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Siebentes Kapitel

Der Juli kam. Die letzten Fremden verließen das Tal der Saas. Nach seiner Tour auf das Zinal-Rothorn war auch der Reverend nicht wieder aufgetaucht. Werner und Gerdis waren allein. Der Briefträger hatte ein kurzes Telegramm von Peter gebracht, daß alles bereit sei, er werde aber wohl in den nächsten acht Tagen kaum etwas von sich hören lassen können, denn die Störungen im Nachrichtenverkehr seien bereits beträchtlich.

Gerdis wurde noch stiller. Ihre Wangen wurden langsam wieder blaß, trotz der brennend heruntersengenden Vorsommersonne. Man sah förmlich unter dem leichten Braun, das sich über ihr Gesicht gelegt hatte, wie das Blut aus dem Gesicht sich zurückzuziehen schien zum Herzen. Sie war lange müde am Tag, der Schlaf schien sie nicht mehr zu erquicken.

Gloria schien nun am Tage so hell wie eine nebelverhängte Sonne. Wenn das Tageslicht verlosch, wurde es doch nicht dunkel, ja am Abend sah es aus, als schienen zwei Sonnen am Firmament.

Die Nächte blieben hell, solange Gloria über dem Horizont stand, und das war bis nach ein Uhr. Es war, als wäre der Polartag nun auch über Mitteleuropa gekommen. Der warme Sommer wurde täglich heißer, brausend schoß das Wasser aus dem abschmelzenden Gletscher. Die Bergflanken wurden jetzt schon schneefrei, wie sie es sonst erst im August zu werden pflegten. Auch die Nächte blieben warm, die Erde kühlte nicht mehr aus, die Luft blieb gleichmäßig erhitzt. In Asien und Amerika fielen die Menschen hundertweis der Hitze zum Opfer, und auch in Berlin und Paris schlief man bereits im Freien, weil es in den Wohnungen kaum noch zu ertragen war. Gloria begann ihr Werk. Die meisten europäischen Flüsse wiesen einen kaum erlebten Tiefstand des Wassers auf, die Seen schrumpften ein. Schon jetzt war es sicher, daß eine Mißernte nicht abzuwenden war. Die Bauern begannen das Vieh abzuschlachten, die Preise zogen langsam an, trotzdem die Regierungen rücksichtslos einschritten, ja in Deutschland sogar eine Reihe von Wucherern kurzerhand hinter Schloß und Riegel gesetzt wurden.

Blasser wurde Gerdis und heißer die Luft.

Und Gloria wirbelte weiter auf ihrer Bahn dahin.

Sie ging nun erst um vier Uhr in der Frühe unter, wenige Zeit, ehe die Sonne sich wieder strahlend und sengend über dem Sichtkreis erhob.

Es schien, als brennten die beiden Gestirne glühend einander entgegen. Am 7. Juli würde die Nova Gloria erst gegen fünf Uhr früh unter den Horizont sinken, jeder würde also Gelegenheit haben, den großen Augenblick mitzuerleben, da der Stern die Bahn der Erde durchschnitt. In dicken Schlagzeilen verkündeten die Zeitungen den entscheidenden Augenblick, sie gaben genauestens an, wie das alles vor sich gehen würde, und beruhigten gleichzeitig dieserart die Furchtsamen wie sie die Neugierigen ermunterten und befriedigten. Es war sicher, alles war vorausgesehen, vorausbedacht und die Menschheit hatte nur noch zu beobachten, ob die klugen Herren nicht doch irgendeine Kleinigkeit anders voraussagten, als es nachher sich abspielte.

Und die Menschen strömten auf die Plätze und Straßen, füllten die Hausdächer und die Ränder der Dörfer. Überall waren Fernrohre aufgestellt, Feldstecher wurden zu Tausenden vor die Augen gehalten, mit geschwärzten Gläsern, der nun übergroßen Helligkeit Glorias wegen. Und wer weder Fernrohr noch Fernglas besaß, der hatte wenigstens ein berußtes Stück Glas in der Hand, wie man es zu benutzen pflegt, um eine Sonnenfinsternis zu betrachten.

Extrablätter berichteten stündlich, sie verkündeten immer wieder Stunde, Minute, Sekunde des Durchganges durch die Erdbahn. Und weitere Millionen machten sich bereit, nur ja diese Sekunde nicht zu versäumen, da Gloria eine imaginäre Linie im All passieren würde.

