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Achtzehntes Kapitel.
Englische Frauen


Das neue Jahr hatte begonnen; Ilse war nach London zurückgekehrt, und zu ihrer großen Freude hatte sich alsbald wieder eine Tätigkeit für sie gefunden, die sie mit einer neuen Seite des englischen Lebens in Berührung bringen sollte. Ihre kleine Schülerin, Daisy Morton, war das einzige Töchterchen einer zarten, jungen Frau, die ihrem Gatten, einem englischen Offizier, nach Indien gefolgt war, in dem dortigen Klima aber stets gekränkelt hatte. Als Daisy in das Alter kam, in dem die heiße indische Sonne den Kindern der Europäer verderblich wird, und sie daher in die Heimat geschickt werden müssen, hatte sich Mrs. Morton mit schwerem Herzen entschlossen, sich von ihrem Manne zu trennen und mit ihrem Kinde nach England zurückzukehren, wo sie bei ihrem Vater, dem Oberst Lindsay, und zwei Schwestern lebte. Die blondlockige Daisy war der Sonnenschein des Hauses, der Liebling des Großvaters und der Tanten; ihre Mutter hatte sie anfangs selbst unterrichtet, aber da sie fühlte, daß sie nicht die Festigkeit besäße, ihrem verwöhnten Herzblatt gegenüber immer den nötigen Ernst zu beobachten, so wollte sie das liebliche Kind lieber fremden Händen anvertrauen. »Ich hoffe, Miß Stein,« sagte sie herzlich, »daß Sie mir helfen werden, meine Tochter schon früh zu treuer Pflichterfüllung und zur Beherrschung ihrer eigenen Neigungen zu erziehen; der Herr aber lege Seinen Segen auf unser gemeinsames Werk!«

Oberst Lindsay, ein Schotte von Geburt, war ein prächtiger alter Herr mit weißem Haar und Backenbart; sein Gesicht drückte Milde und Güte aus, seine stramme Haltung Willenskraft und Festigkeit. Seine älteste Tochter, die das Hauswesen leitete, war ihm sehr ähnlich; eine unendlich rührende Erscheinung aber war die jüngste Tochter, Miß Mabel, die durch ein Rückenmarksleiden völlig gelähmt war und Tag für Tag bewegungslos auf ihrem Ruhebett lag. Ihr durchsichtiges Antlitz mit den wunderbar großen, durchgeistigten Augen hatte einen unbeschreiblich sanften, friedlichen Ausdruck, und wenn sie lächelte, erschien sie Ilsen wie verklärt. Miß Mabel lag in demselben Zimmer, in dem Daisys Unterricht stattfand; das erschien der jungen Lehrerin anfangs peinlich, aber bald gewöhnte sie sich daran; es war ihr, als wäre ein Engel zugegen, und sie bemühte sich, ihr Wesen und ihre Worte damit in Einklang zu bringen. Die Kranke war selten müßig; ihre Hände, die sie frei bewegen konnte, waren gewöhnlich mit einer Arbeit beschäftigt. »Wozu ist dies bestimmt, Miß Mabel?« fragte Ilse einmal während einer Pause und zeigte auf die große wollene Decke, die vor der anderen ausgebreitet lag und mit deutlichen Schriftzügen bestickt wurde.

»Für ein Hospital,« erwiderte Mabel freundlich. »Gott hat es mir versagt, die Elenden und Kranken aufzusuchen, aber ich möchte Ihm doch so gern in den armen Brüdern dienen. So nähe ich die schönsten Sprüche in diese Decken, damit sie in den stillen Stunden der Genesung oder unter bitteren Schmerzen zu den Herzen der Kranken reden und von Seiner Liebe zeugen möchten. Ich habe es selbst so oft erfahren, wie Sein Wort trösten und stark machen kann, auch bei schweren Leiden,« fügte sie leiser hinzu.

Ilse sah mit Ehrfurcht auf die zarte Gestalt, die ihre schwere Heimsuchung so tapfer ertrug und dabei mit selbstloser Teilnahme an andere dachte. »Sind Ihre Schwestern auch für die Armen tätig?« fragte sie.

»Gewiß, die Meinen arbeiten unermüdlich im Weinberge des Herrn; es ist ihre Pflicht und ihre Freude. Kate hat eine ragged school unter ihre besondere Obhut genommen, Ellen geht täglich in ein Krankenhaus, beschäftigt sich mit den Kindern und besucht die Entlassenen in ihren Wohnungen. Der liebe Papa hat sich das schwerste Werk erwählt; er geht jede Nacht hinaus und sucht die Hungrigen und Heimatlosen, die Verlassenen und Verlorenen auf, die in den Straßen umherirren und in die Stricke der schrecklichen Branntweinpaläste fallen; er führt sie in ein Haus, das er mit einigen gleichgesinnten Freunden begründet hat, wo sie Nahrung, Obdach und liebevolle Zusprache finden. Ach, Sie glauben nicht, wieviel Jammer und Sünde es in dieser Riesenstadt gibt! Das macht mir das Gebundensein am schwersten, daß ich so gar nichts tun kann, um die Verlorenen zu retten – ich kann nur für sie beten und weinen!«

Tränen erstickten ihre Stimme, Ilse aber beugte sich über sie und küßte ihr tief ergriffen die Hand. Sie war es von Kindheit an gewöhnt gewesen, mit armen Leuten freundlich und teilnehmend zu verkehren, sie hatte oft Kranken und Notleidenden Labung und Kleider gebracht und herzliche Freude an solchen Samaritergängen gehabt – aber eine solche Hingabe an die Werke christlicher Barmherzigkeit war ihr noch nie vorgekommen.

