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Drittes Kapitel.
Der erste Tag am Hardanger Fjord


Als Frida am nächsten Morgen die Augen aufschlug, schien die Sonne hell und warm in ihr Stübchen, in dem es überaus einfach, aber höchst sauber und freundlich aussah. Die getünchten Wände, die weißen, fichtenen Dielen und die schneeigen Vorhänge leuchteten förmlich im Sonnenschein, doch mußte sie sich erst eine ganze Weile besinnen, wo sie eigentlich war. Als sie noch in träumerischem Behagen ihre Gedanken verfolgte, hob die große alte Uhr, die unten auf dem Hausflur stand, zum Schlagen aus; laut und deutlich klang der Ton durch das ganze Haus, und mechanisch zählte die Träumerin die Schläge, die gar kein Ende nehmen wollten. »Neun Uhr!« rief sie endlich in hellem Entsetzen, und ihr lauschend erhobener Kopf sank in Verzweiflung aufs Kissen zurück. »Was wird Onkel Nils von mir denken – was für ein Anfang in einem fremden Hause!« Sie stand eilends auf und öffnete vorsichtig die Tür zum Nebenzimmer, das Sigrid bewohnte; es war leer, aber die zierliche Ordnung, die schon darin herrschte, war ihr ein neuer Vorwurf. Eine halbe Stunde später trat sie, glühend vor Eile und Beschämung, auf den bedeckten Vorplatz hinaus, wo Herr Holmböe mit einer kurzen Pfeife im Munde bei seiner Zeitung saß. Er war so vertieft, daß er ihr Erscheinen gar nicht zu bemerken schien; sie schlich deshalb geräuschlos an seine Seite und legte ihre Hand leicht auf seine Schulter. »Guten Morgen, Onkel Nils!« sagte sie leise und etwas beklommen.

Er sah auf und blinzelte sie mit gut gespieltem Erstaunen an. »Potztausend – so früh schon aufgewacht, du Siebenschläfer? Dachte wirklich, wir sollten heute auf das Vergnügen deiner Gesellschaft ganz verzichten!«

Sie kniete neben ihm nieder und deckte seine große, kräftige Hand über ihre Augen. »Seien Sie dem Faulpelz nicht böse, Onkel Nils,« bat sie demütig, »er wagt es gar nicht, Ihnen ins Gesicht zu sehen, aber er will's gewiß nicht wieder tun.«

Sie sah so zerknirscht aus, daß der alte Herr liebkosend über ihr glattes, braunes Haar fuhr. »Na, laß es gut sein, Kleine,« sagte er tröstend, »war nicht so bös gemeint. Habe ja selbst Befehl gegeben, deine Ruhe nicht zu stören. Aber nun mach schnell, daß du frühstückst; will dich gleich mit meinem Krokengaard bekannt machen.«

In diesem Augenblick trat Sigrid aus der Tür; sie war in eine ländliche Tracht gekleidet, die das stolze Ebenmaß ihrer Gestalt prächtig hervortreten ließ. Der kurze dunkle Rock, der unten mit farbigen Streifen besetzt und von einer zierlich gestickten Schürze bedeckt war, ließ die niedrigen Schuhe und weißen Strümpfe sehen; aus dem hochroten Mieder quoll in dichten Falten das schneeweiße, am Halse geschlossene Hemd hervor, dessen bauschige Ärmel einen Teil der schön geformten Arme frei ließen. Um den Kopf hatte sie ein buntes Tuch geschlungen, unter dem die breiten, goldigen Flechten über den Rücken herabfielen; ihre Wangen waren lebhaft gerötet, was die blendende Weiße ihrer Haut noch mehr hervorhob. Die Leichtigkeit, mit der sie ein vollbesetztes Teebrett in den erhobenen Händen trug, gab dem Beschauer den Eindruck der blühendsten Jugendkraft, und das Ganze bot ein so reizendes Bild dar, daß Frida unwillkürlich ausrief: »O Sigrid, wie schön bist du!«