Es war unerträglich heiß. Getränke waren kaum noch zu haben. Würstchen kosteten das Doppelte wie am Tage zuvor, Eis das Dreifache. Man raunte sich zu, daß in Polen die Schweine zu Tausenden verdursteten, in Argentinien die Rinderherden zu Zehntausenden fielen. Niemand wußte, woher diese Nachrichten kamen, aber man erzählte sie eilends weiter.

Nun war auch schon nicht mehr Stimmung da für Schlager und Musik, Würstchen und Scherz.

Die Welt mündete ein in ein großes starrendes Schauen.

Und Gloria fuhr dahin, gleißend durchs All.

* * *

Werner hatte Dr. Füßli gebeten, den Abend mit ihm und Gerdis zu verbringen. Gerdis Zustand beunruhigte ihn, ja er entsetzte ihn fast. Sie war nun so still und bleich, daß es schwer war, in ihrer Gegenwart überhaupt ein lautes Wort zu sprechen. Als der Arzt gegen acht Uhr kam, sagte er ihm rasch unter der Tür, daß Gerdis ganz offenbar sich vor dem Stern fürchte. Doktor Füßli zog die Augenbrauen hoch und sah Werner an. »Vielleicht ist es das Kind?« meinte er.

Werner schüttelte den Kopf. Er glaube, daß es allein der Stern sei, der Gerdis so elend mache. Der Doktor wollte das nicht annehmen, versprach aber, nachher Gerdis eingehend zu untersuchen. So traten sie in das Zimmer. Die Fenster standen weit offen, vom Gletscher her kam eine Andeutung von Kühle. Gerdis saß am Tisch; als die beiden Männer zu ihr traten, stand sie langsam auf, es schien, als fiele es ihr schwer. Sie aßen schweigend, nur hin und wieder tauschten Erlinspiel und Füßli ein paar Bemerkungen. Gespenstisch hell flammte der Stern in unerträglich weißem Licht ins Zimmer. Erlinspiel stand auf und zog die Vorhänge zu, aber sie vermochten nicht, die Helle zu verscheuchen. Da ging Werner hinaus und schlug die Fensterläden vor.

Als er zurückkam, hörte er Gerdis sprechen.

»Sie dürfen mich ruhig untersuchen, Herr Doktor«, sagte sie, »vielleicht ist es sogar ganz interessant –«, sie wendete leicht den Kopf zu dem Eintretenden –, »auch für Sie, Werner.« Sie lächelte.

Werner erstaunte aufs neue über ihre Art, Gedanken zu erraten, Gedanken, die er selbst kaum bewußt gedacht hatte. Ja, hatte er wirklich ganz drinnen bei sich gedacht, daß er aus Gerdis verändertem Zustand Aufschluß erhielte über die Katastrophe, die Gloria in zwei Tagen der Welt bereiten würde? Er hatte es sicher nicht klar und nüchtern erwogen, es war eher ein unbestimmtes und unerklärliches Gefühl gewesen, ein abgründiges Wissen, daß irgendein Zusammenhang da sein müsse, wenn auch unbegreiflich, worin er bestehen könnte. Und nun sprach Gerdis selbst es aus …

»Wie wäre es denn mit einer Blutprobe«, meinte Füßli, nachdem er die Augenlider Gerdis leicht angehoben und aufmerksam betrachtet hatte. »Es ist sicher nichts Anormales, aber eine gewisse Blutarmut.«

»Ich bin eigentlich nie blutarm gewesen«, sagte Gerdis. »Als Kind habe ich noch nicht einmal Lebertran zu essen brauchen.«

Füßli lächelte. »Trotzdem wollen wir mal nachsehen«, meinte er, und machte seinen Besteckkasten zurecht.

Nach etwa einer Stunde ging er. Er hatte Gerdis nach allen Regeln der Kunst abgeklopft und abgehört, hatte sie tief und flach atmen lassen, hatte das Herz belauscht und alle die Fragen gestellt, die man in solchen Fällen zu stellen pflegt. Er hatte leicht und rücksichtsvoll die Lage des Kindes festgestellt und beifällig genickt und es blieb nichts als zu verkünden, daß Gerdis kerngesund sei, vom Scheitel bis zur Zehenspitze.

