Decken sind in der einfachsten Weise aus sehr groben Fäden gewebt und oft mit Darstellungen aus der heiligen Geschichte geschmückt; die eingewirkten Jahreszahlen weisen meist ein hohes Alter nach, da diese Kunst schon in früheren Jahrhunderten ausgeübt wurde. Frida fand, daß sie sich prächtig dazu verwenden ließen, als Vorhänge von den Gesimsen herabzufallen, Betten und kahle Wände zu verdecken, und als sie mit Karins Hilfe alles geordnet hatte, erschien ihr das alte Haus so wunderbar malerisch und stimmungsvoll, als ob es eine passende Heimstätte für Frithjof und Ingeborg hätte abgeben können.

Der Hochzeitstag war herangekommen; siegreich hatte die Sonne die dichten Morgennebel bezwungen und vergoldete mit ihren Strahlen den buntfarbigen Wald und die schimmernd weißen Schneezinnen der Berge, die hoch in den blauen Himmel hineinragten. Reizend war der Brautzug anzusehen, der in einer langen Reihe von Kähnen über die stille, grüne Flut dahinzog; die hübsche Ambjör sah in ihrer stattlichen Tracht mit der silbernen Brautkrone über dem üppigen, aufgelösten Haar, das sie wie ein goldener Mantel umwallte, so stolz aus wie eine Königin. Zum letzten Male durfte sie heute diesen Haarschmuck vor aller Welt zur Schau tragen; am Tage nach der Hochzeit sollte er unbarmherzig unter der Schere fallen und die junge Frau ihr Haupt mit derselben unförmlichen weißen Haube bedecken, wie sie die Mütter und Großmütter trugen. Eine Sammetjacke, die vorn den schön gestickten Brustlatz sehen ließ, und eine reich verzierte, weiße Schürze vervollständigten den Anzug der Braut, während sich der des Bräutigams nur durch die großen silbernen Knöpfe der Weste von der gewöhnlichen Tracht unterschied. Die Hochzeitsgäste folgten dem vorauffahrenden Paar; die schneeweißen Ärmel der jungen Mädchen und die Hauben der Frauen glänzten um die Wette im Sonnenschein; zwei Musikanten ließen ihre munteren Weisen ertönen, in die sich das helle Jauchzen der jungen Burschen mischte. Zuweilen ließ man die Ruder sinken; dann machte ein Krug des berühmten Hardanger Bieres die Runde von Kahn zu Kahn, bis man vor der Kirche anlangte und in ernster Haltung dem Gotteshause zuschritt.

Als die Gesellschaft nach Bunserud zurückkehrte, waren die Tische gedeckt und das Mahl bereitet; die Söhne des Hauses waren unermüdlich im Anbieten und Einschenken, und es wurde so tapfer geschmaust und gezecht, daß sich der ganze Kreis bald in der fröhlichsten Laune befand. Endlich wurden die Tische fortgeräumt, und der Tanz begann; nach alter Sitte mußte die Braut mit allen Männern, der Bräutigam mit jeder der anwesenden Frauen und Mädchen tanzen, denn auch die älteren Leute verschmähten es keineswegs, an dem Vergnügen der Jugend teilzunehmen. Dabei wurde das Trinken fleißig fortgesetzt, und Frida, die mit Herrn Holmböe und Sigrid dem Feste beiwohnte, empfand eine ängstliche Scheu vor der zunehmenden Lebhaftigkeit der Burschen, die jetzt lärmend nach dem Halling verlangten. Dies war ein Tanz, dessen Glanzpunkt darin bestand, daß der Tänzer von Zeit zu Zeit die Decke des Zimmers mit dem Fuße berührte, was jedesmal mit lärmendem Jubel begrüßt wurde. Dann folgte der Springtanz, wobei sich die Mädchen an der hocherhobenen Hand des Tänzers festhielten und mit solcher Geschwindigkeit daran in die Runde drehten, daß sich ihre Röcke wie Segel aufblähten. Der Anblick erschien Frida nicht mehr schön, und sie sah sich nach Sigrid um, in der Hoffnung, sie zum Verlassen der allzuheiteren Gesellschaft zu bewegen.