Zum Lunch vereinigte sich die ganze Familie, aber es herrschte hier ein anderer Ton als an Lady Augusta Cliftons Tische. Es fehlte der Unterhaltung nicht an Lebhaftigkeit, man lachte und scherzte mit dem Kinde und besprach alles, was die Zeit mit sich brachte, aber der lebendige Glaube, der alle Glieder vereinte und sie beständig zu Taten der Liebe drängte, bildete immer den Grundton aller Gespräche. Miß Lindsay – man bezeichnet in England die älteste Tochter gewöhnlich mit dem bloßen Zunamen – erzählte von ihrer Schule in einem entfernten Stadtteil, in der sie die Kinder der Ärmsten und Verkommensten um sich versammelte, um sie an Ordnung und Reinlichkeit zu gewöhnen und sie in den Grundlehren des Christentums zu unterweisen. Das war eine schwere Arbeit, die täglich viele traurige Enttäuschungen mit sich brachte, denn diese Kinder wuchsen unter Laster und Elend, unter Dieben und Trunkenbolden auf, und ihre Begriffe von Recht und Unrecht wurden von der Wiege an verkehrt und vergiftet. Aber Miß Lindsay und ihre Helfer ließen sich nicht entmutigen; sie rangen in Gebet, Geduld und unermüdlicher Liebe mit bösen Geistern und dankten Gott, wenn sie unter hundert Verlorenen einmal eine Seele retten, ein verwahrlostes Kind auf den rechten Weg führen konnten.

Mrs. Morton war heute sehr blaß und still; sie wartete, bis Daisy das Zimmer verlassen hatte, und beantwortete dann ihres Vaters teilnehmende Frage mit einem tiefen Seufzer. »Ich habe zu Schreckliches gesehen,« sagte sie, »ich kann die dunkeln Bilder nicht aus meinen Gedanken bannen. Ihr erinnert euch, daß ich euch von der kleinen Honor O'Flaherty erzählte, dem kranken irischen Kinde, das mein ganzes Herz gewann. Vor ein paar Tagen ist sie aus dem Krankenhause entlassen worden, und es trieb mich, nach ihr zu sehen; so fuhr ich mit einem Omnibus bis an die Straße, die sie mir bezeichnet hatte, und in der fast nur arme Irländer wohnen.«

»Du allein?« fragte der Oberst mit einem besorgten Blick auf die feine, jugendliche Erscheinung der Tochter.

»Ja, Papa, doch traf ich am Eingange einen policeman, den ich um Auskunft bat, und der mir sagte, er werde in meiner Nähe bleiben; aber es hätte mir auch ohne das niemand etwas getan. Ach, was für einen furchtbaren Anblick bot die Straße dar! Betrunkene Männer schwankten über den Weg, einer lag besinnungslos in der Gosse; unsaubere, scheltende Weiber, elende Kinder guckten aus Fenstern und Türen und starrten mich an; kaum daß die dürftigen Lumpen ihre Blößen bedeckten. Überall ein Schmutz, eine Luft, vor denen mir graute! Das Haus, in dem meine kleine Honor wohnt, ist eins der besseren, es hing auch frisch gewaschene Wäsche auf einer Leine quer über die Straße, aber welche Armseligkeit innen! Welche dumpfen Löcher, die offenbar vielen Menschen zum Aufenthalt dienten! Das arme Kind saß bleich und zitternd am Herde, in dem ein rauchendes Feuer qualmte; sie umschlang meine Knie und weinte, als sollte ihr das Herz brechen. Sie fühlt sich nach dem langen Aufenthalt im Hospital sehr unglücklich in dieser Höhle und flüsterte mir zu, daß Vater oft betrunken nach Hause käme und sie schon geschlagen hätte. Ihre Mutter jammerte über ihre Armut und Honors Kränklichkeit; das Kind wolle noch nichts tun, nicht einmal betteln, und müßte nur gefüttert werden – warum der Herr es nicht lieber zu sich ins Paradies genommen habe! O Papa, all das Elend an Leib und Seele hat mir das Herz zerschnitten; wer kann da retten und helfen? Alle Menschenkraft erscheint mir so ohnmächtig dagegen!« Mrs. Morton verbarg ihr Gesicht in den Händen, sie zitterte an allen Gliedern.