Unerklärlich blieben die Mattigkeit und die schwere Blässe. Dies zu ergründen, trug Dr. Füßli ein paar Tropfen Blut mit heim, die er aus Gerdis Ohrläppchen gezapft hatte.

Als Füßli fort war, sagte Werner ernst: »Würden Sie mir einen großen Gefallen tun, Gerdis? – Würden Sie den Rest der Nacht, – wenigstens solange er am Himmel steht, in unserem Gewölbe bleiben? Ich wollte das schon vor einigen Tagen Ihnen vorschlagen, aber ich dachte, – ich meinte, – nun, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich werde Ihr Bett unten im Gewölbe herrichten, und werde, wenn Sie wollen, bei Ihnen bleiben, bis, – bis er untergegangen ist.«

Gerdis sah ihn mit ihren grauen Augen an, sie lächelte leise und schmerzvoll. Dann streckte sie ihm die Hand hin.

»Guter Werner«, flüsterte sie, und ihre Stimme war noch dunkler als sonst, »es geht mir doch ganz gut.«

Er führte sie in das Gewölbe, er schüttete ihr das Feldbett voller Kissen, er wartete, ihre kühle Hand in der seinen, bis sie eingeschlafen war.

Als er das Gewölbe wieder verließ, war Gloria längst innerhalb der Erdbahn. Sie stürzte weiter, der Sonne zu.

Sehr matt legte sich Werner schlafen.

Am frühen Morgen schon war Dr. Füßli wieder im Haus. Er zog Werner beiseite, nachdem er Gerdis strahlend begrüßt hatte. Sie fühlte sich etwas frischer und war früher als sonst aufgestanden.

»Wollen wir nicht ein wenig spazieren gehen«, flüsterte er Werner zu. Während Gerdis das Frühstück vorbereitete, gingen die beiden Männer in die grelle Sonne hinaus.

»Ich werde nicht klug aus der Geschichte«, fing Füßli an. »Ich habe sofort nach meiner Heimkehr noch die Blutprobe untersucht, und, – und die roten Blutkörperchen benehmen sich anders als sonst, ich möchte sagen träger, energieloser, sie beginnen, den weißen zu ähneln, obwohl ich nicht einmal genau sagen kann, wie und auf welche Weise. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob das mit dem Stern zusammenhängt, ich kann Ihnen auch nicht sagen, was es eigentlich ist, und schon gar nicht, was das medizinisch zu bedeuten hat.«

»Das ist ja auch nicht nötig«, meinte Erlinspiel. »Was Sie da sagen, ist ja schon eine Bestätigung der Theorie. Denn nicht wahr, an anderen Frauen, die ein Kind unter dem Herzen tragen, haben sie derartiges niemals festgestellt?«

»Nein«, bestätigte Füßli, »nein, es ist ein ganz sonderbarer Anblick. Ich will noch eine Spektraluntersuchung machen, Sie wissen, ich habe aus Liebhaberei ein kleines Labor hier hinaufgeschleppt seit vielen Jahren. Nun kommt es mir gerade recht.«

Erlinspiel dachte nach.

»Sagen Sie mal, Doktor«, meinte er dann, »könnten Sie nicht einmal im Tal herumhorchen, ob noch andere Leute sich so schlapp und ermattet fühlen? Wenn der Stern auf Gerdis, auf Frau Kagemann, so stark einwirkt, dann müßte er doch auch auf andere Menschen gleich oder ähnlich wirken? Wollen Sie sich nicht auch deren Blut ansehen?«

Dr. Füßli sah auf, seine Augen weiteten sich. »Teufel, Teufel«, murmelte er, »meinen Sie wirklich …« Es schien, als scheute er sich weiterzusprechen, mit einer hilflosen Geste wies er nach oben.

»Ich meine«, erwiderte Werner. »Ich bin sogar fest überzeugt. Und nun kommen Sie frühstücken.«

* * *

Werner fuhr noch einmal ins Tal, er war sicher, daß es für lange Zeit das letzte Mal war. In Lausanne las er sorgfältig alle Zeitungen, sie berichteten seitenlang über das große Ereignis des vergangenen Tages, es klang in allen Artikeln der Stolz hindurch, daß nicht das Geringste ernsthaft geschehen war. Allerdings, es fehlten alle Berichte von den Expeditionen, den Observatorien, den Beobachtungsstationen, die überall in der Welt eingerichtet worden waren. Wie auch sollte man Nachrichten herbeizaubern, wenn kein Rundfunk, kein Telegraph, kein Telephon arbeitete, – dafür brachte man lange Abhandlungen mit klingenden Namen erster Wissenschaftler, aber es war klar, daß diese Artikel geschickt vorbereitet worden waren. Sie gaben nichts Neues und vor allen Dingen nichts Genaues.