Sie mußte eine Weile nach ihr suchen und fand sie in einem kleinen Nebenraume, wo sie mit bleichen Wangen und geschlossenen Augen in einer Ecke kauerte. Erschrocken setzte sich Frida zu ihr und rieb ihr die eiskalten Hände, bis jene endlich die Augen aufschlug und sie mit einem abwesenden Blicke ansah. »Was ist dir, Sigrid, bist du krank?«

»Mir ist so bange – es hängt ein Unheil in der Luft – Olaf, mein Olaf!« stammelte Sigrid mit zitternden Lippen.

Frida hatte längst geahnt, daß sich die Schwester um das lange Schweigen und die verzögerte Rückkehr des Bruders Sorge mache, obgleich sie nie ein Wort darüber gesagt hatte. »Laß uns nach Hause fahren,« bat sie, »die geräuschvolle Lustigkeit tut dir weh.«

Aber Sigrid schüttelte den Kopf; sie raffte sich gewaltsam zusammen, tat einen tiefen Atemzug und stand auf. »Es war nur ein Augenblick der Schwäche – die Hitze, die bedrückte Luft – mir ist schon besser,« sagte sie mit anscheinender Ruhe; »komm nur, damit wir nicht vermißt werden.«

»So laß uns um meinetwillen heimkehren,« bat Frida dringend, »mir ist der Lärm längst zu viel.«

Mit Mühe ließ sich Sigrid überreden, in den Aufbruch zu willigen, zu dem Herr Holmböe gleich bereit war. Bald standen die beiden zweirädrigen Karren, die je mit einem Pferde bespannt waren, vor der Tür; in dem einen nahm Frida an Onkel Nils' Seite Platz, in dem andern führte Sigrid selbst die Zügel, während ein Junge hinten aufsaß; denn mehr als zwei Personen faßt so ein Gefährt nicht. Die Mondsichel stand noch am Himmel und warf ein fahles Licht auf den Weg, der bald am steilen Gestade hinlief, bald durch den Wald führte; der beste Schutz gegen jede Gefahr aber lag in der unfehlbaren Sicherheit, mit der die kleinen kräftigen Pferde den wohlbekannten Pfad zurücklegten.

Es war Mitternacht, als sie heimkehrten und ihnen die alte Magd an der Tür entgegentrat. »Hättest auch nicht so lange zu warten brauchen, Signe,« sagte Herr Holmböe; »können unser Bett auch ohne dich finden.«

»Wollte dir sagen, Herr,« entgegnete die Alte, »daß ein Fremder hier war, der dich zu sprechen wünschte.«

»Was wollte er? Wo ist er geblieben?«

»Seinen Namen habe ich vergessen; er kommt aus England, und ich konnte sein Kauderwelsch nicht verstehen. Zum Glück war der Roar mit ihm hier, der auf einem englischen Schiff gedient hat und mir alles erklären konnte. Er hätte dir Wichtiges zu melden, sagte er.«

»Aus England?« fragte Herr Holmböe mit finster gerunzelter Stirn. »Hoffe doch,« fügte er leiser hinzu, und seine Stimme nahm einen dumpfen, grollenden Ton an, »es war nicht jener Bube, der mir mein Kind stahl!«

»Hübsch genug war er anzusehen,« erwiderte Signe, »aber sei ohne Sorge, Herr, dieser war jung und frisch und sah aus wie ein guter Mensch. Ich bot ihm ein Nachtlager in unserem Hause an, aber er dankte; er wolle ins Wirtshaus zu Grover zurückkehren, wo er seine Sachen gelassen hatte. Morgen früh kommt er wieder.«

Sigrid hatte nicht auf dieses Gespräch geachtet, sondern war ins Wohnzimmer gegangen, wo sie sich noch zu schaffen machte; Frida aber hatte daneben gestanden und wohl begriffen, um was es sich handelte. So nahe lag Onkel Nils noch immer der Gedanke an seine Tochter, die er doch vor mehr als zwanzig Jahren für tot erklärt hatte! An dem Zorn gegen den Mann, der ihm seines Kindes Herz abwendig gemacht hatte, erkannte sie die Größe seiner Liebe. O, wenn Eva Kristina nur noch lebte, dann würde eine Versöhnung wohl nicht schwer gewesen sein; das Herz des Vaters hätte sich der Reuigen sicher wieder zugewandt. War das Gerücht ihres Todes auch glaubwürdig bestätigt worden? hatte man gründlich genug nach ihr geforscht, oder wäre es nicht möglich, ihr jetzt noch nachzuspüren? Der Gedanke erfüllte Frida so völlig, daß sie ihn aussprechen mußte; sie öffnete leise die Tür, die zu Sigrids Stübchen führte, um zu sehen, ob die andere noch wach sei, blieb aber auf der Schwelle wie gebannt stehen. Sigrid lag vor ihrem Bett auf den Knien und rang in bitterer Verzweiflung die Hände. »Olaf, mein Olaf!« stöhnte sie; »kehre zu mir zurück! O Gott, nimm mir alles, nimm mein Leben selbst, aber schone das seine – ich kann nicht leben ohne ihn!«

