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An einer der Inseln ließ der Dampfer sein schrilles Pfeifen ertönen; bald kamen mehrere Kähne hinter den steilen Klippen hervor und legten bei dem Schiffe an, um aussteigende Reisende ans Land zu bringen. Hier verließ Herr Holmböe mit seiner Gesellschaft das Dampfboot, denn hier wohnte sein guter Freund, der Kaufmann Overland, der der Gatte seiner Nichte war. Erst als man dem Strande ganz nahe kam, wurde man gewahr, daß die Insel bewohnt war, denn alle Niederlassungen liegen tief versteckt hinter den Felsen, um sie gegen die Wut der Stürme und der aufgeregten Wellen zu schützen. Plötzlich tat sich ein überraschendes Bild vor den Reisenden auf: in einer tiefen Bucht lag ein hübsches Haus, im weiten Halbkreise von Bergen überragt und von Schuppen und Speichern umgeben; davor breitete sich ein saftiggrüner Wiesengrund aus, der beinahe bis an die Küste reichte. Ein sorgsam eingezäuntes Gärtchen, in dem einige Blumen prangten, verschiedene Sträucher mit halbreifem Beerenobst bedeckt waren und die Erbsen und Bohnen in Blüte standen, lag seitwärts und bot, mitten in dieser Felsenwildnis, einen überaus freundlichen Anblick dar. Jetzt strömte aus der Tür des Hauses die Familie hervor, um den Gästen entgegenzueilen; da war Herr Overland selbst, eine gedrungene Gestalt mit verwetterten Zügen und scharfblickenden Augen, denen man den klug berechnenden Handelsmann ansah, und seine Gattin, deren hagere, starkknochige Formen wohl von einem Leben voll schwerer Mühe und Arbeit zeugten, in deren Zügen aber ein herzgewinnender Ausdruck von Milde und Güte lag; dann kamen acht Kinder, vom stattlichen Jüngling und der erwachsenen Tochter an, die schon die Stützen der Eltern im Hause und im Geschäft waren, bis hinab zu dem zweijährigen Nesthäkchen, das noch unsicher auf den dicken Beinchen umherwackelte und die Fremden zuerst mit scheuem Staunen betrachtete, sich dann aber mit plötzlichem Vertrauen an Fridas Knie lehnte und ihr nicht mehr von der Seite wich. Die Lundholmschen Geschwister waren gar nicht angemeldet, aber sie wurden mit derselben Herzlichkeit empfangen wie die Erwarteten, denn in diesen nordischen Gegenden wird stets die wärmste Gastfreundschaft geübt, und die Ankunft von Gästen ist ein seltenes Fest für das ganze Haus.
Frida fühlte sich in diesem einfachen, glücklichen und gebildeten Familienkreise bald heimisch, denn er erinnerte sie lebhaft an das teuere ferne Vaterhaus; am meisten aber fühlte sie sich zur Hausfrau hingezogen, die ihr großes Gebiet mit Weisheit und Liebe beherrschte. In diesen weltfernen Gegenden stellt jedes Haus eine Welt im kleinen dar; es muß für die Befriedigung aller leiblichen und geistigen Bedürfnisse fast allein sorgen. Nicht nur Speise und Kleider muß die Hausfrau beschaffen, nein, sie muß für ihre Hausgenossen auch Lehrer, Prediger und Arzt sein, denn meilenweite Entfernungen trennen die Inselbewohner von allen gebildeten Menschen, und wilde Stürme, Eis und Schnee machen Wege und Wasserstraßen oft völlig unpassierbar. Die Mutter leitete den ersten Unterricht der Kleinen und führte die heranwachsenden Töchter, wenn sie von den Schuljahren wieder heimkehrten, in ihre Pflichten in Küche und Keller, am Webstuhl und an der Nähmaschine ein; sie sammelte alle Tage ihre Kinder am Klavier um sich und sang mit ihnen geistliche und weltliche Lieder; sie lehrte sie den Katechismus und erklärte ihnen die Bibel; sie pflegte mit treuer Sorgfalt in Großen und Kleinen das geistige Leben und machte sie in den langen Winterabenden mit den besten Werken der einheimischen und ausländischen Schriftsteller bekannt. Aber nicht nur im eigenen Hause gab es Arbeit in Fülle, auch noch vielen Menschen außerhalb war sie Ratgeberin und Freundin. Auf der Insel lebte ein bescheidenes Völkchen von Fischern und Ansiedlern, arme kleine Leute, die mühsam ihr Leben fristeten, denn ihre Hütten und Felder waren nicht einmal ihr Eigentum, sondern das des Herrn Overland, dem sie den Pachtzins dafür in Fischen bezahlen mußten. Alle diese schauten auf die Frau ihres Herrn wie auf ihren guten Engel, der ihnen in jeder Not beistand, ihre kranken Kinder gesund machte, ihre Sterbenden tröstete. Zwar gab es eine Kirche auf der Insel, aber sie stand den größten Teil des Jahres leer, denn der Pfarrer wohnte viele Meilen weit am Festlande und kam nur hin und wieder herüber; auch ein Schulmeister war da, aber da sein Unterricht vor allem für die Kinder der Fischer bestimmt war, so reichten seine Kenntnisse für die Söhne des Kaufmanns nicht weit.