Die Menschen machten einen müden Eindruck, es schien, als wären sie alle von einem Faschingsball heimgekehrt und hätten nun ein wenig Kopfschmerzen. Zu groß war doch die Spannung gewesen, und wenn man es recht betrachtete, so war eben in der vorübergegangenen Nacht gar nichts losgewesen, nicht das geringste, – hätten es die Zeitungen nicht wochenlang vorher verkündet, niemand wäre auf den Gedanken gekommen, daß es in dieser Nacht eine wichtige Sekunde gegeben hätte.

Die allgemeine Erschlaffung dämpfte sogar die Neugierde auf den nun wahrhaft wichtigen Tag, den morgigen, an dem sich die Gloria in die Sonne stürzen würde, so sich auslöschend aus dem Leben des Alls. Werner jagte den ganzen Tag durch Lausanne und Genf, unermüdlich kaufte er ein und stellte nur eine Bedingung –, daß die bestellten Waren sogleich morgen in aller Frühe nach Saas-Fee geliefert würden. Er bezahlte den vollen Kaufpreis im voraus, – so fragte niemand, was er denn mit diesen Dingen in Saas-Fee anfangen wollte.

Je weiter der Nachmittag voranschritt, desto mehr schien es Werner, als handle er wie in einem Traum, er sah sich selbst wie einen Spieler, der ohne rechte Besinnung schon alles nachtwandlerisch und ohne nachzudenken auf eine Karte setzt, – und der, fragte man ihn, nicht anzugeben wüßte, auf welche Karte er soeben gesetzt. Zu guter Letzt kaufte er hunderttausend englische Zigaretten, dazu einige Pfund Tabak und drei erstklassige Pfeifen. Als er diesen Schatz in seinem Wagen verstaute, lächelte er.

Und obwohl er eine Schachtel Zigaretten in der Tasche trug, hielt er doch auf der Heimfahrt den Wagen an, kurz hinter Brig, wo der Weg einbiegt in das Saaser Tal der Visp, bohrte, jungenhaft, ein Loch in das große Zigarettenpaket und stahl sich eine von den englischen Tabakröllchen. Tief sog er den süßen Rauch ein, dann setzte er sich befriedigt wieder ans Steuer und brummte die steile Straße nach Saas hinauf.

Es war Abend, als er eintraf. Bei Gerdis saßen Zurbriggen, der seinen alten Bart liebevoll strich, und Dr. Füßli, der aufgeregt in die gelbliche Lampe blinzelte. Gerdis erzählte, es war eine Geschichte aus ihrer Mädchenzeit, wie sie einmal von einer Kreuzotter gebissen wurde.

Offenbar hatte man auf ihn gewartet, das Abendessen stand angerichtet. Bevor er sich niedersetzte, ging er durchs Haus. Er sah kurz in das Panzergewölbe hinein, betrachtete das niedere Feldbett, das er gestern hergerichtet hatte. Vielleicht hausen wir in einem Tage für lange Zeit hier unten, dachte er.

Er sah den Chronometer nach, den er hier aufgestellt hatte, und stellte seine Taschenuhr, die zwei Minuten nachging. Dann ging er in sein Arbeitszimmer. Er wußte nicht, was er eigentlich dort suchte, er hätte sich an den Abendbrottisch setzen müssen, anstatt hier herumzulaufen, aber er konnte nicht anders, es schien ihm, als erwarte ihn eine Lösung. Auf dem Schreibtisch stand der zweite Chronometer, absichtlos zog er seine Taschenuhr abermals hervor, verglich, stutzte, verglich wieder, – die beiden genauestens geeichten Uhrwerke, dieses hier und das im Gewölbe stimmten nicht mehr überein. Auch dieser Chronometer ging zwei Minuten nach.