Geräuschlos schloß Frida die Tür und schlich mit unhörbaren Schritten zu ihrem Lager; ihre Gedanken erhielten eine andere Richtung, und heißes Mitgefühl für Sigrid erfüllte ihr Herz. Bezog sich das Kommen des Fremden auf Olaf? brachte er eine Trauerkunde? Lange lag sie noch wach, weinend und betend, im bangen, beklemmenden Vorgefühl einer dunkeln Wolke, die über dem Hause schwebte.

Sie war erst spät eingeschlafen und erwachte lange nach der gewöhnlichen Stunde. Als sie sehr beschämt das Eßzimmer betrat, was sie schon leer zu finden erwartete, sah sie Herrn Holmböe noch am Frühstückstische sitzen, aber er sah nicht auf, als sie auf ihn zukam, und in seinem Gesichte lag ein Ausdruck starren Schmerzes. »Was ist geschehen, Onkel Nils?« fragte sie angstvoll, indem sie mit gefalteten Händen dicht vor ihm stehen blieb.

»Tot!« erwiderte er dumpf, ohne die Augen zu erheben. »Wieder einer von den jungen, kräftigen Bäumen getroffen – der alte Stamm bleibt ganz allein stehen. Warum traf Dein Blitz nicht mich, mein Gott? Wollte zwar wenig von dem Alten wissen – fragte nichts nach meinen Wünschen – und war doch mein letzter Stolz. Alle, alle dahin – auch ich bin des Lebens müde! So nimm denn, Herr, meine Seele!«

Es lag in den halb bewußtlos hervorgestoßenen Worten ein bitteres Weh, das Fridas Seele zerschnitt. Sie schlang die Arme um seinen Hals, legte ihren Kopf an seine Schulter und rief unter Tränen: »O lieber Onkel Nils, sage nur nicht so Schreckliches! Was sollte aus der armen, armen Sigrid werden, wenn sie dich nicht hätte? Du bist ihre letzte Stütze, ihr einziger Trost, du darfst nicht von ihr gehen!«

Herr Holmböe nickte langsam und schwer mit dem grauen Kopf. »Armes Kind!« sagte er traurig. »Trifft sie hart, dieser Schlag – hat schon zu viel verloren. Tut brav ihre Pflicht, sorgt gut für mich und das Haus – hat aber doch kein rechtes Herz für den Alten – wäre lieber heute wie morgen von ihm gegangen.«

Frida küßte und streichelte die wetterharte Wange des alten Herrn mit überströmender Zärtlichkeit. »O, sie liebt dich doch, Onkel Nils, wie könnte sie auch anders? Du bist ja so seelengut und treu. Aber ist es denn wahr? wo ist Olaf gestorben?«

»Fern von hier – in Indien,« erwiderte er in milderem Ton. »Warum ging er dorthin – warum, warum?« Er versank wieder in düsteres Brüten, aber er hielt Frida an seiner Seite fest. »Gute Kleine,« sagte er nach einer Weile weich, »Gott segne dein warmes Herz voll Liebe und Teilnahme!« Er drückte einen Kuß auf ihre Stirn, dann stand er auf und reckte die mächtigen Glieder. »Muß hinaus – der Fremde ist noch bei Sigrid; wenn er kommt, laß mich rufen.« Damit verließ er das Zimmer, und Frida stand einige Augenblicke ratlos da. Sie lauschte nach der Tür des Arbeitszimmers hin und hörte die gedämpften Laute einer fremden Stimme; es verlangte sie dringend, zu Sigrid zu eilen, aber sie fühlte, daß sie jetzt dort nicht stören dürfe. So ging sie in die Küche zu Signe und teilte der die Trauerbotschaft mit. Die Alte setzte sich nieder, zog ihre Schürze über den Kopf und wiegte den Oberkörper wehklagend hin und her. »Mein armer Herr!« stöhnte sie, »armes Herzchen Sigrid! Warum müssen sie alle sterben? O Gott, erbarme dich unser!« Dann zog sie plötzlich die Schürze herab und sagte: »Der Fremde muß ein Frühstück erhalten – wer weiß, was sie ihm im Wirtshaus drüben gegeben haben! Setze alles zurecht, Jomfru; ich will frischen Kaffee kochen, Speck und Kartoffeln braten.«

