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Achtes Kapitel

Die Mitternachtssonne rollt dicht über dem Horizont dahin, hoch über ihr steht das lodernde weiße Blinken Glorias.

Peter Kagemann rennt ruhelos vor seinem Zelt auf und ab.

Er läuft zwanzig Schritte nach Norden, wo der kleine Wassertümpel ist, der bernsteinfarben im Licht der Sonne schimmert, und der das Wasser für den Tee liefert. Dann dreht er um und läuft wieder die zwanzig Schritte nach Süden, wo der Kinotheodolit steht, auf glattgeschliffenem Fels inmitten grünbrauner Renntierflechte verankert.

Lautlos vollzieht sich diese nicht unterbrochene Wanderung; die moosigen Flechten, die sich endlos dehnen, verschlingen jeden Laut.

Da saß man nun zweihundert Kilometer südöstlich des Nordkaps, am Ostufer des Enare-Sees. In der Tundra war die Spur gut zu verfolgen, die zweimal in der Woche das Fahrgestell des Flugzeugs in die Flechten und Moose geschnitten hatte, wenn es Nahrung und Material brachte, Mitteilungen, Briefe, und die neuesten Berechnungen und die letzten Aufnahmen und Beobachtungszettel mitnahm. Das war dann für zwei Stunden ein Fest. War der letzte Hall der Motoren in der Einsamkeit verwehrt, war niemand mehr da außer der Sonne und Gloria, dem kleinen Zelt und dem Kinotheodolithen und dazu Larsen, dem jungen norwegischen Astronomen. Ja, und eines war noch da, was das Leben hier zur Qual machte – die ungeheuren Mückenschwärme, die Tag und Nacht über der Tundra tanzten und gierig den beiden Männern das Blut aus den Adern sogen.

Aber lieber noch Myriaden Mücken, Mensch und Gerät bedeckend, als die ewigen Nebel, die vor Hammerfest lagen, eine abseitige und sonst um diese Jahreszeit in der nördlichsten Stadt Europas nicht gewohnte Erscheinung, die gleichermaßen die Expedition wie auch die Bewohner zur Verzweiflung gebracht hatte.

Nun, hier würde er sehen, wie sein Stern in die Sonne stürzte. Hier würde er es aufnehmen, einen Film herstellen, wie er niemals wieder auf der Erde gedreht werden würde. Ja, er war hier geblieben, obwohl die Rückkehr nach Hammerfest mehrmals angeboten, erbeten, gefordert worden war. Er und sein kleines Beobachtungsfernrohr und dieser automatisch gesteuerte Kinotheodolith, der alle fünfzehn Sekunden eine Aufnahme machen konnte, der jede Veränderung Glorias selbsttätig photographierte, dessen Aufnahmegeschwindigkeit zudem noch durch Ausschalten des Uhrwerks gesteigert werden konnte – dazu Larsen als Helfer –, sie zusammen würden der Menschheit dies unabschätzbar großartige und wertvolle Dokument verschaffen.

Ihm fielen alte Sagen ein, von denen er vor langer Zeit gehört, ehe seine Liebe den genauen und eiferlosen Zahlen gehörte. Sagen, die von einem Wolfe sprachen, der die Sonne fraß, von Riesen, die sie gefangen hielten, von Mondgöttinnen, die sich liebend der männlichen Stärke des leuchtenden Gestirns ergaben, von Dämonen, die bösartig hinter der Sonne herliefen, sie zu vernichten, und die dann überwunden in sie stürzten. Er konnte sich nicht auf Einzelheiten besinnen, er verwirrte, je mehr er nachdachte, die Sagen miteinander, bis nur noch der eine Eindruck übrigblieb, daß öfter schon im Laufe der Jahrmillionen sich das vollzogen haben müsse, was er nun zu beobachten ausgezogen war, abgeschlossen von der Welt und allein angewiesen auf das Flugzeug, das von Nordwesten heranbrauste, das am zehnten Juli zum letzten Male in dieser Einöde landen würde, um ihn und Larsen und den kostbaren Schatz auf sorgsam gehütetem Zelluloid wieder zu den Kameraden zu bringen.

Wie nun aber, wenn das Flugzeug nicht kam? Gerdis fiel ihm ein, – er hatte sie weiß Gott über diesen alten, seltsam dunkelbunten Sagen fast vergessen. Sah sie Flugzeuge, Wagen, Bahnen? Sie sah nur wandernde Menschen. Peter hielt jäh in seiner eintönigen Wanderung inne. Jetzt fange ich auch schon an, diesen Hirngespinsten zu glauben, schalt er. Aber je mehr er sich dagegen wehrte, je mehr er schimpfte, still im Herzen zuerst, dann laut in die schweigende Öde der Landschaft hinaus, desto mehr sah er in sich langsam etwas wachsen, wie eine schwarze Dunkelheit kroch es aus einer Ecke der Seele hervor, und jedes laut gezischte Wort »Unsinn« machte es nur größer, und er wußte mit einemmal, daß doch etwas daran war, an diesen Hirngespinsten, daß irgend etwas Gräßliches bevorstand. Ihm wurde sehr angst.