Werner erschrak. Es war ihm, als habe er von irgendwoher einen Schlag bekommen, ja, er spürte ihn fast körperlich auf dem Rücken.

Nun also kommt das Unheimliche, dachte er, und ärgerte sich sogleich, weil er diesen Gedanken albern und dumm fand. Dennoch überfiel ihn Unruhe, er rannte zum Gewölbe zurück, er schleppte die beiden Chronometer ans Fenster, stellte sie dicht nebeneinander, starrte sie lange beschwörend an. Sie tickten leise und eifrig, und sie unterschieden sich beide um ganze zwei Minuten.

Es war unmöglich, daß dies mit richtigen Dingen zuging. Diese Uhrwerke waren die besten, die es in Europa gab, auch die Sternwarte zu Genf hatte keine besseren, in acht Tagen konnten sie höchstens um eine Zehntelsekunde verschieden gehen.

Vorsichtig trug er den einen Chronometer wieder in das Gewölbe. »Wir werden sehen«, murmelte er, »wir werden sehen.«

Als er ins Zimmer zu den anderen trat, war er sehr bleich, aber auch sehr gefaßt. Er hatte ein Geheimnis entdeckt, er konnte es noch nicht deuten, aber er war fest davon überzeugt, daß er es enträtseln würde, bevor morgen Gloria den großen vernichtenden Sturz tat.

Das Essen verlief schweigsam, kaum, daß der eine oder der andere ein paar gleichgültige Sätze sprach. Gerdis war wieder sehr matt, sie wollte sobald als möglich in das Gewölbe gehen und zu schlafen versuchen. Der alte Zurbriggen sog bedächtig seine Gläser roten Weines aus und brummelte dazwischen Sätze über Gemsjagden in seinen Bart, Doktor Füßli machte ein paar Späßchen über bergsteigende Damen aus London, die er hatte zusammenflicken müssen, weil sie vor einem Murmeltier erschraken und sich die Haxen verrenkten auf kopfloser Flucht.

Dann ging Gerdis, sie lächelte, ihre Augen waren sehr verschattet. Sie ging langsam, vorsichtig, als fürchte sie zu fallen und dem Kinde in ihr wehe zu tun.

Werner sah ihr nach.

»Nun, haben Sie etwas gefunden, Doktor«, fragte er, als Gerdis geschlossen hatte.

Ja, zwei Mädchen habe er noch ausfindig gemacht, erwiderte Füßli, die ganz die gleichen Erscheinungen zeigten wie Gerdis. Er habe auch von ihnen Blutproben entnommen. Die roten Blutkörperchen sähen unter dem Mikroskop gerade so aus, wie die, die er gestern untersuchte.

Zurbriggen strich seinen Bart.

»Weibervolk«, sagte er, halb fragend, halb listig.

»Glauben Sie wirklich, daß das mit dem Stern zusammenhängt?« fragte Füßli Erlinspiel.

»Sicher, ich denke, daß er allein die Ursache ist. Haben Sie Ihre Spektralanalyse gemacht?« Werner zündete sich eine Zigarette an, das Feuerhölzchen in seiner Hand zitterte leicht.

»Ich werde nicht klug daraus«, meinte der Doktor. »Seit heute vormittag zergrüble ich mir den Kopf. Seit heute nachmittag werde ich langsam verrückt. Heute vormittag sah ich das Blut von Frau Kagemann im Bänderbild des Spektrums. Heute nachmittag sah ich die beiden anderen Blutbilder.«

Er schwieg und sah angestrengt vor sich hin auf einen kleinen roten Fleck, der, ein verschütteter Tropfen Wein, neben seinem Glas auf der Tischdecke war.

»Das Blut aller drei Frauen ist völlig gesund, es zeigt alle charakteristischen Linien, es sind keine Krankheitsanzeichen zu sehen. Die Zusammensetzung ist normal, und doch, etwas ist an allen drei Bildern gleichmäßig anders, es hat mich entsetzlich aufgeregt. Die Eisenlinien waren ganz schwach, ganz verwischt, ich möchte sagen breit und grau, sie fehlten nicht etwa, sie waren nicht verschwunden, ausgefallen – nein, sie waren anders, auf eine unheimliche Weise anders. Ich weiß nicht, ob Sie jemals ein Spektrum gesehen haben, mit Linien und so, oder gar ein Blutspektrum, vielleicht können Sie meine Erregung gar nicht verstehen. Ich komme Ihnen wahrscheinlich komisch vor, aber mich packte geradezu Entsetzen, denn je länger ich hinsah, je später der Tag wurde, desto grauer und verwaschener wurden die Linien, daß mir unheimlich wurde, so als säße irgendwo ein geheimnisvolles Schicksal, das ich nicht enträtseln konnte, und das mir gleich in das Genick springen würde …«

»Sehen Sie an«, unterbrach Werner, »halten Sie das Gefühl auch?«

»Wieso?« fragte Füßli verblüfft.