Frida erschrak förmlich über den schroffen Übergang aus tiefer Trauer in das alltäglichste Leben, aber sie sah ein, daß die ländliche Gastfreundschaft solche Rücksichten verlange, und daß sie Sigrid diese kleinlichen Sorgen ersparen müsse. Sie deckte deshalb aufs neue den Tisch und setzte sich hin, um in trauriger Spannung auf das Erscheinen der anderen zu warten.

Endlich öffnete sich die Tür, und gefolgt von einem jungen Mann trat Sigrid ein. Die totenblassen Züge des Mädchens waren wie versteinert und glichen mehr als je einer Statue; in den geisterhaft blickenden großen Augen war keine Spur von Tränen zu erkennen. Frida ging auf sie zu und küßte sie. »Liebe Sigrid,« flüsterte sie, »was für ein Schmerz – Gott helfe dir!«

Die andere schien sie kaum zu hören; sie stellte die beiden einander vor, und obgleich ihre Stimme unnatürlich hohl klang, so zitterte sie doch nicht. »Ich werde meinen Großvater rufen,« sagte sie und verließ mit ruhigem Schritt und fester Haltung das Zimmer. Mr. Howard sah ihr mit einem Blick tiefster Teilnahme nach, dann wandte er sich zu Frida. »Ich habe Ihnen Grüße von Ihren Schwestern zu bringen,« sagte er höflich; »ich war kürzlich in Straßburg und komme eben von Ivy-Lodge.«

Das junge Mädchen sah ihn in grenzenloser Überraschung an, dann streckte sie ihm beide Hände entgegen. »Sie sind Mauds Bruder!« rief sie – »Sie kommen von meiner Ilse – Sie haben Gertrud gesehen – o bitte, erzählen Sie mir von allen meinen Lieben! Was macht mein Nichtchen, die kleine Dolores – wie geht es Ilse? – Aber nein,« unterbrach sie sich selbst, »reden Sie nicht davon – es ist zu selbstsüchtig, in diesem Augenblick an etwas anderes zu denken als an die große Trauer, die dieses Haus getroffen hat.«

Hier kam Herr Holmböe zurück und bat Mr. Howard, ihm genau zu berichten, wie sich das Ende seines Enkels zugetragen habe. Er beschattete sein Gesicht mit der Hand und hörte mit regungsloser Aufmerksamkeit zu, während Frida die Erzählung mit heißen Tränen begleitete. »Haben Sie Dank,« sagte der alte Herr, als jener geendet hatte, mit einem kräftigen Händedruck. »Wollte, ich könnte Ihnen noch einmal besser danken als durch bloße Worte. Bitte statt dessen noch eins von Ihnen: bleiben Sie ein paar Tage bei uns; soll mir eine Ehre sein, einen so braven Mann und echten Christen unter meinem Dach zu haben.«

Mr. Howard nahm die schlichte Einladung dankbar an; er wollte zwar mit dem nächsten Dampfer, der von Bergen herabkam, nach England zurückkehren, aber bis dahin waren noch zwei Tage Zeit. Er verabschiedete sich auf eine kurze Weile, um sein Gepäck sowie die Kisten, die Olafs Hinterlassenschaft enthielten, aus dem Gasthause nach Krokengaard herüberbringen zu lassen. Unterdessen kam Sigrid wieder; sie hatte ein schwarzes Kleid angelegt, mit weißen Streifen am Halse und an den Händen, die Zeichen tiefer Trauer in Schweden. Ihr Großvater ging ihr entgegen und drückte ihr die Hand. »Armes Kind!« sagte er sanft; »ist ein Jammer um das junge Blut – aber wie Gott will! Müssen uns unter Seine gewaltige Hand beugen, denn Er ist allein der Herr über Leben und Tod!«