»So sind unsere nordischen Mädchen alle,« sagte Herr Holmböe, indem er die Enkelin mit einem wohlgefälligen Blick streifte. »Sie ist ein echtes Kind des norwegischen Landes.«

»Oder vielmehr des schwedischen,« warf Sigrid ruhig dazwischen; »ich bin eine Dalkulla, denn mein lieber Vater war ein rechter Sohn von Dalekarlien, das sich des schönsten und kräftigsten Menschenschlages von ganz Skandinavien rühmen darf.«

Es lag keine Spur von persönlicher Eitelkeit in diesen Worten, nur der frohe Stolz auf die Heimat, das Hochgefühl, einem bevorzugten Stamme anzugehören; aber ihr Großvater schien wenig damit einverstanden, denn ein dunkler Schatten flog über sein Gesicht. »Hoffe doch, du wirst das gut norwegische Blut deiner Mutter nicht verleugnen wollen,« sagte er herbe, indem er aufstand, um ins Haus zu gehen.

Während Sigrid einen Korb mit Fladbröd – den beliebten, ganz dünn ausgerollten und hartgebackenen Platten aus Hafer- oder Erbsenmehl – und frische, goldgelbe Butter vor Frida hinstellte und ihr den Kaffee einschenkte, sagte jene nachdenklich: »Dein Großvater schien erzürnt; er hört es wohl nicht gern, wenn du dich eine Schwedin nennst?«

»Es ist eine seiner Eigentümlichkeiten,« erwiderte die andere achselzuckend, »daß er neben dem norwegischen Volk kein anderes als ebenbürtig gelten läßt. Leider haben seine Töchter diese ausschließliche Vorliebe nicht geteilt; meine Mutter heiratete einen Schweden, meine Tante einen Engländer. Die eine verlor darüber einen guten Teil der väterlichen Liebe, die andere wurde verstoßen, und der Großvater steht in seinem Alter allein da.«

»Aber er hat doch dich,« sagte Frida voll tiefster Teilnahme.

»Für wie lange?« war die Antwort. »Sobald mein Bruder von seiner Studienreise heimkehrt, ziehe ich zu ihm und führe ihm die Wirtschaft – das ist eine alte Verabredung zwischen uns beiden, und Olaf wird sicher nirgend anders als in einer Universitätsstadt leben wollen.«

»Armer Onkel Nils!« flüsterte Frida mit gefalteten Händen. »O wie leid tut er mir – wie muß er unter solchem Zwist gelitten haben – er hat solch ein gutes, warmes Herz!«

»Aber einen Eisenkopf!« sagte Sigrid ernst, »und wo der ins Spiel kommt, da brechen Liebe und Güte in Stücke.«

»Bist du fertig, Kleine?« rief Herrn Holmböes Stimme ziemlich ungeduldig in das Gespräch hinein, »oder soll ich noch länger warten?«

»Ich komme schon!« rief das junge Mädchen, indem sie hastig aufsprang und ihren Hut aufstülpte. Sie hängte sich zutraulich an den Arm des alten Herrn, denn obgleich Sigrids Worte ihr noch im Ohre nachtönten, so mochte doch ihr Herz nicht daran glauben, und wieder stieg es aus ihrem Innersten wie ein Gelübde empor, durch ihre Liebe und Hingebung etwas von dem Herzeleid gutzumachen, das diesem braven Manne durch seine Nächsten bereitet worden war.

Holmböes Stirn heiterte sich bald wieder auf, als er seinen Gast auf dem Hofe umherführte und inne wurde, daß Frida dem, was er zu zeigen und zu sagen hatte, Teilnahme und Verständnis entgegenbrachte. Der Hof hatte eine vortreffliche Lage, da ansehnliche Berge ihn gegen Norden schützten; die Gebäude waren sämtlich aus Holz errichtet, aber die Balken waren so fest gefugt und die Ritzen so sorgfältig durch schmale Latten gedeckt, daß der Wind keinen Spalt fand, durch den er hätte eindringen können. Mit Stolz wies Holmböe auf seine zehn Pferde, einen seltenen Besitz in Norwegen, dessen sich nur wohlhabende Leute rühmen können, auf die Schafe und die fünfzig Milchkühe, die in wenig Tagen auf die Säter hinaufziehen sollten, das heißt auf die Weideplätze hoch oben in den Bergen, wo man kein Getreide mehr bauen kann, wo aber zwischen Felsen, Seen und Mooren üppiges Gras und würzige Kräuter wachsen, die der Milch einen besonderen Wohlgeschmack geben.