»Ich erzähle Ihnen das später. Sie meinen also, daß sich, wenn ich alles richtig verstanden habe, daß sich der Eisengehalt der roten Blutkörperchen verändert hat.«

»Nein, nein«, flüsterte Füßli, »das ist es ja gerade, der Gehalt hat sich nicht verändert, es ist immer noch dieselbe Menge Eisen da, aber das Aussehen, die Struktur, die Qualität – mein Gott, wie soll ich mich nur ausdrücken, die Art des Eisens hat sich verändert.« Er schwieg erschöpft, nun hatte er die Ungeheuerlichkeit gesagt. Es war ihm, als hätte er den verborgenen Namen Gottes verraten, und nun kämen der Tod und die ewige Verdammnis. Der runde, saftige Dr. Füßli sah verfallen aus, grau und zusammengeschrumpft, ein Bild des Jammers.

In diesem Augenblick klopfte es. Zurbriggen ging ans Fenster – es war ein Eilbrief für Erlinspiel.

Er kam aus London und war von John Lewis Morristone.

»Hätte mich gern noch mit Ihnen unterhalten«, schrieb er. »Jedoch meine Herde rief nach dem Hirten. Sollte sie mich nach dem kommenden Ereignis nicht mehr brauchen, so werde ich mich an Saas-Fee erinnern. Ich wünsche Glück zum Versuch, etwas von unserer Kultur zu retten. Meine schwachen Kräfte stehen zur Verfügung, wenn überhaupt noch etwas nach dem 9. übrig ist. Gruß der kleinen tapferen Frau. Gott segne sie! Ihr Morristone!«

Erlinspiel mußte wider Willen lächeln. Das war nun der Reverend. Schickte einen Eilbrief aus, um eine letzte Freundlichkeit zu sagen. Wäre der Telegraph noch gegangen, hätte er das alles depeschiert. Schweigend gab Erlinspiel den Brief Dr. Füßli, und als dieser gelesen hatte, Zurbriggen.

»Sie glauben nicht, daß es noch eine Rettung gibt«, sagte Zurbriggen. Er war sehr ruhig.

»Vielleicht«, antwortete Erlinspiel, aber er legte keinen großen Nachdruck in dieses Wort.

»Sehen Sie«, meinte Zurbriggen, »ich selber bin ein alter Mann, und es ist mir gleich, wann ich sterben soll. Und wenn es nun morgen sein muß, und wenn morgen alle Menschen zugrunde gehen müssen – dann will ich die anderen hier –«, er machte eine große umspannende Geste das Tal hinaus, »gar nicht erst warnen und ängstlich machen. Warum sollen sie die letzten vierundzwanzig Stunden schreien und jammern und weinen. Besser schon, sie merken es erst, wenn sie schon mitten im Sterben sind. Aber« – Zurbriggen stand auf – »ich verstehe nichts von dem, was Dr. Füßli gesagt hat –, ich vertraue Ihnen, weil ich Sie kennengelernt habe droben in den Bergen, wo keine Falschheit sich verstecken kann – Herr Erlinspiel, wenn es eine Möglichkeit gibt zur Rettung, und ich frag Sie jetzt auf Ehr und Gewissen, dann sagen Sie es. Denn dann will ich es den Menschen im Tal sagen.« Und leiser fügte er hinzu: »Ich habe ein paar Enkel da drunten und ein paar Enkelinnen …«

Ja, da war nun die Entscheidung, Werner konnte nicht mehr daran vorbei. Er konnte nicht sich zu retten versuchen und Gerdis – und das Tal, die Menschen von Saas-Fee und Saas-Grund zugrunde gehen lassen. Es stand die Gemeinschaft auf.