Die junge Gesellschaft plante einen größeren Ausflug in die Berge; Harald Overland wollte Arved mit den Jagdfreuden seiner Heimat bekannt machen, die Mädchen wollten die jungen Leute bis zu einer gewissen Höhe begleiten und dann die schönsten Punkte aufsuchen, während sich die Knaben teils der einen, teils der anderen Partei anschließen sollten. Mit schwerem Herzen entschloß sich Frida, zurückzubleiben; ihr war der Weg auf die Säter noch in zu frischer Erinnerung, und sie fürchtete, die anderen, die an solche halsbrechende Wanderungen besser gewöhnt waren, nur aufzuhalten. Es kam ihr ganz leer im Hause vor, als jene in großer Frühe abgewandert waren und sie mit Frau Overland am Kaffeetische saß, nur umgeben von den drei jüngsten Sprößlingen der Familie, die für solche Unternehmungen noch zu klein waren. »Nun hefte ich mich an Ihre Fersen, Tante Matilda,« sagte sie scherzend; »heute werden Sie mich gar nicht los, denn ich will genau wissen, was der Tag von Ihnen verlangt.«
»Du sollst mir willkommen sein, Herzchen,« erwiderte die andere lächelnd, »und wer weiß, wozu es gut ist! Vielleicht bietet dir auf dieser Reise irgendein braver Nordländer Herz und Hand an.«
»Vielleicht!« lachte Frida. »Aber auch ohne das wird es mir nützlich sein, zu sehen, was eine Frau leisten kann. Macht es der lange Tag hier im Norden oder Ihre himmlische Güte, Tante Matilda, daß Sie mehr schaffen können als andere Leute?«
»Mit warmer Liebe im Herzen findet man zu vielem Zeit,« versetzte die andere freundlich, »und der liebe Gott segnet das aufrichtige Bestreben, Ihm zu dienen. Aber du mußt meine Tätigkeit nicht überschätzen, Kleine; es ist doch nur alles Stückwerk, und vieles bleibt unvollendet, weil es an der Kraft gebricht. Aber nun komm, ich muß in meine Wirtschaft gehen.«
Sie machten die Runde durch alle Räume; überall gab es anzuordnen und zu beaufsichtigen, hier zu loben und zu ermuntern, dort zu schelten und zu ermahnen, bis jedes Glied des weitläufigen Haushalts seine bestimmte Aufgabe vor sich hatte. Dann schloß Frau Overland eine geräumige Kammer auf, die zu ebener Erde in der Nähe der hinteren Haustür lag. »Ist das Ihre Vorratskammer?« fragte Frida, indem sie sich neugierig darin umsah. »Welche Fülle von Sachen ist hier aufgespeichert!«
»Dies ist mein Lieblingsstübchen,« erwiderte die Hausfrau vergnügt, »und hier bin ich jeden Tag um diese Stunde zu sprechen. Sieh, Kind, dies ist mein eigener Kramladen, in dem man alles nur für gute Worte erhält. Ein Kaufmann muß immer an seinen Vorteil denken und strenge Ordnung halten; er hat nicht Zeit, sich die einzelnen Käufer auf ihre Bedürftigkeit hin anzusehen. Im Geschäft muß der Grundsatz gelten: ohne Geld keine Ware. Damit aber die Liebe dabei nicht zu kurz komme, gibt mir mein Mann jährlich eine bestimmte Menge der nötigsten Dinge, und wer drüben im Laden abgewiesen wird, der kommt durchs Hintertürchen zu mir und klagt mir seine Not, und wenn sich's wirklich so verhält, dann gebe ich ihm, was er bedarf. So lerne ich die Leute genau kennen, kann ihnen nach besten Kräften helfen und ernte so viel Dank und Segenswünsche dafür ein, daß die Bezahlung mir oft überreich vorkommt.«
