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Sechstes Kapitel

In Saas-Fee blühten die Blumen, sie machten aus den Alpenwiesen einen wundersamen Garten, in dem es gelb und rot, blau und weiß leuchtete, ein sanfter und eindringlicher Duft nach Honig und süßem Erdengeruch zog durch das Tal.

Gerdis lag vor der kleinen Terrasse des Hauses im Liegestuhl, ihre Augen sahen träumend den unbewegten Kreisen zu, die ein Geierpaar sehr hoch in den makellos blauen Himmel zeichneten. Vielleicht, daß einer um den anderen warb. Die helle Junisonne schien hellgelb herab.

Demantklar ruhte die schroffe Zacke des Doms vor dem seidenen Himmel, von den Gängen des fernen Allalin züngelte stäubend eine Lawine hinab, lautlos, ihr Donner drang nicht herüber bis in die tiefe Stille des Tales von Saas-Fee.

Seit Wochen schon herrschte dies strahlende Wetter, es war, als gäbe es weder Sturm noch Donner auf dieser Welt, weder Regen noch Nebel, Eis und wilde Vernichtung. Unwandelbar schön zogen die Tage herauf, strahlten und erloschen sanft in einer zarten grünen Dämmerung, unwandelbar rein funkelten die Nächte im Licht unzähliger Sterne, deren einer in prangender Helle vor allen anderen schimmernd stand: Gloria, schön wie Luzifer.

Jeden Abend sahen sie den Stern, Gerdis und Werner, sie saßen stumm beieinander und blickten zu ihm hinauf – aber sie sprachen niemals von ihm.

Sie sahen ihm zu, wie er aufglomm aus der Dämmernis, um Nacht für Nacht strahlender aufzuflammen, sich vergrößernd von Mal zu Mal. Sie blickten in sein feuriges hellweißes Gleißen, aber sie nannten seinen Namen niemals. Keiner wies auf ihn hin, Gerdis nur horchte oft auf das Leben in ihrem Schoße, wenn der Stern auf sie niederschien.

Sie war nicht unruhig, und sie fürchtete sich nicht.

Seitdem sie hier oben war, schien es ihr, als wäre sie heimgekehrt ins Paradies. Furcht war vergangen, Wunsch und Verzagen. Auch die Gesichte kamen nicht mehr, eine stille Heiterkeit erfüllte sie ganz, ihre Augen wurden sehr schön, und die blassen Wangen bekamen den rosafarbenen Hauch, der an jungen Kirschblüten so entzückt. Werner brachte ihr Zeitungen und Bücher –, in den Zeitungen verschwanden allmählich die Nachrichten aus Politik und Wirtschaft, bald sprachen sie nur noch von Gloria, nicht mehr spaltenlang, nein, über ganze Seiten hinweg.

Man konnte nicht umhin, die Geschicklichkeit zu bewundern, mit der es den Regierungen gelang, in Presse und Rundfunk Stimmung zu machen, ganz offenbar arbeiteten hier einmal alle Regierungen der Welt zusammen und unterdrückten rücksichtslos jede Meldung, die Beunruhigung und Panik hervorrufen konnte. Man schrieb über Gloria, als wäre es ein Kampf um die Weltmeisterschaft im Fußball, ungeheuer spannend, aufregend, ein Ereignis der Gesellschaft, bei dem man die neuesten Kleider würde vorführen können und schrecklich hohe Wetten verlieren. Erlinspiel mußte zugeben, daß er selbst es nicht hätte geschickter machen können, ja, daß er wahrscheinlich es auch nicht im geringsten so hervorragend fertiggebracht hätte, und es blieb nur der Zweifel in ihm zurück, ob nicht diese wundervolle Beruhigungspropaganda vielleicht deshalb so echt und wirksam war, weil die Verantwortlichen wirklich nichts Entsetzliches voraussahen, sondern geradeso ahnungslos waren, wie die Massen, die täglich diese reizend aufregenden Sachen über Gloria, den Stern, in ihren Zeitungen lasen.