»Hören Sie, Zurbriggen«, sagte er, und er wog jedes Wort, das er sprach, »und hören Sie, Doktor, – ich habe vor einer Stunde meine beiden Chronometer verglichen, zufällig, wenn es einen Zufall gibt, weil Gott es mir eingab, wenn es Gott gibt. Der Chronometer, der in dem Gewölbe steht, das ich habe errichten lassen, geht richtig. Der andere, der ungeschützt unter dem Sterne steht, geht nach. Ihre Spektralanalyse zeigt, daß das Eisen im Blut anders geworden ist, bei Frau Gerdis und zwei anderen Frauen. Ich denke, daß es unbekannte Strahlen sind, die von dem Stern ausgehen. Schon vor längerer Zeit entdeckte man neue unbekannte Linien, Ultralinien, im Spektrum der Gloria. Vielleicht senden diese unbekannten Stoffe, die von den neuen Linien angezeigt werden, solche Strahlen aus. Diese Strahlen wirken, wie es sicher zu sein scheint, nicht nur auf Instrumente und feinste Uhren, sie wirken auch auf den Menschen. Wenn der Irrstern in die Sonne stürzt, werden diese Strahlen sich verstärken. Das Gewölbe scheint sie abzuschirmen. Im Freien aber …«

Er brach ab, er atmete schwer, hastig goß er ein Glas Wein hinunter.

»Im Freien aber …?« fragte Zurbriggen.

»Im Freien aber werden sie verheerend wirken!« schrie Füßli, »sie werden Millionen und Millionen Menschen zu einem qualvollen Tode bringen, Hier sind es bereits drei Menschen jetzt schon, und wenn diese Veränderung der Blutkörperchen weitergeht, dann ist das der Tod! Der Tod! Der Tod!«

Er schlug die Hände vors Gesicht, sein Körper zitterte. »Erlinspiel«, stöhnte er hinter den geschlossenen Händen, »das ist fürchterlich, unausdenkbar fürchterlich.«

Zurbriggen schwieg.

»Kann man denn nichts tun«, bat Füßli. Er sah sichtbarlich eine ungeheuer gräßliche Vision.

Zurbriggen ging auf Erlinspiel zu: »Und das Gewölbe hilft?« sagte er leise.

»Es scheint so.«

»Dann müssen wir alle in solche Gewölbe.«

»Wo wollen Sie die bis morgen hernehmen?« klagte der Arzt.

»Nun, es gibt hier einen noch nicht ganz vollendeten Tunnel«, meinte Werner, »den von der neuen Straße, unter der kleinen Kapelle. Dorthin müssen alle. Ein paar hundert Meter Granit werden die Strahlen nicht durchdringen.«

Füßli nahm die Hände in den Schoß. Zurbriggen ging mit starken Schritten auf und ab, Werner lehnte steif am Tisch.

»Sie müssen alle dort bleiben, ganz hinten, wo die Kehre ist.« Er sprach mit einer seltsam hohen und klanglosen Stimme. »Solange der Stern noch scheint und später am Tage. Nachts ist keine Gefahr. Gloria stürzt auch des Nachts in die Sonne. Wir werden nicht sofort von den tödlichen Strahlen getroffen. Erst am Morgen, wenn die Sonne aufgeht, die große Sonne, die Sonne, die Gloria verschlungen hat zur Nacht …«

Er sackte leicht zusammen, er rutschte einfach am Tisch ab und fiel in den Stuhl. »Sagen Sie Ihrem Vetter Bescheid, dem Amtmann, dem Ignaz. Es darf keine Panik geben. Ehe übermorgen früh der erste Lichtstrahl über die Grate schießt, muß alles im Stollen sein. Aber der Amtmann darf nicht sagen, was geschieht, und er darf es nicht weiter erzählen, etwa nach Brig hinunter. Wir können nur uns wenige hier unterbringen im Tunnel. Wir können nur uns retten. Können Sie dafür gerade stehen, Zurbriggen?«

Er sah den Alten an. Zurbriggen schluckte, er fuhr sich kurz über die Augen, dann sank die Hand herab, hielt sich in dem grauen Bart.

»Ja, Erlinspiel«, sagte er. »Ich werde alles machen.«

Andächtig schlug er das Kreuz über sich. Dann ging er langsam hinaus, Füßli trabte hinter ihm drein.


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