Oberst Lindsay saß lange schweigend und in tiefen Gedanken da; dann sagte er: »Laßt uns beten, meine Lieben.« Er erhob seine Hände zum Himmel und flehte inbrünstig zu dem, der gekommen war, die Verlorenen zu suchen und selig zu machen, sich auch dieser Ärmsten zu erbarmen und ihnen zur Linderung ihrer großen Not willige Herzen und Hände zu senden. »Ich will die Sache in meinem Herzen bewegen,« fügte er hinzu, indem er sich erhob und seiner Tochter die Hand reichte; »vielleicht können wir wenigstens Honor helfen.«

Und ihr wurde geholfen; eine Sammlung bei guten Freunden ergab so viel, daß das schwächliche Mädchen bei einer anständigen Frau in der Nachbarschaft untergebracht werden konnte, und sie kam täglich in Oberst Lindsays Haus, das ihr schon wie das Paradies erschien. Miß Mabel unterrichtete sie selbst und hatte ihre Freude an ihren Fortschritten, denn Honor war, wie ihre meisten Landsleute, sehr aufgeweckten Geistes und von liebenswürdiger Gemütsart. Daisy überwand ihre große Abneigung gegen das Nähen und Stricken leichter, seit sie für ihren Schützling arbeiten durfte, dem sie alles mitteilte, was sie selbst gelernt hatte, und dem sie besonders die biblischen Geschichten in ihrer kindlichen Weise wieder erzählte, über welche die Erwachsenen manchmal lächeln mußten, und die doch oft so rührend war. – So wurde ein armes Wesen aus dem Pfuhl von Sünde und Not errettet, aber blieben nicht tausend andere nach wie vor im tiefen Schlamme stecken? So fragte sich Ilse voll Trauer; nie vorher war es ihr so klar geworden, welche schneidenden Gegensätze eine so ungeheure Stadt wie London in sich birgt; daß neben einer unerhörten Fülle von Glanz und Reichtum das namenloseste Elend, neben der strengsten kirchlichen Frömmigkeit und der reinsten christlichen Liebestätigkeit die grenzenloseste Verworfenheit, neben der höchsten Bildung und Verfeinerung die tiefste Unwissenheit und Roheit zu finden ist. –

»Wir haben heute abend eine Singprobe,« sagte Miß Lindsay nach einiger Zeit zu Ilse, »wollen Sie sich dabei beteiligen, Miß Stein?«

»Sehr gern; was soll gesungen werden, und zu welchem Zweck?«

»Papa und seine Freunde wollen den armen Bewohnern des irischen Stadtviertels ein Frühstück geben; dabei sollen Gesänge und Ansprachen stattfinden.«

Ilse war so überrascht, daß sie keine Worte fand, um sich näher nach dieser Veranstaltung zu erkundigen, die den Schwestern nichts Fremdes zu sein schien. Abends fand sich ein Kreis von Damen bei Lindsays zusammen, lauter Gesinnungsgenossen, die in gleicher Weise wie jene Gott zu dienen strebten. Man übte eine Reihe von geistlichen Liedern ein, die in Ilsens Ohr freilich nicht sehr geistlich klangen, denn die Engländer lieben ein sehr viel schnelleres Zeitmaß als die Deutschen, und der leichte Gang ihrer Hymnen, die auch in der Kirche gesungen werden, hat wenig Ähnlichkeit mit dem feierlichen, wuchtigen Schritt des deutschen Chorals.

Der Schauplatz des Frühstücks war eine große Halle im Nordosten von London, ehemals ein Tanzhaus der niedrigsten Sorte, das aber von einer Gesellschaft christlicher Männer erworben und in einen Versammlungsort für kirchliche Zwecke verwandelt worden war. Den Hintergrund füllte eine Orgel aus; davor erhob sich eine Plattform für die Sängerinnen, die sich nicht unter die eigentliche Versammlung mischen durften. Von hier aus konnte man den ganzen Raum übersehen, der mit langen, schmalen Tischen und Bänken angefüllt war; ein Kreis von älteren Damen und Herren, die alle den höheren Ständen angehörten, stand unten bereit, um die Gäste zu empfangen. Und nun strömten sie herein – eine bunte, seltsame Gesellschaft! Hier sah man verschmitzte Galgengesichter in schmutzigen Lumpen, Leute, denen man jedes Verbrechen zutrauen konnte; dort andere mit feinen, edeln Zügen, denen Hunger und Krankheit ihr trauriges Siegel aufgedrückt hatten, die aber bestrebt waren, ihre Entbehrung unter einem anständigen Äußeren zu verbergen. Von den Frauen waren viele nur notdürftig bekleidet, einige hatten einen schäbigen Putz über ihre zerrissenen Alltagskleider geworfen; nur wenige sahen sauber und ordentlich aus. Auch Kinder gab es in Menge, zerlumpte Buben, die so keck um sich schauten, als ob ihnen die ganze Welt gehöre, und bleiche, kränkliche Mädchen, die schon in der Wiege mit Branntwein still gemacht worden waren und den Fluch davon durch ihr ganzes Leben schleppen mußten. Manche Gestalten waren in ihrer Verkommenheit so drollig, daß man hätte lachen mögen, aber der Anblick des Ganzen reizte mehr zum Weinen, denn es war eine furchtbare Summe menschlichen Elends.