Ausführlich berichteten die Blätter über die Wirkung des sich rasch nähernden Irrsternes auf die feinsten Meßinstrumente. Geistreiche Thesen lösten sich ab, alles wurde so eindringlich den Massen nahegebracht, daß die allmählich eintretenden Störungen wie etwas lang Bekanntes und Erwartetes aufgenommen wurden.

Da gab es Störungen im Rundfunkempfang, aber das war nur lustig zu verfolgen, und die Besitzer einfacher Apparate freuten sich, daß nun auch die Leute mit den erstklassigen Mammutgeräten nichts anderes zu hören bekamen als Gekrach und Gekreisch. Auch Ferngespräche setzten manchmal schon aus, aber das wieder ärgerte nur die Herren von der Börse, und auch denen konnte man ein paar Unbequemlichkeiten wohl gönnen.

Im übrigen schrieben die Zeitungen tagtäglich, daß diese Störungen sich weiter verstärken würden, ja, daß in den entscheidenden Tagen wohl überhaupt jeglicher Nachrichtenverkehr, sei es nun über den Rundfunk, sei es durch Telephon oder Telegraph aufhören würde.

Schlimmer war es, daß es an manchen Teilen der Erde nicht mehr gelingen wollte, ordentliche Röntgenaufnahmen zu machen, aber da auch dies nur die Fachkreise der Ärzteschaft bemerkten, so gab es für die Massen nichts, was sie aus der vergnüglichen Vorfaschingsstimmung eines himmlischen Feuerwerks reißen konnte.

Von amerikanischer Seite wurde sogar schon mitgeteilt, daß die Nachrichtenmittel sehr wahrscheinlich erst zwei oder drei Wochen nach dem Sonnensturz der Gloria wieder richtig arbeiten würden, solange könnte man ruhig sein Telephon und seinen Lautsprecher abschalten.

Nur an wenigen Orten hatten sich Propheten aufgetan, die den Untergang der Welt predigten und etwas vom jüngsten Gericht zu berichten wußten. Aber kaum, daß sie ihre ersten Erleuchtungen zum besten gegeben hatten, kam, in welchem Lande es auch immer geschah, ein Polizist und nahm bei Nacht und Nebel den unangenehmen Propheten mit. Ja, selbst im Park zu London, diesem traditionellen Freiplatz jeglicher Privatmeinung und Predigt, durfte man nicht mehr straflos vom Untergange der Welt berichten. Nie kam ein solcher Mann dazu, länger als einen Tag seine Sprüchlein aufzusagen. Am anderen Tage fand man ihn nicht mehr. Scotland Yard hatte ihn zu Gast gebeten.

Peter schrieb täglich. Neues hatte er nicht mitzuteilen, er berichtete von dem Lager, das man nun aufbauen würde, irgendwo östlich des Nordkaps, in der Nähe einer Lappensiedlung. Die Instrumente zeigten auffällige Kurven nicht an, selbstverständlich verzeichneten auch sie sich steigernde elektrische Störungen, stärker werdende Strahlungen, die an Höhenstrahlung erinnerten, aber das alles waren lange erwartete Ergebnisse. Herrlich sei das Nordlicht anzusehen, das fast ununterbrochen flamme, ja das manchmal schon so stark sei, daß seine grünen und violetten Draperien sogar am hohen Tage zu sehen seien.

Gerdis las die Briefe, in der Sonne liegend, am frühen Nachmittag, sie las sie unbewegt, ohne Freude, aber auch ohne irgendeinen Schmerz, sie las sie mit dem Gefühl, als läse sie ein Buch in einzelnen Blättern, das von den Erlebnissen eines lange Vergangenen berichtete. Abends, beim Schein der Lampe, beantwortete sie sie getreulich und es war ihr, als schriebe sie einem lieben Toten, dem man ins Jenseits berichtet, daß nun häufig schon der Doktor Füßli komme, um nach der kleinen Frau zu sehen, ein netter Mann und offenbar ein sehr gescheiter Arzt. Er werde auch der kleinen Gloria ans Licht helfen, wenn es soweit wäre. Ja, Werner säße da mit dem alten Zurbriggen, der ein abgedankter Bergführer sei und Werners alter Freund, – er sähe aus, als sei er aus Leder geschnitten, so braun und so faltig und doch mit irgendeiner Kraft und Fähigkeit im Gesicht, die erstaunlich seien. Die beiden tränken den roten Walliser Wein, der im Glase glühen könne, und spielten Schach. Sie gewännen immer abwechselnd, der Verlierer aber müsse die beiden Viertel zahlen, das sei nun einmal so, auch wenn sie ihren eigenen Wein tränken.