»Gehe zweimal im Sommer selbst hinauf, um nach dem Vieh und den Säterinnen zu sehen,« sagte der alte Herr.

»Darf ich Sie dorthin begleiten?« fragte Frida.

»Sollst willkommen sein, Kleine, wenn du Mut hast und den Weg nicht scheust – ist schön dort oben in der wilden Freiheit. Gehört aber ein langer Atem dazu, um hinauf zu gelangen.«

»Wo stecken denn Lars und Thorkel?« fragte das junge Mädchen; »ich dachte, ich würde sie hier treffen und begrüßen können.«

»Sind draußen auf dem Felde bei den Leuten.«

»Sind sie Ihre Knechte, Onkel Nils?«

»Keineswegs; sind freie Bauern, die ihr eigenes Gütchen, ein Pferd und ein paar Kühe besitzen. Ist aber zu wenig, um die ganze Familie zu ernähren, deshalb haben sie, wie ihr Vater und Großvater vor ihnen, noch die Bewirtschaftung von Krokengaard übernommen. Mußt einmal die alte Mutter Brita besuchen, drüben in Bunserud – ist eine gar wackere Frau, und ihre Töchter Karin und Ambjör sind zwei schmucke Dirnen. Ziehen nächste Woche mit meinen und ihren Kühen als Säterinnen auf die Berge. Arbeiten muß jeder in Norwegen, Kleine; von selbst fällt uns nichts in den Schoß, aber dem, der sich redlich müht, gibt unser Herrgott soviel er braucht; wirst wenig Bettler hier finden, soweit die Fjorde reichen und sich die alten Berge im grünen Wasser spiegeln. Nun komm da hinauf, Kind – will dir einen Sitz zeigen, wie kein König auf Erden einen schöneren hat.«

Frida folgte willig, aber die Mittagssonne brannte heiß, der schmale Pfad war steil und mit Steinen und Geröll bedeckt, die unter jedem Tritt nachgaben. Sie unterdrückte manchen Seufzer, während sie mühselig dem sicher Voranschreitenden nachkletterte, und sank ganz erschöpft auf eine Bank, die oben, im lieblichen Schatten überhängender Birken, aus rohen Steinen errichtet war. Aber alle Müdigkeit war vergessen, als sie ihren Blick auf dem Landschaftsbilde ruhen ließ, das sich vor ihr ausbreitete. Zu ihren Füßen lag zwischen Laubholz und Tannengrün Krokengaard mit seinen schmucken Gebäuden und dem Garten, dessen zahlreiche Kirschbäume mit weißem Blütenschnee überdeckt waren; noch tiefer der Wasserspiegel des Fjords, auf dem einige Kähne hin und wieder zogen. Drüben aber, am jenseitigen Ufer, stiegen die stolzen Berge empor, deren Schneehäupter sich mit entzückender Klarheit gegen den tiefblauen, leuchtenden Himmel abzeichneten, während rechts in weiter Ferne das offene Meer im hellen Sonnenschein glitzerte. Zu ihrer Linken rauschte und brauste ein munterer Bach, der lustig über die Steine hüpfte und so klar war, daß man jeden Kiesel auf seinem Grunde zählen konnte; zuweilen schien er zwischen Moos und Wiesenblumen zu verschwinden, dann sprang er plötzlich so jäh über eine Felsstufe, daß der Schaum ringsum aufsprühte und im Sonnenlicht in den schönsten Regenbogenfarben erglänzte.

