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Es verging der Tag, und die beiden Menschen in dem Gewölbe wußten nicht, was rundum vor sich gegangen war. Sie wußten nicht, waren die Menschen gerettet, die im Tunnel saßen, waren auch die davongekommen, die verloren auf den Almen und entfernten Höfen die schreckliche Stunde getroffen hatte. Sie wußten nicht, lebte noch das Vieh auf den Alpen und in den Ställen, und sie ahnten nicht einmal, ob die Hütten alle noch standen, die Bergbäche noch rauschten und die Bäume noch grünten.
Zwar zeigten die Instrumente in Werners Zimmer, soweit sie von dem Gewölbe aus zu beobachten waren, nichts Besonderes mehr an, sie waren auch fast sämtlich zerstört, waren dahingeschmolzen, vergangen in ihrer Form, wie das eiserne Stativ des Fernrohres. Der Chronometer ging nicht mehr, die Kompaß- und Inklinationsnadeln waren bewegungslos und verbogen, die Barometer und Thermometer schrieben keine Kurven mehr. Nur die Messinginstrumente arbeiteten noch, und die einfachen Wärmemesser bewiesen, daß keine wesentlich erhöhten Temperaturen herrschten.
Im Innern des Gewölbes war alles Eisen erhalten geblieben, es war fest, schwer und kühl wie vordem, es zeigten sich keine Sprünge, und seine Härte schien nicht nachgelassen zu haben. Die Schneiden der Messer und Scheren waren scharf.
Werner saß auf dem Bettrand, Gerdis lag da und sah mit weit offenen Augen ihn an. Sie hatten seit Stunden nicht miteinander gesprochen, sie sahen sich nur an, in den Augen der Frau war ein unendliches Vertrauen und eine große Ruhe, so, als sei ein großer Weg zu Ende und eine lange Rast habe begonnen. Wahrscheinlich dachte sie nicht einmal nach, man sah keine Gedanken hinter ihrer weißen Stirn, die grauen Augen waren unbewegt, wie ein See an einem unendlich stillen Sommerabend, der einen Tag, der windlos vergangen, beschloß. Sie sah Werner an, und weiter tat sie nichts, dies Anschauen füllte sie ganz aus.
Werner grübelte angestrengt. Er versuchte, sich das Gesicht, das er hatte, als er das zusammensinkende Stativ sah, zu erinnern. Als er, verwirrt und von Schrecken geschüttelt, erwacht war, schien es ihm ganz nahe noch zu sein, dieses Gesicht, obwohl er keinerlei Einzelheiten mehr zu erkennen vermochte. Er hatte nur das Gefühl von furchtbarem Grauen, – und erst jetzt, nach Stunden, kam ihm zum Bewußtsein, daß es Gerdis Vision gewesen war, die er sah, aber nun nicht mehr rätselhaft und erst auszudeuten in seinem Inhalt, sondern klar und bis in alle Hintergründe erleuchtet.
Das Eisen der Welt war vernichtet.
Es gab kein Eisen mehr.
Vielleicht tief drinnen in den Gruben, unter der Erde, im Gestein verborgen, vielleicht hatte es sich da erhalten. Aber konnte man es hervorholen?
Je mehr er nachdachte, desto unwahrscheinlicher schien ihm das zu sein. Mit welchen Mitteln sollte man es bekommen? Wenn überall das Eisen auf der Oberfläche der Erde dahingegangen war, sich zersetzt hatte, unter den gewaltigen Strahlen Glorias und der Sonne, die sie aufgenommen, dann gab es keine Meißel mehr und keine Hämmer, keine Bohrer und kein Gestänge, es gab keine Förderseile und keine Fahrkörbe, keine Fördertürme und keine eisernen Steifen mehr. Dann waren die Gruben zusammengestürzt, die Hochöfen und all die Dinge, die Technik hießen. Dann war das Bronzezeitalter wieder da. Und erst, als Werner diese Einzelheiten durchdacht hatte, überfiel ihn mit restloser Klarheit das Gesicht Gerdis.
Dann gab es keine Eisenbahnen mehr und keine Flugzeuge, keine Autos und keine Wagen mit eisernen Achsen, keine Schiffe und keine Telephondrähte, keine Sendeanlagen und keine Elektrizität. Es gab keinen Verkehr mehr und keine Nachrichten, und die Häuser aus Stahl und Eisenbeton, sie mußten zusammengesackt sein, Tausende, Hunderttausende unter sich begrabend.