Sie gab sich keine Rechenschaft von dem seltsamen Zustand, in dem sie diese Briefe schrieb, es schien ihr, als schriebe eine zweite Gerdis, eine seelenlose, ganz und gar irdische Gerdis, und die andere sähe gar nicht zu bei diesem sinnlosen Spiel, das sie sonst nur belächeln müßte. Sie ließ die Tage dahintreiben in dem einlullenden Gleichmaß der Schönheit. Sonne und Sterne kamen zu ihr, Duft und Falterflug, und ihre Augen füllten sich an mit der Tiefe des Himmels.

Werner zog geschäftig umher, er kaufte noch viele Dinge und war oftmals den ganzen Tag über in Lausanne oder Genf. Immer wenn er zurückkam, war sein Wagen bepackt mit den seltsamsten und abseitigsten Dingen.

Das Haus war prächtig geworden, sogar das Panzergewölbe aus Kupfer und Blei und den Chamottesteinen darüber war ohne großes Aufsehen hervorragend eingebaut worden. Ja, es war ein kleines Meisterstück, und Werner hatte den überraschten, auf ihr Werk aber doch selbst stolzen Technikern eine beträchtliche Sondersumme in die Hände gedrückt. Es war sicher gegen Röntgen-, Radium-, Höhen- und ähnliche Strahlen, es ließ keine Kurzwellen ein und keine Wärmewellen, es war gassicher und besaß sogar eine kleine Vorkammer, von der aus man Beobachtungen in Werners Zimmer hinein anstellen konnte, etwa auf Luftreinheit oder Strahlungseinfall. Im Gewölbe standen Sauerstoffflaschen und ein Apparat zur Aufnahme ausgeatmeter Kohlensäure; Atemluft war für drei Wochen vorhanden, Proviant für drei Monate. In den übrigen Kellerräumen lagerten Vorräte, genug, um 20 Menschen drei Jahre lang zu ernähren, und Munition und Waffen, um gegen ein ganzes Regiment wochenlang standzuhalten, das etwa in feindlicher Absicht käme. Dazu war eine große und schöne Bibliothek heraufgekommen, die nun Erlinspiels Zimmer mit ihren bunten Buchrücken belebte. Schließlich hatte Werner noch eine Quelle neu fassen lassen und ihr wunderbar kühles und reines Wasser in einem dicken Bleirohr ins Haus geleitet. Außerdem war Petroleum da, genügend, ein Jahr lang ununterbrochen die milchige Glocke der alten Lampe mit sanft gelbem Lichte zu erfüllen. Oer Kamin aber konnte lange brennen in der Bibliothek, bis er all das Zirbelholz, das hinter dem Stadel aufgestapelt lag, mit rotleckender Flamme zu weißlicher Asche verbrannte.

Dies alles war nun getan.

Und es blieb nichts mehr übrig, als zu warten, auf Neuigkeiten von Peter, auf besondere Anzeichen, die sich vielleicht zeigen würden, oder auf das schreckliche Ereignis selbst. Werner machte kleine Ausflüge, beobachtete Kompaß und Chronometer, Inklinationsnadel und Elektrograph.

Zurbriggen kam oft, sie gingen dann zu dritt die kleine halbe Stunde zum Gletscherrande, aus dem durch dunkelblaue Eistore schäumend der Bach entsprang.

Abends saßen die Männer bis spät in die Nacht und Werner erklärte dem alten Zurbriggen langsam und vorsichtig, was er von dem Stern da oben hielte. Er war sicher, daß Zurbriggen schweigen würde von dem, was er erfuhr, und Zurbriggen schwieg auch gegen jedermann.