Aber die Angst half nichts mehr, und die Furcht war erbarmungslos, weil nichts zu tun war. Dreihundert Kilometer waren rund um sie her, und die kommende Nacht verschmolz glühend Stern und Sonne. Das Uhrwerk des Theodolithen tickte und die Mücken summten, steigend, fallend im Tanz.

Peter setzte sich auf den Boden, er starrte den Theodolithen an und das Fernrohr, er sah hinüber zum Zelt, wo Larsen der nächsten Wache entgegenschlief.

Blitzend schossen Nordlichter aus der Höhe des Himmels, spielten über den Horizont, verloschen und flammten von neuem empor. Sie waren fast farblos im Glanze der beiden himmlischen Lichter, aber sie schimmerten, wie es Peter schien, auf eine heimtückische und unerlaubte Art.

Das sind die Nerven, alter Junge, sagte er sich. Diese Einsamkeit macht den Menschen verrückt, und das Warten dazu!

Aber er wurde nicht ruhig nach dieser Überlegung.

Irgendwo, wußte er – und es war das erste Mal, daß er etwas aus anderen Bezirken her wußte als aus dem Verstande –, stand Schlimmes bevor.

Das machte ihn sehr elend.

 

Gerade, als er Larsen wecken wollte, hörte er ein fernes Brummen, es schien ihm, als käme ein Flugzeug, aber das konnte nicht gut sein, die Maschine kam nicht vor übermorgen.

Dann aber kam ein Schatten aus dem Himmel, und es donnerte und dröhnte, und gerade als Larsen, nun auch aufgeweckt, aus dem Zelt hervorkroch, setzte ein dreimotoriges Flugzeug neuester Konstruktion auf dem braungrünen Flechtengrunde auf.

Es war nicht die Maschine der Expedition, es war ein fremdes Flugzeug, das das englische Hoheitszeichen trug und sich als ein Militärflugzeug der schnellsten Klasse darbot.

Zwei Männer kletterten heraus. Peter und Larsen rannten ihnen entgegen. Sie begriffen durchaus nicht, was die Maschine bei ihnen wollte, aber in der Einsamkeit läuft man, wenn man Menschen sieht, mögen sie einen etwas angehen oder nicht.

Als sie die beiden erreicht hatten, machte der Ältere vor Peter eine genaue Verbeugung, er trug die Uniform eines Kapitäns der Königlich britischen Luftflotte.

»Doktor Kagemann? Ich heiße Roger Williams. Dies ist Leutnant Fairfax.«

Peter verbeugte sich, er konnte sich das alles nicht erklären.

»Mein Assistent, Dr. Larsen«, stellte er vor.

»Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Sie hier stören muß, zudem zu so früher Morgenstunde. Ginge der Telegraph noch oder irgendein Kurzwellensender, hätte ich Sie nicht persönlich zu belästigen brauchen. Ich komme im Auftrag der englischen Regierung. Es sind da gewisse, wie soll ich sagen, nicht gerade Befürchtungen, aber doch Bedenken aufgetaucht, wegen morgen, wissen Sie. Und da – nun kurz und gut, was denken Sie darüber?«

Peter war völlig verblüfft.

»Das ist ja wie im Räuberroman«, sagte er.

Fairfax lachte, Williams sah ihn böse an.

»Es mag so aussehen«, erwiderte er höflich, »aber leider ließ es sich anders nicht einrichten. Ich muß heute noch nach London zurück. Und ich möchte gern Ihre Meinung mit mir nehmen.«

»Und Sie glauben, daß Sie das noch schaffen?«

»Sicher«, der Kapitän verbeugte sich leicht. »Die Maschine macht 600 Stundenkilometer. Sagen Sie«, fügte er plötzlich hinzu, »was macht Ihr Freund Erlinspiel in Saas-Fee?«

Und als Peter vor Erstaunen nicht sogleich antwortete, fuhr der Kapitän fort: »Sie haben ihm Ihre persönliche Meinung mitgeteilt? Wir wissen, daß sie sich nicht mit der Auffassung der anderen Astronomen deckt. Ein Vetter des Innenministers hat Mister Erlinspiel und Ihre Gattin in Saas-Fee getroffen. Er hat dem Minister von gewissen Vorbereitungen erzählt, die dort getroffen wurden. Stammen die Pläne dazu von Ihnen? Und weshalb haben Sie Ihrer Regierung nichts von Ihren Zweifeln oder, sagen wir, Befürchtungen mitgeteilt, die Sie doch offensichtlich haben?«

Peter kam sich zerschlagen vor. Der Übergang von der einsamen, mückenumsummten Wache in der grenzenlosen Einöde finnmarkischer Landschaft zu diesem Sturzbach von Fragen war denn doch zu plötzlich gekommen. In ihm kochte eine dunkle Empörung auf.