Es wurde schüchtern an die Tür geklopft, und herein trat eine Frau, die Frida unglaublich häßlich erschien; ihre unansehnliche, gebeugte Gestalt war in ein langes, loses Gewand von dunkelm, grobem Zeuge gekleidet, um ihr mageres, gelbliches Gesicht mit den vorstehenden Backenknochen und kleinen Schlitzaugen hingen lange, zottige Haare, die so aussahen, als wären sie mit Staub und Rost überschüttet und nur selten mit Kamm und Bürste in Berührung gekommen. Das Weib näherte sich Frau Overland mit kriechender Unterwürfigkeit und redete sie in einer Sprache an, die Frida nicht verstand; dann nahm sie einen Behälter ab, der an Stricken über ihrer Schulter hing und wie ein sehr langer Holzschuh geformt war. Sie legte ihn auf den Tisch, schnürte mehrere Decken ab und zog endlich ein nacktes, kleines Kind daraus hervor, das von der guten Dame sehr aufmerksam besichtigt und liebevoll gestreichelt wurde. Dann wurde das kleine Geschöpf sorgfältig wieder eingepackt, die Frau nahm eine Arzenei und einige Lebensmittel dankend in Empfang und verließ das Zimmer. »O, Tante Matilda, was für ein Wesen war das!« rief Frida, sobald sich die Tür geschlossen hatte. »Ich hätte mich vor ihr gegraut, wenn ich ihr allein begegnet wäre; ich sah noch nie ein solches Abbild einer leibhaftigen Hexe.
»Da denkst du gerade so wie die meisten meiner Landsleute, die diese armen Lappen wie unreine Tiere ansehen und tief verachten,« erwiderte Frau Overland mit sanftem Vorwurf. »Aber sind sie nicht auch liebe Kinder unseres himmlischen Vaters? Ist unser Heiland nicht auch für sie gestorben, und hat er ihnen nicht denselben Himmel aufgetan wie uns, die wir uns so gern als ein bevorzugtes Geschlecht betrachten?«
Eine lebhafte Röte bedeckte Fridas Wangen; sie beugte sich über die Hand der Sprecherin und küßte sie. »Verzeihen Sie mir, Tante Matilda,« sagte sie tief beschämt, »ich schwatzte in unwissender Gedankenlosigkeit. Wie gut sind Sie, daß Sie sich dieser Armen in gleicher Liebe annehmen wie aller anderen.«
»Ich kenne sie vielleicht besser in ihren bescheidenen Tugenden, als die, welche nur ihre abschreckende Außenseite sehen,« versetzte Frau Overland. »Ich sehe sie in ihren Hütten, den Fleiß der Weiber, welche die kleinen Äcker mühsam bestellen, die Netze stricken, oft selbst auf die See hinausfahren und daneben alle die vielen Kinder versorgen müssen – denn sie haben gewöhnlich ein Dutzend davon und manchmal noch mehr, und es ist wahrlich keine Kleinigkeit, so viel hungrige Mäuler satt zu machen und so viel frierende Leiber zu bekleiden! Ich sehe die Ehrfurcht, mit der sie ihre Alten, die treue Fürsorge, mit der sie ihre Kranken versehen; ich sehe, wie dieses arme Volk seine heranwachsenden Kinder in die Schule schickt, damit sie lesen lernen, wie sie ihre Bibel, ihr Gesangbuch hochhalten und in ihrem Glauben den einzigen Trost im Leben und Sterben finden. Soll mich das nicht duldsam gegen ihre Fehler machen? Zur Reinlichkeit in unserem Sinne sind sie freilich schwer zu bewegen, aber sie haben anhängliche, dankbare Herzen und vergessen nie das Gute, das man ihnen erwiesen hat.«
»Gehen die Lappenkinder wirklich in die Schule?« fragte Frida erstaunt.