In der Welt stieg die Spannung steil an. Nun redete wirklich jeder nur noch von der Gloria, es schien, als sei alles andere Interesse erloschen. In diesen Tagen hätten Kriege und Revolutionen ausbrechen können, man hätte künstliches Gold in Zentnern herstellen können oder einen neuen Kontinent entdecken, – kein Mensch hätte sich darum gekümmert. Die Zeitungen bestätigten es in jeder Ausgabe. Erlinspiel las sie aufmerksam, aber er entdeckte nirgendwo auch nur einen Hinweis auf neue unbekannt gewesene Gefahren.

In Brig und Sitten, in Lausanne und Genf wurden die ältesten Fernrohre hervorgeholt, und wie auf den Straßen und Plätzen dieser Städte, so wuchsen überall die Teleskope aus der Erde. Für zwanzig Pfennige konnte man den Stern betrachten, der nun in Mitteleuropa schon am späten Nachmittag als weißglühende Scheibe am Himmel zu sehen war, der Mond blich aus gegen seinen Schein, der bis nach Mitternacht stetig den Himmel beherrschte.

Abend für Abend waren die Straßen der Welt und ihre Städte angefüllt mit Menschen, die empor zum Himmel starrten, um die Fernrohre und Teleskope ordneten sich Zelte und Buden, für Eis und Limonade, Bier und Würstchen, heiß aus der Hand Zu essen. Es wurde überall ein richtiger Marktrummel daraus und die Zeitungen berichteten immer neue ergötzliche Dinge von diesem nächtlichen Straßentreiben. Freiluftkabaretts, die alle irgendwo den Namen Gloria in ihrer Firma führten, belustigten die Menge, Gloria-Schlager spielten die Musikkapellen der großen Hotels wie die Walzen der Leiermänner.

Unzählige Mädchen, in diesen Tagen geboren, wurden auf den Namen Gloria getauft.

In den meisten Ländern war für den 7. bis 9. Juli völlige Arbeitsruhe angesagt worden, die großen europäischen Reisebüros kündigten Nordlandreisen an, im Fahrpreis war die erstklassige Beobachtung des Sternsturzes in die Sonne durch eigens mitgeführte Fernrohre mit einbegriffen.

Die großen Schiffahrtslinien waren schon jetzt gleichfalls bis auf die letzte Hängematte für ihre Sonderfahrten nach Norwegen ausverkauft. Erlinspiel griff sich an den Kopf. Die Welt schien wirklich von einem Taumel ergriffen zu sein, – aber nicht vom Taumel der Angst, der Panik und aufheulenden Furcht, sondern ausgelassener Heiterkeit, als flösse überall Wein und ein grandioser Fasching verhieße ungeahntes Gelächter.

Einmal wollte Werner Gerdis mit hinunternehmen nach Brig, auch sie sollte einen Blick tun auf dieses närrische Treiben. Ein besonders geschäftstüchtiger Unternehmer hatte dort ein uraltes riesiges Fernrohr vor der Stadt inmitten zahlreicher Buden aufgebaut und behauptete allen Ernstes, man könne so die glühenden Gase des Sternes wirbeln sehen. Die Leute liefen wie wild zu seiner Zauberröhre, trotzdem er einen Franken für die Minute verlangte. Ja, sogar aus Domodossola, von jenseits des Simplon, kamen sie mit der Bahn herüber, um diesen wunderlichen Anblick zu erhaschen.

Dann aber hatte es in den Bergtälern bei den Bauern zu raunen angefangen, daß man wohl geradewegs in das Fegefeuer geblickt habe, und manche wollten sogar kleine, langgeschwänzte Teufel, so groß etwa wie kleine Mitsommermücken, gesehen haben, die in der wirbelnden Glut herumsprangen.