Die beiden saßen eine Weile da, stumm versunken in den herrlichen Anblick; dann brach der alte Herr das Schweigen. »Habe oft hier gesessen in meinem Leben,« sagte er halblaut, als spräche er mehr zu sich als zu einem andern, »allein mit meinem Herrgott – habe Ihn gefragt, was das Rechte wäre, und Er hat mir geantwortet, klar und deutlich. Aber die anderen wollten es nicht glauben – gingen lieber ihre eigenen Wege – haben Kummer und Not darauf gefunden, die ich ihnen gern erspart hätte. Schalten noch auf den hartköpfigen Alten, der ihnen nicht den Willen tat. Vorbei, vorbei! Den Toten ist nicht mehr zu helfen – werden es droben wohl erkennen, ob ich's nicht gut mit ihnen meinte.«

Frida lauschte in atemloser Spannung; sie zweifelte nicht, daß er von seinen Töchtern spräche, und sie hätte viel darum gegeben, die traurige Geschichte aus seinem eigenen Munde zu hören. Aber als sie von der Seite einen scheuen Blick auf ihn warf, sah sie auf seinem Gesicht einen Ausdruck so tiefer Trauer, daß sie sein feierliches Sinnen nicht zu unterbrechen wagte, sondern in ehrfurchtsvollem Schweigen verharrte.

Von unten her erklang der Ton einer Glocke; Holmböe stand auf und reckte sich, als müsse er die trüben Gedanken von sich abschütteln. »Mittagszeit, Kleine!« sagte er in seinem gewöhnlichen Ton, »müssen eilen, damit Sigrids Gerichte nicht kalt werden – hat gewiß etwas besonders Gutes für den Gast bereitet.« Das Herabsteigen wurde dem jungen Mädchen noch viel saurer als der Aufstieg; ein paarmal glaubte sie das Gleichgewicht zu verlieren und hinabzustürzen; dann klammerte sie sich angstvoll an ihren Begleiter, der ihr ruhig zurechthalf. Er selbst schien von einer Beschwerde nichts zu merken, denn die Gewohnheit eines langen Lebens hatte ihn mit den Bergpfaden seiner Heimat völlig vertraut gemacht; die Bewohnerin der Ebene aber dachte mit einigem Grauen an das Besteigen der hochgelegenen Säter, das sogar der Eingeborene für beschwerlich erklärte.

Als sie im Hause ankamen, fanden sie den Tisch gedeckt und Sigrid, jetzt in städtischer Kleidung, ihrer harrend, und obgleich Frida todmüde war und ihre Knie zitterten, so fühlte sie sich doch etwas beschämt darüber, daß sie den ganzen Vormittag ihrem Vergnügen gewidmet hatte. »Heute bin ich noch Gast bei euch,« sagte sie entschuldigend, »aber von morgen an mußt du mich als Haustochter betrachten und mir erlauben, an allen deinen Arbeiten teilzunehmen.«

»Gern,« erwiderte Sigrid freundlich; »wenn ich in wenig Tagen Karins Hilfe verliere, wird mir die deine sehr willkommen sein.«

Das Mittagsessen war einfach aber schmackhaft; das Hauptgericht bildeten köstliche Fische aus dem Fjord, und den Schluß machte die beliebte »Gröt«, ein dicker Brei von Grütze, der mit süßer oder saurer Milch gegessen wird und auf keinem ländlichen Tische in Norwegen fehlen darf. Nach dem Essen führte Sigrid ihren Gast im ganzen Hause umher, um ihn mit allen Räumen, Küche und Keller bekannt zu machen. Überall herrschten Sauberkeit und Ordnung, und die gediegene Einfachheit der ganzen Einrichtung war voll Geschmack und Behagen. Im Wohnzimmer stand ein Klavier, darüber hingen ein paar gute Kupferstiche; überall sah man hübsche Tapeten, duftige Gardinen und bunte Teppiche. Am besten gefiel Frida das Arbeitszimmer des Hausherrn, in dem zwei Wände mit wohlgefüllten Bücherschränken besetzt waren, während der runde Tisch in der Mitte mit Zeitungen und Zeitschriften in verschiedenen Sprachen und einigen neu erschienenen Büchern bedeckt war. »Seid ihr hier so fleißige Leser?« fragte sie, angenehm überrascht.