Verpflegte jemand die Millionenmassen der Städte? Löschte jemand Brände? Dämmte jemand die explodierenden Gaskessel? Gab jemand Befehle?
Werner schauderte. Nun erst ermaß er das Bild, das Gerdis gesehen hatte.
Er schlug die Hände vors Gesicht. Er schluchzte nicht, und er weinte nicht, er fürchtete sich nicht, und er begann nicht zu sprechen.
Das Entsetzen, das ihn völlig erfüllte, verdrängte jedes Gefühl aus ihm. Alles in ihm war still, auch das Denken hörte auf, nichts blieb als ein graues, dichtes Gefühl. Die Welt war untergegangen, ob sie auch noch bestand, und Menschen auf ihr noch atmeten und lebten. Was der Mensch geschaffen hatte, schlug nun den Menschen. Er war gefangen in seinen Werken.
Da der Stoff seiner Zeit verging, verging er mit ihr.
Dies war das Furchtbarste: es gab kein Wehren. Das Eisen war nicht Eisen mehr – und der Mensch und seine Kultur, seine Technik und seine Zivilisation, seine Existenz, alles verging, da das Eisen vergangen war.
Erlinspiel stöhnte auf. Und dieser Laut löste die Spannung beider. Gerdis richtete sich auf. Erlinspiel wandte sich ihr zu, er sah sie an, er nahm ihre beiden Hände.
Gerdis, wollte er sagen, nur dieses eine Wort, – aber ehe er es aussprechen konnte, sprach die Frau.
»Nun müssen wir alles neu machen«, sagte sie, und ihre Stimme war so dunkel, als käme sie aus großer mythischer Ferne. »Die Menschen schreien und sterben, und viele Häuser brennen. Sie rennen auf den Straßen, die voller Trümmer sind, und sie werden alle sterben auf der Flucht. Es werden wenige sein, die am Orte bleiben, sie werden leben. Und ich sehe, daß du einen Stab in Händen trägst, einen Stab aus grauem Eisen.«
Erlinspiel konnte nichts antworten. Wortlos beugte er sich über die Frau. Er küßte ihre Stirn. Dann stand er auf. Er sah, daß es acht Uhr abends war. Der Chronometer zeigte die Stunde. Er spürte nicht Hunger und Durst.
»In vier Stunden können wir zum Tunnel gehen«, sagte er. »Nun ist alles so, wie du es gesagt hast. Aber vielleicht ist nicht alles zerstört, es müssen Hütten stehen und Häuser, und die Ernte auf den Feldern, und die alten Mühlen werden mahlen, aus Holz sind sie und Stein. Gerdis, vieles blieb.«
Sie lächelte. – »Was nicht aus diesem Zeitalter ist, blieb sicher erhalten, – aber die Menschen sind aus ihm, und alles, was sie schufen, ja, ihr ganzes Leben war nur, weil es Eisen gab. Hast du das nicht eben selbst gedacht?«
Erlinspiel schien es, als säße eine Pythia bei ihm, eine Weise und Seherin aus fernen Zeiten. War das noch Gerdis, die Frau, die vor wenigen Wochen Tee bereitet in Potsdam, in einem kleinen Hause an einem See? Dunkle Gerdis, fiel ihm ein. Wann hatte er sie so genannt? War es wirklich zu jener Zeit, da er zur Schule ging? Auf die Universitäten lief? War es wirklich aus Scherz gewesen, nur so dahingesagt?
Seine Phantasie bot ihm die Bilder dar, sein Verstand baute sie aus, die Bilder des zusammensinkenden Europa, Amerika, der von diesen beiden geschaffenen Teile der Existenz der Welt. Ja, alles das sank nun zusammen, genau so unaufhaltsam, so rasch und nicht mehr zu bewahren im Zerfall, wie das Eisenstativ zusammengesunken war, draußen vor dieser Hütte.
Wieder wollte das Entsetzen ihn überwältigen, aber es war schon nicht mehr stark genug, ihn vollends niederzudrücken. Er wußte nun das Unabänderliche.
Und so begann ein neues Leben.