Da verbot die Regierung zu Genf dem Geschäftstüchtigen seinen Fernrohrbetrieb, beschlagnahmte das gefährliche Instrument und führte nun mit einem guten und starken Fernrohr selbst die Besichtigungen des Irrsternes durch. Durch einen Vergleich mit dem alten Teleskop, durch das jetzt ein jeder umsonst einen Blick tun konnte, war leicht einzusehen, daß das, was man für Fegefeuerwirbel und tanzende Teufel gehalten, nichts waren als Schlieren im Glase des uralten Fernrohres. In dem neuen großen Objektiv aus Genf sah man den Stern als gleißende, große Scheibe, fleckenlos und erschreckend klar. Deshalb wollte Werner Gerdis nach Brig mitnehmen, daß sie auch einmal die Gloria aus der Nähe sich ansähe und alle Einzelheiten an ihr studiere. Hier oben, mit seinem eigenen kleinen Fernrohr, war das noch nicht möglich.

Aber Gerdis wehrte ab. Nein sie wollte nicht einmal nach Brig und schon gar nicht wolle sie diesen Stern auch noch durch ein Fernrohr ansehen. Es sei schön und friedlich hier oben und die Gloria sähe man ja leider schon mit bloßem Auge mächtig genug den Himmel erhellen, was also bedürfe sie noch eines Teleskops.

Nach einer Weile, während der sie still neben Werner herschritt, bis zu den verwitterten Lärchen am Nordabfall der granitenen Kuppe, fügte sie plötzlich hinzu: »Übrigens sieht ihn ja Peter sowieso den ganzen Tag und die ganze Nacht.«

So fuhr Werner allein ins Tal hinunter, mit einem englischen Reverend, den er vor einigen Tagen am Rande des Allalin-Gletschers getroffen. Er war einer der wenigen, der es in den Hotels des Saas-Tales noch aushielt, die anderen Gäste waren längst schon abgereist, – wenn sie es auch nicht aussprachen, doch in Sorge um ihre Wohnung, ihr Haus, ihren Besitz.

Die beiden Männer bummelten durch die Budenstadt, guckten pflichtschuldigst durch das Fernrohr und setzten sich schließlich auf dem Marktplatz zu einem Glase Wein zusammen.

Nach einigen, langsam eingesogenen Schlucken des roten Sittener lehnte sich der Reverend zurück.

»Was denken Sie eigentlich von dieser ganzen Sache, Mister Erlinspiel?« fragte er. Er kniff dabei das linke Auge halb zu, was seinem langen, hageren Gesicht das Aussehen eines Mannes lieh, der viele Geheimnisse anderer weiß.

»Wie meinen Sie das«, fragte Werner zurück. Er war nicht erstaunt, daß der Reverend anfing, von der Sache Gloria zu sprechen, was ihn verblüffte, war die Art, wie der Reverend es tat. Und vielleicht war es eben dieses halb zugekniffene Auge, das ihn verwirrte. Denn der Engländer hatte ganz leidenschaftslos gefragt, fast ohne einen Ton in der Stimme und auf jeden Fall höchst gleichmütig, so als frage er auf einem Rübenacker einen Mann, was er denn nun von dem Fortkommen dieser neuen Sorte hielte …

Der Reverend verschränkte die Arme vor der Brust.

»Die hübsche, kleine Frau«, sagte er, »die da oben bei Ihnen wohnt, ist doch mit dem berühmten jungen Astronomen verheiratet, der zuerst die Bahn von dem unheimlichen Dings da oben errechnet hat. Ist sie es nicht?«

»Sind Sie Astronom?« fragte Werner zurück.

»Oh nein, aber ich habe einen Bruder in London, der etwas mit diesen Dingen zu tun hat, – und wenn der Name Kagemann auch nicht täglich in den Zeitungen steht, so wissen ihn die Fachgelehrten doch sehr wohl.« Da Werner schwieg, fuhr er, nach einem neuen Schluck Weines, fort: »Ich denke, daß jemand, der die kleine Frau hier herauf geschleppt hat, vielleicht auch etwas weiß von dem, was Peter Kagemann festgestellt hat. Mister Kagemann selbst ist ja wohl am Nordkap. Ist er?«

»Ja«, erwiderte Werner auf diesen direkten Vorstoß, »er leitet die Expedition der Potsdamer Sternwarte. Übrigens stand das doch in allen Zeitungen.«

Der Reverend lächelte dünn. »Ich denke«, fuhr er fort, »daß er Sie und die Frau hierher geschickt hat, um sie in Sicherheit zu bringen?«

Er sah Werner gerade ins Gesicht, seine sehr dunkelblauen Augen waren ruhig und verrieten keinerlei Bewegung des Herzens.