Jeder der Eintretenden wurde freundlich empfangen und zu einem Sitze geführt, die Männer auf die eine, die Frauen auf die andere Seite, bis alle Tische voll und mehrere hundert Personen versammelt waren. Dann brachte man riesige Körbe mit belegten Butterbroten und dampfende Kessel mit Tee herein, und die Verteilung begann. Wunderbar ruhig betrug sich die bunte Gesellschaft; nirgends gab es Streit oder ungehörige Worte, und wo sich einmal einer eine Freiheit erlauben wollte, da wurde er von seinen Nachbarn alsbald kräftig zur Ruhe verwiesen. Als alle mit Speise und Trank versehen waren, begann die Orgel zu spielen, und nachdem hierdurch allgemeine Stille geschaffen war, fing der Gesang an. Es war interessant, die Wirkung zu beobachten, die die reinen, lieblichen Töne auf die Menge ausübten, von der wohl viele zu der Million derer gehörten, die in London leben und doch nie in eine Kirche kommen. Einige lächelten verwundert oder höhnisch, andere gähnten, noch andere sahen ernst und ergriffen aus, und manchen stürzten unaufhaltsam Tränen aus den Augen – sie mochten an eine Zeit erinnert werden, da auch sie noch etwas von Frömmigkeit und Gottesfurcht wußten. Hier und da sah man einen Mann oder eine Frau mit gefalteten Händen dasitzen, wie in stillem Gebet, aber es waren doch nur wenige, denen ein geistliches Lied lieb und vertraut klang.

Danach betrat Oberst Lindsay die Plattform und begann zu der Versammlung zu sprechen; er erzählte ihr von Jesus, dem guten Hirten, dem auch das ärmste und schwächste seiner Schafe am Herzen liege, und der jedem verirrten nachginge, um es zu retten und heimzubringen. Der Redner wählte mit Absicht die einfachsten Worte und Bilder; er schalt nicht, er drohte nicht, er predigte nicht einmal Buße, sondern schilderte nur die unendliche Liebe und Güte des Herrn und bat jeden, sich nicht von ihr abzuwenden, weil er sonst in der Wüste verschmachten oder im Abgrunde zerschmettern müßte. Er schloß mit einem heißen Gebet, wieder ertönte Gesang, dann wurden die Gäste entlassen. Ohne Lärm verließen sie die Halle; viele dankten, manches arme Weib blieb noch vor einer der Damen stehen, um besondere Hilfe zu erbitten oder um Rat zu fragen, und alle fanden freundliches Gehör und liebreichen Zuspruch. »Hatten die Leute einen bleibenden Eindruck empfangen? Würden in der alltäglichen Umgebung von Schmutz und Greuel die Samenkörner des Guten einen Boden finden, um aufzugehen? oder war alles unter die Dornen gefallen, um dort zu ersticken?« So fragte Ilse mit zitterndem Herzen, und Mrs. Morton erwiderte ihr, daß Menschenhände nur den Samen ausstreuen könnten, Segen und Gedeihen aber von oben kommen müsse; daß es in solchen Dingen gälte, unermüdlich tätig zu sein, zu glauben und zu vertrauen. Ilse seufzte, aber sie sah mit ehrfürchtiger Bewunderung zu den Männern und Frauen empor, die ihre behaglichen Häuser verließen, um sich unter diese Armen und Verlorenen zu mischen und ihnen eine rettende Hand zu bieten.

Sie war so voll von den Erlebnissen dieses Tages, daß sie abends im Home von nichts anderem sprechen konnte. »Sie werden unter diesen liebenswürdigen Schwärmern noch selbst zur Schwärmerin werden,« sagte eine ihrer Nachbarinnen warnend.

»Halten Sie solch werktätiges Christentum für Schwärmerei?« fragte Ilse lebhaft. »Ich denke, es wandelt ganz auf dem Boden der Wirklichkeit und tritt den furchtbaren Notständen mit sehr praktischen Mitteln entgegen ...«

»Mit Tee und Butterbrot!« warf eine der Damen spöttisch ein.

»Einem Hungrigen kann man schlecht predigen,« erwiderte Ilse warm; »er wird immer den Einwand erheben, daß der Satte nicht wisse, wie ihm zumute sei.«

»Diese Wohltätigkeit ist gewiß sehr schön und lobenswert,« meinte eine andere Dame, »aber es gehört der englische Reichtum dazu. Wir, die wir für unser Durchkommen sorgen und an den Erwerb denken müssen, können sie uns nicht erlauben; uns fehlt die Zeit und das Geld.«

»Da mögen Sie nicht unrecht haben,« entgegnete Ilse nachdenklich, »aber mit gutem Willen und einem Herzen voll brennender Liebe könnte doch wohl jede von uns manches Gute tun. Jedenfalls habe ich das Gebot, unsern Nächsten zu lieben wie uns selbst, noch nie so ins Leben treten sehen wie bei den Lindsays und ihren Freunden.«

»Das muß man den Engländern lassen,« sagte eine der Tischgenossinnen, »daß sie alles, was sie unternehmen, mit einem Eifer tun, von dem wir wenig wissen. Das gilt sowohl von ihren guten Werken wie von ihren Spielen und Narrheiten. Ob sie sich boxen, rudern oder wettrennen, trinken oder Heiden bekehren – alles wird mit ganzem Ernst betrieben. Haben Sie schon von Lady Danvers gehört? Sie ist eine reiche, vornehme Frau, aber sie hat es sich in den Kopf gesetzt, eine vernunftgemäßere Kleidung der Frauen herbeizuführen, und wandert nun wie ein Apostel von Stadt zu Stadt, um für ihren Zweck zu wirken. Das ist auch ein Pröbchen englischer Energie und Frauentätigkeit. Morgen hält sie in Regentstreet einen Vortrag, den lasse ich mir nicht entgehen – kommen Sie mit, Fräulein Stein?« Ilse war dazu bereit.