»Gewiß!« war die Antwort. »Für unsere Schulen wird im ganzen Lande viel getan, und der Trieb zum Lernen ist in Skandinavien so groß wie wohl in keinem anderen Lande. Du wirst hier selten einen Menschen finden, der nicht lesen könnte, auch unter den Ärmsten nicht. Wir Norweger scheuen kein Opfer, um unseren Kindern eine gute Erziehung zu geben, denn wir betrachten diese als den besten Reichtum, den wir ihnen hinterlassen können.«
»Gibt es hier auch Renntiere?« fragte Frida weiter. »Ich habe noch keins gesehen, aber ich dachte, die wären von Lappländern ganz unzertrennlich.«
»Du meinst die Berg- oder Wanderlappen, aber die hausen mit ihren Herden nur auf dem Festlande und sind gewissermaßen die Aristokraten des großen Lappenvolkes. Unsere Fischerlappen sind nur ein bescheidener Zweig der ausgedehnten Familie und nicht einmal bei ihren reicheren Brüdern sehr angesehen.«
Der Lappin folgte noch mancher andere Besuch; mit jedem sprach Frau Overland freundlich und eingehend, oft auch ernst und ermahnend; zuweilen gab es sogar eine ordentliche Strafpredigt, aber keiner ging ungetröstet und unberaten und wenige unbeschenkt von ihr. Frida sah mit tiefer Ehrfurcht zu der schlichten Frau auf, die mit Wort und Tat so unermüdlich Gutes schaffte.
Der Mittagstisch war heute viel kürzer als in den ersten Tagen, da acht Personen fehlten, doch war er immerhin noch reich besetzt, denn die jungen Leute aus dem Geschäft aßen mit bei Tische. »Der Vormittag ist Ihnen wohl ohne Ihre jungen Freunde recht lang geworden, Fräulein Stein?« fragte Herr Overland.
»Im Gegenteil, er ist mir verflogen!« war die Antwort. »Ich habe viel von Ihrer lieben Frau gelernt – ich möchte ihr gern ähnlich werden.«
Der Kaufmann maß erst Frida, dann seine Gattin mit einem prüfenden Blick und lächelte. »Wird Ihnen schwer werden,« sagte er schmunzelnd.
»Ich meine ja nicht, daß ich ihre Höhe gleich erreichen will,« erwiderte Frida scherzend, »ich will ihr nur nacheifern.«
»Hast recht, Kleine,« nickte Herr Holmböe; »kannst dir gar kein besseres Vorbild erwählen als unsere liebe Matilda. Meine aber, zu solcher Frau gehört auch die ganze Umgebung; bist wohl ein zu zartes Pflänzchen für solchen rauhen Himmelsstrich – möchtest hier elend verkümmern!«
»O Onkel Nils!« rief Frida eifrig, »machen Sie mich nicht so schlecht und noch weniger dies schöne Land! Ich hätte nie gedacht, daß es in der kalten Zone so herrliche Sommertage gäbe, oder daß man hier süße Früchte von den Sträuchern pflücken könnte.«
»Ja, der kurze Sommer ist gut,« fiel Herr Overland ein, »aber die acht Monate unter Schnee und Eis möchten Ihnen wohl schlecht gefallen.«
»Ist es sehr schlimm damit? Friert das Meer ganz zu?«
»Nein, davor behütet uns der Golfstrom; das Meer bleibt, gottlob! immer offen, und die Schiffahrt bis über das Nordkap hinaus hört den ganzen Winter nicht auf. Aber der Schnee liegt oft bis zur Höhe der halben Fenster; die See rast, als wollte sie uns verschlingen, und der Sturm gibt uns zuweilen ein hundertstimmiges Konzert, bei dem einem die Ohren gellen – dann kann auch dem Kühnsten einmal bange werden.«
»Und dann die lange Finsternis,« meinte Frida schaudernd, »die wäre mir am schwersten zu ertragen.«