»Die Astronomen glauben nicht an gefährliche Ereignisse«, wich Werner vorsichtig aus. Er war sich keineswegs im klaren darüber, wo hinaus der Prediger wollte.

»Gut, die Astronomen nicht, aber vielleicht ein Astronom?«

Der Reverend zog wieder die Lider des linken Auges zu einem schmalen Spalt zusammen. Werner zuckte die Schultern. Er hatte nicht die geringste Lust, diesem Manne aus der englischen Freikirche Geheimnisse ans Bein zu binden. Mochte der angenehme Herr und Diener Gottes sich denken, was er wollte, und wenn er tausendmal einen Bruder in London hatte, der etwas mit diesen Dingen zu tun hatte. Oder – war das vielleicht nur ein Spion? Einer, der in fremdem Auftrage ihn aushorchen sollte?

Der Reverend blieb sanftmütig, er massierte weder sein langes, blasses Kinn, noch veränderte er seinen gleichmütigen Tonfall, der fast langweilig war.

»Wir wollen offen miteinander sprechen, Mister Erlinspiel«, sagte er. »Übrigens ein etwas schwieriger Name. Ich denke, daß die meisten von uns wohl nicht mehr lange leben werden. Und ich finde Ihren Versuch nett, ein wenig von unserer christlichen Kultur zu retten. – Hab Ihre Bücher gesehen durchs offene Fenster, als ich neulich zum Gletscher ging«, fuhr er fort, als er Werners erstauntes Gesicht sah. »Nimmt man doch wohl kaum mit auf eine Sommerschitour, nicht?«

Und ehe Werner antworten konnte, fügte er rasch hinzu: »Glauben Sie übrigens, daß man morgen das Zinal-Rothorn riskieren kann? Denke, daß der Grat ziemlich aper sein dürfte.«

Er zwinkerte Werner wieder aus halbgeschlossenem Auge an.

Erlinspiel beugte sich leicht vor. »Sicher«, sagte er. »Es wird nicht schwierig sein. Heißen Sie eigentlich wirklich Morristone?«

Der Reverend lächelte. »Gewiß«, sagte er höflich. »John Lewis Morristone.«

Sie sprachen nicht mehr von den Dingen des Tages. Werner sah in den Nachthimmel, der Reverend erzählte von seiner Fahrt auf das Zinal-Rothorn vor einundzwanzig Jahren.

Erst als der Wagen, nach vielen sorgsam durchsteuerten Kurven, spät in der Nacht in Saas-Fee hielt und Morristone ausstieg, sagte er, und es war, als hätte er seine erste Bemerkung vom Sterben erst in diesem Augenblicke gemacht: »Sehr tapfer übrigens von der kleinen Frau, sehr lobenswert. Meine allergrößte Hochachtung. Und viel Glück!«

»Viel Glück zum Zinal-Rothorn«, gab Werner zurück. »Sie werden bald wieder aufstehen müssen.«

»Vielleicht sehe ich von dort oben mehr von dem Stern«, scherzte der Reverend. »Werd Ihnen berichten.«

Er verschwand im Hotel. Nachdenklich fuhr Werner den Wiesenweg zu seinem Haus.

Es waren also noch andere da, die an einen Untergang glaubten, nicht der Welt, aber doch der europäischen Kultur und vieler Menschen. Er ertappte sich dabei, wie er plötzlich den Reverend als äußerst angenehm empfand und fast so, als gehöre er zu ihm.

Bevor er sich schlafen legte, lauschte er lange an Gerdis Tür. Er hörte ihre ruhigen Atemzüge, offenbar schlief sie schon lange und kein böser Traum störte ihren Schlaf.


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