In Sigrids Antlitz zeigte sich keine Bewegung; sie fragte in ruhigem Ton nach Mr. Howard, und als sie hörte, daß er ihr Gast bleiben würde, ging sie zu Signe, um die nötigen Anordnungen zu treffen. Fridas Anerbieten, ihr alle häuslichen Geschäfte abzunehmen, lehnte sie entschieden, aber nicht unfreundlich ab und erfüllte auch bei Tische alle Hausfrauenpflichten mit gewohnter Ruhe und Würde; nur kam kein Wort über ihre blassen Lippen. So verging der Tag, ohne daß Frida Gelegenheit zu einem vertraulichen Austausch gefunden hätte; auch beim Schlafengehen wußte Sigrid jede Aussprache abzuwehren. Solange Mr. Howard noch da war, schien sie nur für ihn Auge und Ohr zu haben; waren ihre häuslichen Geschäfte erledigt, so nahm sie ihn völlig in Beschlag und ließ sich immer wieder jeden Augenblick seines Zusammenseins mit ihrem Bruder schildern, jedes Wort, das Olaf gesprochen hatte, wiederholen, um diese letzten Spuren des teuersten Lebens ihrem Gedächtnis unauslöschlich einzuprägen.

Nur zu schnell waren die beiden Tage verflossen, und Mr. Howard mußte Abschied nehmen. Sigrid begleitete ihn bis zum Dampfschiff; als sie zurückkehrte, erschrak Frida über den Ausdruck starrer Verzweiflung, der sich in ihren Zügen malte. Dennoch wagte sie es nicht, der Freundin in ihr Zimmer zu folgen; erst als Stunde auf Stunde verrann, als auf ihr anfänglich schüchternes, dann immer lauteres Klopfen keine Antwort erfolgte, trat Frida ein. Ihr erster Blick fiel auf Sigrids Gestalt, die am Boden ausgestreckt lag, regungslos, in tiefer Ohnmacht. Es dauerte lange, bis sie mit Signes Hilfe ins Leben zurückgerufen werden konnte; alle Kraft schien aus dem Körper entwichen, sie war hilflos wie ein Kind. Doktor Magnus Alsen, der nach einigen Stunden erschien, schüttelte unwillig den Kopf. »Was habt ihr mit meinem Prachtmädel angefangen?« fragte er zürnend. »Sie hat über ihrem Kummer Essen und Trinken vergessen, wie es sich von selbst versteht, und keiner von euch hat für sie gesorgt und ihr das zugeführt, was der Leib brauchte. Wozu seid ihr alle da? Wenn ihr gewaltiges Herzeleid sie tötet, ist es eure Schuld! Denkt ihr, ein echtes Nordlandsweib wie dieses empfände seine Schmerzen wie Nadelstiche, die kaum die Haut ritzen und im Nu wieder geheilt sind? Nein, es sind Wunden, die bis ins Mark dringen, und aus denen das Herzblut strömt!« –

Nur wenig Tage beugte sich Sigrids Körper unter dem Schlage, den ihre Seele empfangen hatte; dann stand sie auf und war anscheinend wieder, was sie gewesen war: die tätige, umsichtige Hausfrau, die vorsorgliche Großtochter, die freundliche Hausgenossin. Von ihrem Verlust konnte sie nicht sprechen; auf alle teilnehmenden Fragen und Erkundigungen hatte sie nur die eine abwehrende Antwort: »Ihr habt ihn ja doch nicht gekannt.« Ihre einzige Befriedigung fand sie in der Beschäftigung mit den Schriftstücken, die Olaf hinterlassen hatte; bis tief in die Nacht hinein saß sie über seinen Tagebüchern, entzifferte sie und schrieb sie ab, um sie mit seinen Sammlungen der Universität seines Vaterlandes zu übergeben. Zwischen ihr und ihren Freunden stand ihr stummer Gram wie eine unübersteigliche Mauer. »Kommen Sie recht oft zu uns,« bat Frida Arved Lundholm, »wenn einer Sigrid trösten kann, so sind Sie es.«

»Ich?« fragte er sehr erstaunt; »mit welchem Rechte dürfte ich mich in das Heiligtum ihres Kummers drängen? Doch wenn Sie es wünschen, Frida, komme ich immer gern.«

Er kam wie ein treuer Freund des Hauses zu jeder Zeit und wurde von Herrn Holmböe und Frida stets mit Freuden begrüßt; aber wenn diese ganz aufrichtig gewesen wäre, so hätte sie eingestehen müssen, daß Sigrid von seiner Unterhaltung am wenigsten genoß, und daß der Löwenanteil davon immer auf sie selbst fiel.


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