»Nun, ganz so arg, wie Sie denken, ist sie doch wohl nicht. Zwar geht vom 25. November bis zum 17. Januar die Sonne bei uns nicht auf, aber um die Mittagszeit lichtet sich die Dämmerung doch so weit, daß man für ein paar Stunden die Lampen auslöschen kann. Die langen Nächte aber werden durch das Nordlicht wunderbar erhellt; Sie sollten einmal sehen, wie prächtig das aussieht, wenn unser Herrgott selbst seine bengalischen Flammen anzündet und alle die Schneefelder und Eiszacken mit roter Glut beleuchtet – das ist schöner als das kostbarste Feuerwerk. Von der zweiten Hälfte des Januars bis zum April aber haben wir unsere glänzendste Zeit – da gibt es hier auf den Lofoten ein buntes Leben; wohl dreitausend Fremde wohnen auf den Inseln, und das Meer wimmelt von Schiffen.«
»Was suchen die hier?«
»Dann kommt der Kabeljau in unabsehbaren Zügen an diese Küsten, um zu laichen, und wird hier zu Millionen gefangen. In der Zeit wohnt der Vogt und ein Länsmann bei uns, auch ein paar Ärzte kommen her, und der Pfarrer aus Talvige zieht ganz zu uns herüber, um den Leuten das Wort Gottes zu predigen, denn am Sonntag ist alles Fischen streng verboten. Jeden Morgen um fünf Uhr zieht der Länsmann eine Flagge auf, und in demselben Augenblick tauchen sich Tausende von Rudern ins Wasser; dann fahren sie mit Netzen, Angelruten und Haken hinaus auf den Fischfang, und wenn der Tag gut ist, bringen sie bis Mittag wohl eine halbe Million Fische herein.«
»O Himmel, was geschieht mit solchen Massen?«
»Sie werden gesalzen oder getrocknet, und aus den Lebern wird der Lebertran bereitet. Das ist der Reichtum dieser Inseln, Fräulein Stein, der unermeßliche Schatz, den uns das Meer in jedem Jahre beschert. Anfang April zieht der Kabeljau wieder fort, bis zum Nordkap hinauf; dann verschwindet er, niemand weiß, woher er kam oder wohin er zieht.«
Gegen Abend – wenigstens zeigte die Uhr eine vorgerückte Stunde, obgleich die Sonne noch hoch am Himmel stand – forderte Frau Overland Frida zu einem Spaziergang auf. Sie erstiegen eine mäßige Anhöhe, zu der eine Treppe von rohen Steinen hinaufführte; oben sprang der Fels weit vor und bildete eine kleine Ebene, groß genug für ein niedriges Birkengebüsch und eine steinerne Bank. »Sieh, Kind,« begann die ältere Frau, als sich beide gesetzt hatten und ihre Blicke auf dem wunderbaren Bilde ruhen ließen, das sich in majestätischer Größe vor ihnen ausbreitete, »ich habe zwar wenig Zeit zum Spazierengehen, aber hierher gehe ich doch manchmal, am liebsten ganz allein, und sammle meine Seele aus all der Unruhe des täglichen Lebens und fühle mich meinem himmlischen Vater ganz nahe – das tut so wohl. Meine Kinder nennen dies Plätzchen ›Mutters Kirche‹, sie haben mir mit vereinten Kräften den Weg gebahnt und die Bank errichtet.«
»Es erinnert mich an eins in Krokengaard,« sagte Frida, »nur ist dort die Aussicht begrenzt, hier aber schweift der Blick bis in die Unendlichkeit hinaus. Kennen Sie jenes vielleicht?«
»O wie gut!« erwiderte Frau Overland mit einem träumerischen Lächeln; »hundertmal habe ich dort mit meinen Basen Margit und Eva Kristina gesessen; dort haben wir zusammen gelacht und geweint, gelesen und geschwärmt, wie junge Mädchen pflegen. Ja, Kind, ich war auch einmal jung, und nach dem Tode meiner Eltern war ich jahrelang wie ein Kind im Hause von Onkel Nils und Tante Sigrid.«
»O Tante Matilda,« bat Frida mit aufgehobenen Händen, »erzählen Sie mir etwas von den beiden Töchtern! Waren sie eigenwillig und ungehorsam, oder war Onkel Nils hart und tyrannisch? Gegen beides sträubt sich mein Herz, aber ich finde keinen anderen Ausweg.«
»Das sind traurige Geschichten,« entgegnete Frau Overland wehmütig, »und ich spreche nicht gern davon; aber ich weiß, daß du nicht aus bloßer Neugier fragst, sondern aus wirklicher Liebe und Teilnahme, und deshalb will ich dir alles wahrheitsgetreu erzählen. Gegen Margits Wahl war eigentlich wenig zu sagen; Svendson war ein Ehrenmann von Gesinnung und so stattlich von Gestalt, als sei einer der alten Wikinger wieder lebendig geworden. Aber er war ein Schwede, und Onkel Nils haßte alles, was schwedisch war ...«