»Gewiß,« erwiderte Sigrid; »zwar der Sommer bringt nicht viel Muße dazu, aber der Winter desto mehr. Wir sind hier oft wochenlang von der Außenwelt abgeschnitten, da müssen unsere Bücher uns Gesellschaft leisten. Bei Musik und einem guten Buch ist auch ein langer, einsamer Abend nicht langweilig und ermüdend.«

In der geräumigen Küche waren zwei Personen mit Reinigen der Schüsseln und Töpfe beschäftigt; die eine war Signe, die alte Magd, die schon seit undenklichen Zeiten zum Hause gehörte, die andere Karin Bunserud Rolfsdatter – wie sie sich mit ihrem vollen Namen nannte, denn die Bauern in Norwegen führen selten einen anderen Familiennamen als den ihrer Besitzung. Sie war ein hübsches, kräftiges Mädchen mit beinahe weißen Haaren, welche die Fremde mit zutraulicher Herzlichkeit begrüßte. Ihre hellen Augen und blendend weißen Zähne glänzten so heiter und freundlich, daß Frida sehr bedauerte, ihre Worte nicht verstehen und beantworten zu können; doch erwiderte sie deren biederen Händedruck mit gleicher Wärme. »Was für ein erbärmlich kleiner Knirps bin ich unter euch!« sagte sie halb beschämt; »ich kann nur aus meiner Tiefe ganz ehrfürchtig zu euch allen emporsehen.«

Sigrid übersetzte die Worte, und die beiden brachen in ein herzliches Lachen aus, indem sie sich zugleich bemühten, der Fremden ihr großes Wohlgefallen an ihrer Erscheinung kundzutun.

Als die kleine Hausgesellschaft später beim Kaffee saß, tönte Hufschlag auf dem Hofe, und alsbald erschien ein junges Paar, das von Großvater und Enkelin sehr herzlich begrüßt und Frida als die Geschwister Lundholm, nahe Freunde und Nachbarn, vorgestellt wurde. Der Bruder, Arved, mochte eben die Mitte der Zwanzig überschritten haben, doch trug seine Erscheinung schon das Gepräge reifer Männlichkeit; die Schwester, Ingeborg, war wohl um zehn Jahre jünger, und ihre hastigen, eckigen Bewegungen, die Mischung von Scheu und Harmlosigkeit in ihrem Wesen gaben ihr das Ansehen eines großen Kindes. Sie schüttelte Frida kräftig die Hand und betrachtete sie mit forschendem Blick; dann wandte sie sich schnell ab und zog Sigrid auf die Seite.

»Ich konnte es vor Neugier nicht mehr aushalten, ich mußte eure neue Hausgenossin sehen,« sagte sie in ziemlich vernehmlichem Flüsterton; »deshalb quälte ich Arved so lange, bis er mit mir herritt. Wie gefällt sie dir? Sie sieht sehr fein und zart aus, viel zu zart für dieses rauhe Land, aber sie hat ein liebes Gesichtchen. Bleibt sie auch den Winter bei euch? – spricht sie Norwegisch? – ist sie so gelehrt, wie die deutschen Mädchen alle sein sollen? – muß ich mich sehr vor ihr in acht nehmen, oder ist sie gutmütig und freundlich?«

»Zu viele Fragen, liebe Inge, sie in einem Atem zu beantworten,« erwiderte Sigrid lächelnd; »auch würde es sich nicht schicken, wenn wir hier noch länger flüsterten. Lerne Frida kennen und urteile für dich selbst. Da sie jedoch unsere Sprache nicht versteht, so müssen wir uns einer anderen bedienen.«

»O Sigrid, nur nicht Deutsch – ich bitte dich! Ich spreche es so schlecht und möchte mich vor der Fremden nicht gleich in meiner ganzen Unwissenheit zeigen.«

»So wollen wir es mit Englisch versuchen; das wird wohl uns allen ziemlich geläufig sein.«