Die beiden Mädchen fanden in dem großen Saal eine stark besuchte Versammlung, größtenteils Damen der höheren Stände, doch waren auch einige neugierige Herren darunter. Auf einer erhöhten Tribüne erschien eine Frau in mittleren Jahren in einem wundersamen Aufputz; sie trug lange, weite Beinkleider von schwarzem Atlas und eine Art Kaftan von weichem, wollenem Stoff, der bis über die Knie reichte und durch eine lose geschlungene Schärpe zusammengehalten wurde. Ihr kurzgeschnittenes Haar steckte in einem weitmaschigen Netz und ihre Füße, die, wie die der meisten Engländerinnen, sehr groß waren, in weichen Schuhen mit starken Sohlen. Da die Dame keine Schönheit und von behaglichem Umfang war, so konnte man den Anzug nach gewöhnlichen Begriffen durchaus nicht kleidsam nennen; er gab der Trägerin ein Gepräge der Lächerlichkeit, das ihrer Sache nicht zum Vorteil diente. Aber ihre Begeisterung ließ nichts zu wünschen übrig; mit donnernder Beredsamkeit wies sie alle Mängel der Frauenkleidung seit Jahrhunderten nach und malte die Schäden aus, die eine lange Reihe von Geschlechtern sich und ihren Kindern dadurch zugefügt habe. Mit derselben Eindringlichkeit zeigte sie an ihrem eigenen Beispiel die Vorteile der von ihr angenommenen Tracht und beschwor ihre Mitschwestern, die Fesseln alter und neuer Vorurteile zu brechen und sich von der entnervenden Knechtschaft der Mode freizumachen. Zum Schluß forderte sie alle auf, die ein Herz für die Freiheit, die Gesundheit und die Würde des weiblichen Geschlechtes hätten, neben sie hinzutreten und ihre Namen in ein dort aufgeschlagenes Buch einzutragen.

Dieses Verlangen veranlaßte die Mehrzahl der Versammelten zu schleunigem Aufbruch; sie hatten das Gefühl, als sollten sie gewaltsam in ebenso abschreckende Figuren verwandelt werden wie die Dame vor ihnen. »Wie traurig, daß diese Frau ihre Mittel an solchen törichten Zweck vergeudet!« sagte Ilse auf dem Heimwege zu ihrer Begleiterin. »Was könnte sie mit diesem Feuer, dieser Rednergabe, diesen Opfern leisten, wenn sie einer besseren Sache diente.«

»Gemach,« erwiderte die andere, »Sie sind unbillig, meine Liebe. Es war doch manche beherzigenswerte Wahrheit in dem, was Lady Danvers sagte, denn Sie können nicht leugnen, daß die Mode viele Torheiten und Tollheiten hervorgebracht hat, die weder anständig noch gesund waren.«

»Mag sein!« entgegnete Ilse ungeduldig. »Immerhin ist mir die Lindsaysche Schwärmerei, wie Sie sie nennen, tausendmal lieber als diese, und ihre Erfolge sind unmittelbarer und segensreicher.«

»Ich warne Sie vor Einseitigkeit, Fräulein Stein,« erwiderte die Gefährtin. »So hoch die Pflicht des barmherzigen Samariters steht, so ist sie doch nicht die einzige, die uns obliegt, vielmehr sind die Wege, auf denen wir uns unseren Mitmenschen nützlich machen können, gerade so verschieden wie die Gaben und Kräfte, die uns verliehen sind. Ich will in den nächsten Tagen einen Besuch in Girton-College machen; wollen Sie mich begleiten? Sie werden dort einen Blick auf ein ganz anderes Feld der Tätigkeit werfen.«

»Girton-College!« wiederholte Ilse lebhaft, »davon habe ich schon manches gehört und werde Ihnen für die Bekanntschaft sehr dankbar sein, Fräulein Walter.«

Einige Tage danach legten die beiden jungen Damen die kurze Reise nach der alten Universitätsstadt Cambridge zurück, in deren unmittelbarer Nähe sich das stattliche Gebäude der ersten Frauenhochschule erhebt. Von hübschen Parkanlagen und weiten Rasenplätzen umgeben machte es einen freundlichen und gefälligen Eindruck; auf einem großen Teiche, der sich bei dem leichten Frost mit einer spiegelglatten Eisfläche bedeckt hatte, tummelte sich eine fröhliche Schar von Mädchen auf Schlittschuhen umher. »Da haben Sie unsere gelehrten Frauenzimmer!« sagte Fräulein Walter lachend; »Sie sehen, daß ihnen unter dem Ernst des Studiums die frische Lebenslust noch nicht verloren gegangen ist.«