»Warum?« fiel Frida ein. »Sind denn Schweden und Norweger nicht wie Zwillingsbrüder?«
»Ja, liebes Kind, das kann ich dir so schnell nicht erklären. Genug, es gibt eine Partei bei uns, die es nicht verschmerzen kann, daß unser Land seit 1814 der schwedischen Krone untertan ist, die darin einen Verlust seiner Selbständigkeit sieht – als ob es früher unter dänischer Herrschaft besser daran gewesen wäre! Ungern gab der Onkel seine Zustimmung zu Margits Verlobung und hoffte, Svendson würde wenigstens die Heimat verlassen und sich in der Nähe von Krokengaard ansiedeln. Aber der hing viel zu fest an seinem Gütchen in Dalekarlien; auch war er ein ebenso starrer Charakter wie sein Schwiegervater und ein Schwede mit Leib und Seele. Margit hatte durch diesen Zwiespalt manchen Kummer zu erdulden, doch wäre es ihr wohl gelungen, die beiden Männer, die sie so sehr liebte, zu versöhnen, hätte sie nicht ein früher Tod hingerafft. Als die Kinder heranwuchsen, kamen sie öfter nach Krokengaard zum Besuch, und Onkel Nils hätte am liebsten Olaf ganz bei sich behalten und in die Wirtschaft eingeführt, die er doch einmal erben sollte; aber der Junge dachte immer nur an Lernen und Studieren.«
»Und wie war es mit Eva Kristina?« fragte Frida.
»Ach, das ist noch viel trübseliger, aber dabei trifft Onkel Nils kaum eine Schuld. Sie war erst sechzehn Jahre alt, als sie bei einem Besuch in Bergen einen jungen Engländer kennen lernte, der ihr unerfahrenes Herz gleich gewann. Er hatte manches Bestechende an sich, ein hübsches Gesicht und ein gewandtes Wesen, aber seine Außenseite erschien mir immer nur wie ein dünnes Mäntelchen, das lose über einem leichtsinnigen, unlauteren Herzen hing. Er hielt um Eva Kristinas Hand an; Onkel Nils wies ihn ab und verbot ihm das Haus. Aber die beiden hatten sich ewige Treue gelobt und wechselten heimliche Briefe; vergebens stellte ich dem jungen Ding das Unrecht vor, sie wollte nicht auf mich hören. Onkel Nils schalt, warnte und drohte; endlich stellte er der Tochter die Wahl: entweder sie sollte Frank entsagen und als gehorsame Tochter in der Heimat bleiben oder ihm in die Fremde folgen und für ihre Eltern wie tot sein. Ich glaube, Frank hätte sich jetzt gern zurückgezogen – ihm war die Sache längst zu ernsthaft geworden; aber Eva Kristina dachte gar nicht an solche Möglichkeit; sie entschied sich für Frank und gab Eltern und Heimat auf. Sie erhielt einen Teil des väterlichen Vermögens als Ausstattung, die Hochzeit wurde in Bergen ganz still bei einer Verwandten gefeiert, ohne den Segen von Vater und Mutter – o es war ein dunkler, trostloser Tag, und Tante Sigrids Tränen flossen bitterer als um eine Tote; ein Mutterherz kann ein Kind ja gar nicht von sich losreißen. Bald danach heiratete ich auch und folgte meinem Manne hierher; im lieben Krokengaarder Hause blieb nur das einsame Paar zurück, dem Gott zum Ersatz für so viele Schmerzen noch einen Sohn schenkte. Erik war der Trost und Augapfel seiner Mutter, die größte Freude seines Vaters, aber sie sollten ihn nicht heranwachsen sehen! Er starb jung, wie du weißt, und Tante Sigrid folgte ihm bald – da ist dem armen Onkel beinahe das Herz gebrochen!«
Frau Overlands Worte erstickten in Tränen, und Frida weinte mit ihr in heißem Mitgefühl. »Und war wirklich nie wieder etwas von Eva Kristina zu hören?« fragte sie nach einer Weile.