Kaum hatte man sich gesetzt, als noch ein Gast eintraf; es war die Tochter des Propstes Fahlström, die die Stellung einer Lehrerin an der Volksschule des Bezirks bekleidete und mit Sigrid sehr befreundet war. Die Unterhaltung war bald im Gange; es war ein buntes Durcheinander von norwegischen und deutschen, englischen und französischen Worten, denn jeder half sich so gut er konnte; aber man verständigte sich ganz gut, und das babylonische Gewirr erhöhte noch die heitere Stimmung. Frida staunte über die gediegene Bildung, die sich bei allen diesen Bewohnern einer weltfremden Gegend kundgab; die Mädchen hatten sämtlich gute Schulen in Stockholm, Christiania und Bergen besucht, Arved Lundholm war auf einer landwirtschaftlichen Akademie gewesen und hatte Reisen nach Dänemark und England gemacht. Alle hatten offenbar viel gelesen und ernsthaft nachgedacht und zeigten ein lebhaftes Interesse für wissenschaftliche Fragen und die Zustände des Landes; dabei aber standen alle mitten im tätigen Leben, und keiner fand es unter seiner Würde, in Haus und Wirtschaft zu arbeiten und mit eigenen Händen zuzugreifen.

Es fiel Frida auf, daß sich die Geschwister Lundholm in ihrem Aussehen wesentlich von den anderen unterschieden; Haare und Augen waren dunkel, der ganze Schnitt der Gesichtszüge kam ihr anders vor, auch waren die Gestalten nicht so hünenhaft. Sie heftete ihre Augen prüfend auf das edle, belebte Gesicht des jungen Mannes, der gerade in eifrigem Gespräch mit Herrn Holmböe war, da sie sich ganz unbeobachtet glaubte; aber er mußte ihren aufmerksamen Blick fühlen, denn er wandte sich plötzlich zu ihr und sah sie fragend an. Frida stieg das Blut in die Wangen; es kam ihr vor, als wäre sie auf einer argen Unhöflichkeit ertappt worden. »Verzeihen Sie,« stammelte sie, »ich – Sie – Sie sind wohl nicht in Norwegen geboren?«

»Ei gewiß, Fräulein Stein,« erwiderte er lachend, »Sie werden mir doch mein Vaterland nicht rauben wollen? Ich habe in Ulvik, eine Meile von hier, das Licht der Welt erblickt und hoffe dort zu leben und zu sterben.«

»Was bringt dich auf den Gedanken, Kleine?« fragte Holmböe, ebenfalls lachend.

»Ich dachte, alle Skandinavier müßten blondes Haar und blaue Augen haben,« stammelte Frida in großer Verwirrung, als sie alle Blicke auf sich gerichtet sah.

»Nur die, welche von den Goten abstammen,« erklärte der alte Herr; »aber in unseren Freunden hier fließt echt normännisches Blut. Die Normannen waren noch vor den Goten da.«

»Sagt man doch, daß sie die Nachkommen der alten Asen seien,« fiel Arved ein; »die aber waren in der Urzeit aus Asien herübergekommen und dann immer höher und höher nach Norden gezogen, bis sie in Norwegen und Island die wahre Heimat fanden und sich hier ihr Walhall erbauten. Sie sehen, Fräulein Stein,« fügte er lächelnd hinzu, »wir rühmen uns alten Geschlechtes und vornehmer Herkunft, obgleich wir keinen Adel mehr unter uns haben.«

Seine heitere Unbefangenheit gab auch ihr die Fassung wieder, und da ihr der Gegenstand neu und anziehend war, so entstand eine sehr angeregte Unterhaltung darüber. Dann standen die beiden Herren auf, um die Wirtschaft zu besichtigen, während die Mädchen paarweise im Garten spazieren gingen. Ingeborg nahm Frida in Beschlag; sie hatte eine plötzliche Zuneigung für diese gefaßt und ließ nun, unbeaufsichtigt von den älteren Genossinnen, ihrer Zunge freien Lauf. »Ist es nicht schön hier?« begann sie ihr Geplauder. »Ich denke, es kann nirgends schöner sein und hoffe, es wird Ihnen auch gefallen, und Sie werden recht lange bei uns bleiben. Natürlich müssen Sie sehr bald nach Ulvik kommen und uns besuchen; meine Mutter wird sich freuen, Sie kennen zu lernen. Wie gefällt Ihnen Sigrid? Ist sie nicht ein prächtiges Mädchen, und paßt sie nicht herrlich zu Arved? Ich denke, sie sind füreinander geschaffen ...«