Sie traten näher hinzu und fanden bald Miß Brown, die gesuchte Bekannte, heraus, die sogleich die Eisbahn verließ und die Angekommenen herzlich begrüßte. »Kommen Sie in mein Zimmer, meine Damen,« sagte sie mit kräftigem Händedruck, nachdem Ilse ihr vorgestellt worden war, »Sie müssen kalt geworden sein, denn es ist heute ein frischer Tag.« Sie führte ihre Gäste durch die stattliche Halle, über breite, teppichbelegte Treppen und Gänge und öffnete die Tür zu einer hübschen Stube, die mit echt englischem Komfort ausgestattet war. Der Fußboden war durch einen Teppich völlig verdeckt, im Kamin brannte ein helles Feuer, einige Blumentöpfe verbreiteten lieblichen Duft, die Wände waren mit guten Bildern geschmückt, der große Schreibtisch mit Büchern und Heften bedeckt – kurz, das Ganze war so ansprechend und gemütlich, daß man sich wohl darin fühlen mußte.

»Dies ist ein reizendes Heim, Miß Brown,« sagte Ilse, indem sie sich bewundernd darin umschaute; »müssen Sie es mit jemand teilen?«

»Keineswegs; es ist mein alleiniges Reich, und hier ist noch ein Schlafzimmer daneben. Jede von uns verfügt über die gleichen Räume, und da wir mehrere Stunden am Tage für uns allein arbeiten, so brauchen wir auch dringend einen behaglichen Aufenthalt.«

»So hören Sie also die Vorlesungen in der Universität nicht mit an?«

»Ganz gewiß, aber nur mit Auswahl. Lassen Sie sich unseren Tag beschreiben. Um acht Uhr hält unsere Vorsteherin, welche die oberste Leitung der ganzen Anstalt in Händen hat, die Morgenandacht, danach ist Frühstücksstunde. Um neun Uhr beginnt die Tagesarbeit; die Vorgeschrittensten arbeiten allein, andere, die sich noch schwach fühlen, mit einer Lehrerin, deren wir mehrere im Hause haben. Im Laufe des Vormittags gehen die meisten von uns nach Cambridge und nehmen dort an den Vorträgen verschiedener Professoren teil; manche hören klassische Philologie, andere Mathematik und Naturwissenschaften oder Geschichte und neuere Sprachen. Um ein Uhr versammelt sich alles zum Lunch, danach ist eine zweistündige Erholungspause allgemeine Regel. Bei schlechtem Wetter werden gemeinsame Übungen im großen Turnsaal unternommen, bei gutem werden Ausflüge zu Wagen, zu Pferde und zu Fuß gemacht, oder man läuft Schlittschuh oder spielt Krocket und Lawn-Tennis, je nach der Jahreszeit. Dann wird wieder gearbeitet; mehrmals in der Woche kommen Professoren zu uns heraus, um hier Vorträge zu halten oder in unserem Laboratorium Experimente vorzuführen. So vergehen die Stunden bis zum Dinner, das um sieben Uhr eingenommen wird, hierauf findet ein heiteres Beisammensein statt, wozu oft Gäste erscheinen, da wird Musik gemacht, zuweilen getanzt, bis sich um zehn Uhr jede in ihr Zimmer verfügt. Manche überläßt sich dann sofort der Ruhe, aber bei sehr Wissensdurstigen verlöscht die Lampe auch erst um Mitternacht.«

Miß Browns Erzählung wurde durch den Eintritt eines Mädchens unterbrochen, das schnell ein sauberes Tischchen deckte und einen zierlich geordneten Imbiß auftrug. »Ich bitte Sie, langen Sie zu,« sagte die Wirtin; »unser Lunch ist vorüber, aber wir haben noch eine gute Stunde bis zum Wiederbeginn der Arbeit vor uns.« Ilse konnte nicht umhin, die ausgezeichneten Speisen und Getränke zu bewundern, die den Gästen in reichem Maße dargeboten wurden. »Natürlich leben wir gut und kräftig,« erwiderte Miß Brown, »wie sollten wir ohne einen gut gepflegten Körper die nötige Frische zur geistigen Arbeit haben?«

»Tun Sie es denn im Lernen wirklich den Studenten von Cambridge gleich?« fragte Ilse etwas ungläubig.

»Ganz gewiß! Wir legen dieselben Prüfungen ab wie sie, sowohl bei der Aufnahme wie bei der Entlassung. Ich kann Sie versichern, Miß Stein, daß einige unserer Studentinnen die Anstalt mit den vorzüglichsten Zeugnissen verlassen haben und als Vorsteherinnen höherer Mädchenschulen oder als Lehrerinnen der obersten Klassen höchst ehrenvoll wirken. Girton-College ist, sozusagen, das Lieblingskind der Universität Cambridge, und von seinem ersten bescheidenen Anfang an bis heute haben ihm Studenten und Professoren die lebhafteste Teilnahme geschenkt.«

»Ich denke es mir doch sehr peinlich, mit den Studenten zusammen die Vorlesungen zu besuchen,« meinte Ilse bedenklich.