»An mich schrieb sie zuweilen und bat um Nachricht von ihrer Mutter – ihres Vaters Namen hat sie nie wieder genannt. Anfangs schilderte sie immer ihr Glück, die angenehmen Verhältnisse ihres englischen Lebens, aber bald wurden ihre Briefe kürzer und einsilbiger, bis sie nach einigen Jahren ganz ausblieben. Später, als ich ihr den Tod ihrer Mutter mitteilen wollte, ließ mein Mann Nachforschungen nach Franks Verbleiben anstellen. Da hieß es, er habe England verlassen, um nach Australien auszuwandern, seine Frau wäre wahrscheinlich tot. Seitdem hat keine Botschaft von ihm oder ihr uns je wieder erreicht.«
»Sie sind verdorben, gestorben!« setzte Frida traurig hinzu. »Unglückliche Eva Kristina – armer, lieber Onkel Nils! Er ist so gut, so rechtschaffen, so gottesfürchtig – ach, ich habe ihn so innig lieb und möchte so gern etwas tun, ihn für all das Leid zu trösten, aber was vermag ich armes Ding?!«
Frau Overland hatte den Arm um Fridas Schulter gelegt und strich mit der anderen Hand sanft über ihren glatten, glänzenden Scheitel. »Du liebes, warmes Herzchen!« sagte sie zärtlich. »Ich möchte dich immer in meiner Nähe haben – aber nein, ich will dich lieber meinem guten Onkel gönnen; er hat ein wenig Wärme und Sonnenschein für seine alten Tage so nötig. Aber ach! du wirst ihn nur zu bald wieder verlassen – und Sigrid auch! Ich weiß gar nicht, was dann werden soll!«
»Ich will Ihnen ein Geheimnis sagen, Tante Matilda,« flüsterte das junge Mädchen, indem sie noch näher an ihre mütterliche Freundin rückte; »Arved Lundholm liebt Sigrid ...«
»Wirklich?« unterbrach sie die andere ungläubig, »davon habe ich noch nichts gemerkt.«
»Es ist aber doch so,« versicherte Frida nachdrücklich, »wenn auch Sigrid in ihrem kühlen Stolz es nicht zu ahnen scheint. Aber es wäre ja undenkbar, daß sie der Werbung eines solchen Mannes widerstehen sollte! Wo fände sie einen, der besser, klüger, liebenswürdiger und stattlicher wäre? Unter Tausenden gibt es keinen zweiten wie ihn!«
»Weißt du das so genau?« fragte Frau Overland lächelnd.
»Ja, ich kenne ihn durch und durch,« erklärte Frida eifrig, »und er ist mir so lieb wie mein eigener Bruder. Denken Sie nur, Tante Matilda, wie schön das sein wird, wenn die beiden einander heiraten und Sigrid immer in der Nähe ihres Großvaters bleiben kann!«
»Nun, wir wollen es abwarten, aber ja nicht daran rühren,« meinte die andere; »so zarte Dinge müssen sich in der Stille vollenden.«
Als die beiden langsam dem Hause zuwandelten, sahen sie von einem anderen Berge die Wanderer herabsteigen; mit einem kleinen Jubelschrei lief ihnen Frida entgegen. Lächelnd sah Frau Overland ihr nach; jene hatte die jungen Gefährten an diesem langen Tage doch wohl mehr vermißt, als sie zugestehen mochte. Sie sah, wie ihr Arved seine Jagdbeute zeigte, wie beide dann in eifrigem Gespräch hinter den anderen zurückblieben und erst viel später zu Hause ankamen. Sie sah, wie Fridas sanfte Augen vor Freude glänzten, und dachte in stillem Sinn: »Wie lieb muß sie ihren eigenen Bruder haben!«