»Sind sie verlobt?« schob Frida ganz überrascht dazwischen.

»Das noch nicht, aber es wird wohl nicht lange mehr dauern; sehen Sie es ihm nicht an, wie gern er sie hat? Onkel Holmböe und meine Mutter wünschen es dringend, das weiß ich, und was könnte sich Arved Besseres wünschen? Im ganzen Hardanger Lande gibt es keine zweite wie sie.«

»Aber sie sagte mir, sie wolle später zu ihrem Bruder ziehen,« warf Frida ein.

»Das wird sie wohl bleiben lassen; solche Pläne scheitern immer, wenn der Rechte kommt,« meinte Ingeborg altklug. »Sehen Sie, unsere Familien sind schon seit undenklicher Zeit befreundet; Onkel Nils' jüngster Sohn war Arveds bester Freund.«

»Hat Onkel Nils einen Sohn? von dem habe ich noch nie gehört.«

»Er hatte sogar zwei; der älteste, auf den ich mich gar nicht besinne, kam bei einem Schiffbruch ums Leben; der jüngste starb am Typhus, als er auf der Schule war, und Tante Sigrid, die ihn gepflegt hatte, erlag wenig Wochen später derselben Krankheit.«

»O wie jammervoll!« rief Frida tief ergriffen; »wie lange ist das her?«

»Zehn Jahre etwa; ich war noch ein kleines Kind, aber nie vergesse ich den Schmerz des armen Onkels; er war wie versteinert und wurde erst nach Jahren wieder heiterer, doch glaube ich, derselbe wie früher ist er nie mehr geworden.«

»Und dann blieb er ganz allein!« sagte Frida traurig. »Die Töchter müssen doch schon verheiratet gewesen sein.«

»Jawohl, schon ehe ich geboren wurde. Aber auf Erik besinne ich mich deutlich – er hatte so schöne goldene Locken und war immer so lustig und nannte mich sein kleines Bräutchen. Aus der Sache ist leider nichts geworden; um so mehr freue ich mich auf Arveds Heirat – wird es nicht reizend sein, Sigrid als Schwester im Hause zu haben? Meine eigenen Schwestern sind lange verheiratet, ich bin die allerjüngste, ganz allein mit Mutter und Bruder, und denke mir das tägliche vertrauliche Zusammenleben so schön! – Haben Sie auch eine Schwester?«

Frida traten die Tränen in die Augen, als sie an Ilse dachte; sie erzählte ihrer neuen Bekannten vom Vaterhause und den Geschwistern; ihr ging das Herz dabei auf, und die andere war eine teilnehmende Zuhörerin. Als die Gäste aufbrachen, hatte sich um die beiden jungen Mädchen schon ein Band zärtlicher Freundschaft geschlungen; sie küßten sich herzlich und sprachen beide den warmen Wunsch eines baldigen Wiedersehens aus.

Abends rief Herr Holmböe seine Hausgenossen in sein Arbeitszimmer und las ihnen einen Abschnitt aus der Bibel und ein kurzes Gebet vor, dann sagte man sich Gute Nacht und ging auseinander. Die Andacht war unendlich schlicht und einfach, die Worte waren Frida obenein unverständlich, dennoch wehte sie ein Hauch von Frieden und inniger Gemeinschaft daraus an, der sie in der Fremde heimatlich berührte. Es war ein reicher Tag gewesen, und sie legte sich mit dem Gefühl zur Ruhe, als hätte sie schon wochenlang am Hardanger Fjord gelebt.


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