»Aber warum, liebe Miß Stein? Es sind sämtlich wohlerzogene junge Leute, die uns als Damen mit ritterlicher Höflichkeit behandeln. Bis jetzt haben wir nur zu den Fächern Zutritt, die uns zum Lehrberuf vorbilden, aber sicher wird die Zeit kommen, wo auch das Studium der Medizin den Frauen geöffnet werden wird. Die Universität London ist seit 1878 mit allen ihren Graden den Frauen zugänglich gemacht. Es gibt keinen Stillstand auf diesem Felde!«

Miß Brown zeigte ihren Gästen das ganze Haus, das erst im Oktober 1873 von zwanzig Studentinnen bezogen worden ist; doch hat sich ihre Zahl seitdem bis auf hundert gesteigert, und ähnliche Anstalten sind außerdem in Cambridge, Oxford und London eröffnet worden. Die ganze Einrichtung war für deutsche Augen überraschend reich und behaglich, und das Leben der Einwohnerinnen erschien Ilsen beneidenswert in seiner geregelten Abwechslung von geistiger Arbeit und körperlicher Pflege und Erholung. Da fehlte es weder an Badezimmern noch an einem Musiksaal, weder an einer wohlausgestatteten Bücherei noch an einem Treibhause. »Ich möchte wissen,« sagte sie auf dem Rückwege sinnend zu ihrer Gefährtin, »ob wohl in Deutschland jemand daran denken würde, den Frauen in dieser Weise das höhere Studium zu erleichtern.«

»Leider nicht!« erwiderte Fräulein Walter. »Die deutschen Hörsäle sind uns noch fest verschlossen, und die Männer sträuben sich mit einer unbegreiflichen Hartnäckigkeit, die fast etwas Ängstliches hat, dagegen, sie uns zu öffnen. Und wenn es wirklich einst geschähe – wer würde bei uns solche Häuser bauen, in denen ein alleinstehendes Mädchen alles findet, was es für Leib und Seele bedarf? Dazu gehört eben der englische Sinn für Anstand und Komfort – und das englische Geld.«

»Ach, das leidige Geld!« sagte Ilse seufzend. »Überall spricht es mit; bei allem, was Genuß, Wohlbehagen, Ausbildung, sogar Wohltätigkeit heißt, drängt es sich mißtönig in den Vordergrund. Ich mag nichts mehr davon hören!« –

Unter solchen wechselnden Eindrücken verstrich für Ilse der Winter, der in London weder sehr lang noch sehr hart zu sein pflegt; denn der Schnee bleibt selten liegen, und die Kälte steigt nie sehr hoch. Schon im Februar wehten milde Lüfte, und im März begann sich in den reizenden Vorgärten und Terrassen des Westendes, in den Squares und Parks der Frühling mächtig zu regen. Ilsens Sehnsucht nach der Rückkehr der Reisenden wurde immer ungeduldiger, und als Evelyn ihr schrieb, daß Mrs. Howard-Marscourt ernstlich erkrankt und der Arzt nicht ohne Besorgnis sei, wurde ihr Wunsch, Mr. Howard zu sprechen und Bridgets Auftrag auszurichten, zu einer wahren Pein. Sie litt häufig an Kopfschmerzen, die sie zu geistiger Anstrengung unfähig machten, und hatte sich eines Tages genötigt gesehen, den Unterricht abzubrechen und früher nach Hause zu gehen. Trübselig lag sie auf ihrem Bett; in ihren Schläfen hämmerte es, ihre Gedanken flogen wirr durcheinander, als ihr das Dienstmädchen eine Karte brachte und zugleich fragte, ob sie den Herrn abweisen sollte. Aber kaum hatte Ilse den Namen gelesen, als sie aufsprang und mit zitternden Händen Haar und Kleidung ordnete. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr ein rosig angehauchtes Antlitz, ohne jede krankhafte Blässe; sie eilte die Treppe hinab, mußte aber vor der Tür des Empfangszimmers eine Weile stehen bleiben, um das ungestüme Pochen ihres Herzens zu beschwichtigen. Dann öffnete sie fast zaghaft und stand Mr. Howard gegenüber, der ihr mit ausgestreckter Hand entgegenkam.

»Willkommen in der Heimat!« sagte Ilse so ruhig, wie sie irgend konnte. »Haben Sie Ihre Damen auch mitgebracht?«

»Nein, Miß Stein, Sie müssen vorläufig mit mir allein vorlieb nehmen. Lady Jane wurde von einem heftigen Rheumatismus befallen, der sie nötigte, einen Aufenthalt in Aachen zu nehmen.«

»Wie traurig! Aber wie geht es Maud?«

»Vortrefflich; sie wollte mir eigentlich einen langen Brief an Sie mitgeben, meinte aber schließlich, meine Mitteilungen würden doch ausführlicher sein, und sie könne sich das Schreiben sparen.«

»Maud ist ein Faulpelz!« lachte Ilse. »Es ist hohe Zeit, daß sie unter mein schulmeisterliches Regiment zurückkehrt; ich fürchte, sie hat die Kunst des Schreibens fast vergessen.«

»Aber viel anderes gelernt. Florenz ist eine hohe Schule für jeden, der offene Augen und Sinn für Schönheit und Größe mitbringt. Sie werden Maud vorteilhaft verändert finden, Miß Stein; sie ist in jeder Beziehung reifer geworden.«

»Und dem Schulzimmer entwachsen!« rief Ilse schmerzlich. »Aber nun müssen Sie mir alles erzählen, was Sie in diesen langen Monaten erlebt haben; Mauds kurze Briefe ließen zu viele Lücken.«

Mr. Howard berichtete in seiner liebenswürdigen Art von allem, was sie am meisten interessieren konnte, und beantwortete jede ihrer Fragen mit eingehender Freundlichkeit. Wie hübsch war es, ihm gegenüber am Kamin zu sitzen und mit ihm zu plaudern – fast so, als wären die schönen, glücklichen Tage des vorigen Herbstes zurückgekehrt. »Wo gedenken Sie sich jetzt aufzuhalten?« fragte sie. »In Ivy-Lodge wird es Ihnen sehr öde vorkommen ohne Ihre Damen.«

»Zunächst gehe ich nach Marscourt-Hall, um bei meiner Großmutter zu bleiben.«

Jetzt war der Augenblick gekommen, den Ilse ebensosehr herbeigesehnt wie gefürchtet hatte; sie preßte die Hände fest zusammen, um ihren Mut zu stählen, und sagte schnell: »Ich habe Ihnen eine ernste Mitteilung zu machen, Mr. Howard, die ich nicht länger verschieben darf.«

Er sah sie erstaunt an. »Ich bin ganz Ohr,« sagte er höflich. So kurz und schonend wie möglich erzählte sie ihm, was sie am Sterbebett der alten Bridget erfahren und gelobt hatte; sie wagte es nicht, ihn dabei anzusehen, denn sie fühlte mit jedem weiteren Wort immer deutlicher, wie peinlich und verletzend ihn die ganze Sache berühren mußte.

Als sie geendet hatte, herrschte eine Zeitlang tiefes Schweigen; Mr. Howard war aufgestanden und durchmaß mit großen Schritten das Zimmer. »Die alte Bridget hätte sich und Ihnen die Mühe ersparen können,« sagte er endlich, und seine Stimme klang bitter und hart. »Wenn in den Fieberphantasien meines Großvaters auch nur das kleinste Körnchen Wahrheit war, so würde Mrs. Howard-Marscourt von Marscourt-Hall sicher die erste sein, jede Unbilligkeit auszugleichen und der strengsten Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen. Ein solcher Flecken, auf das Andenken meines Großvaters geworfen, tastet die Ehre der ganzen Familie an, und ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, daß ich lieber betteln oder die niedrigste Arbeit tun als auch nur einen Heller unrechtmäßig erworbenen Geldes anrühren würde.«

»O Mr. Howard!« rief Ilse mit Tränen in den Augen, »sprechen Sie nicht so, ich bitte Sie! Ich habe schon so schwer unter diesem Geheimnis gelitten, das mir aufgezwungen wurde – aber konnte ich anders als ein feierliches Versprechen erfüllen? Sie oder Ihre Familie zu kränken, hat mir – Gott weiß es – unendlich fern gelegen.«

Wieder entstand eine Pause, dann sagte Mr. Howard in gepreßtem Ton: »Ich sehe mich in die bittere Notwendigkeit versetzt, Sie um völliges Schweigen zu bitten, Miß Stein; wollen Sie mir die Hand darauf geben? Ich gelobe Ihnen, der Sache sofort nachzuforschen und die nötigen Anordnungen zu treffen.«

Sie schlug ein und sah dabei ängstlich zu ihm auf; sein Gesicht war finster, und sie glaubte Groll und Zweifel darin zu lesen. Das kränkte sie tief; mit einer trotzigen Gebärde warf sie den Kopf auf und zog ihre Hand zurück. »Auch ohne ein besonderes Versprechen wäre nie ein Wort hiervon über meine Lippen gekommen,« sagte sie stolz. »Ein Gelübde sind Sie mir nicht schuldig – ich habe nur meine Pflicht erfüllt und frage nicht weiter nach den Folgen.«

»Ich danke Ihnen,« sagte Mr. Howard ernst, dann verbeugte er sich tief und verließ das Zimmer.

Wie betäubt sah ihm Ilse nach. »Vorbei, vorbei!« murmelte sie. »Ich habe seinen Stolz tödlich verletzt; nie wird er es mir verzeihen, daß ich um diese Sache weiß, die die Ehre seines Namens befleckt. O mein Gott, warum mußte jene Alte gerade zu mir Vertrauen fassen! Kann Mr. Howard wünschen, daß ich je wieder ein Glied seines Hauses werde? muß er meinen Anblick nicht fortan verabscheuen? – Und doch will ich von England nicht scheiden, ehe ich nicht aus Lady Janes eigenem Munde meine Entlassung erhalte – ich will nicht feige die Flucht ergreifen, denn ich habe nichts Böses getan. Inzwischen aber will ich von den Lindsays lernen, wie man Gott dienen und seinen Nächsten lieben soll!«


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