»Ich habe keine Zweifel oder Befürchtungen«, sagte er kalt und ungeheuer hochmütig. »Ich bin auch nicht von irgendwelchen Vorbereitungen, wie Sie es nennen, in Saas-Fee unterrichtet. Herr Erlinspiel leistet meiner Frau während meiner Abwesenheit in der Sommerfrische Gesellschaft.«

Der Kapitän kniff die Augen ein. Er war keineswegs beleidigt. »Ich verstehe durchaus«, sagte er höflich. »Ich bin jedoch beauftragt, Ihnen ein Angebot zu machen, ein durchaus gewichtiges Angebot. Die königliche Sternwarte von Greenwich braucht einen neuen Direktor. Außerdem habe ich einen Scheck mitgebracht, dessen Summe Sie bitte ausfüllen wollen.« Er zog ein Papier aus seinem Ärmelaufschlag.

»Ich denke, daß Sie sich den Flug hätten sparen können«, sagte Peter.

»Oh, nicht doch, nicht doch, wir hatten natürlich zuerst eine Maschine nach Saas-Fee geschickt, sie ist gestern morgen zurückgekommen, konnte dort oben nicht landen und mußte in Brig herunter. Aber wir hörten, daß Ihre Frau krank wäre und daß – –«

»Kapitän«, Peter sprang auf den Flieger zu, schüttelte ihn hin und her. »Was sagen Sie da? Krank? Um Gottes willen, wie ist denn das möglich, ihr letzter Brief – so reden Sie doch …« Der Offizier lächelte beruhigend.

»So schlimm ist es ja nun nicht, und Ihre Gattin scheint auch ausgezeichnet behandelt zu werden, von einem gewissen Dr. Füßli, Sie kennen ihn?«

Peter bemerkte gar nicht die Falle, die ihm gestellt wurde.

»Nein, nein, ich kenne ihn nicht. Aber was ist denn, was fehlt Gerdis denn?« schrie er.

»Es soll wohl mit den Strahlen zusammenhängen, die nun schon seit einer Woche den ganzen Nachrichtendienst kaputt machen«, erklärte Williams. »Und wir dachten, Sie hätten das vielleicht vorausgesehen und eine Abwehrmethode gefunden. Auch in England hat es ähnliche Fälle gegeben, die nicht in die Presse gekommen sind. Sogar ein paar Todesfälle …«

Peter zuckte zusammen, er war kreidebleich unter der sonnengebräunten Hautfläche.

»Und, was – was ist das – –?« stammelte er.

Williams sah ihn mitleidig an. Nein, dieser Mann wußte wirklich nichts. Schade, daß man nicht doch versucht hatte, zu diesem Dr. Erlinspiel vorzudringen! Sehr, sehr ärgerlich war das! Umsonst die 6000 Kilometer Flug!

»Zuerst ist es eine allgemeine Müdigkeit und Schlappheit«, erklärte er, »dann wird die Mattigkeit langsam schlimmer, es sieht aus, wie eine Art Blutzersetzung, und plötzlich ist der Tod da. Eine ganze Zeit gings noch ohne dies Schlimmste ab – aber dann, am 7. hatten wir in England gleich acht Fälle. Schade, daß der Innenminister erst vorgestern mit seinem Vetter, dem Reverend Morristone, gesprochen hat, Sie kennen ihn ja sicher?«

Auch diese Frage brachte kein Ergebnis. Peter schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich kenne überhaupt niemand da oben«, keuchte er.

Williams sah Kagemann aufmerksam an. »Übrigens, glänzend sehen Sie und Herr Larsen auch nicht aus. Wie fühlen Sie sich?« fragte er. »Sind Sie sehr müde?«

Peter blickte auf. Ein großes Erschrecken ging über seine Augen. »Wir, wir dachten, weil wir so wenig schlafen«, stotterte er hilflos. »Das – das ist doch gar nicht möglich.« Er sah sich nach Larsen um.

Aber der blickte schweigsam auf seine Stiefelspitzen, es war nicht auszumachen, ob er überhaupt dem Gespräch gefolgt war.

Williams holte seine Hüftflasche hervor. Er entkorkte sie und hielt sie Peter hin. »Na, trinken Sie erst mal Schottlands alten guten Whisky, das wird Ihnen schon wieder helfen.«

Willenlos ließ Peter den rauchigen Weizenbranntwein über die Zunge laufen. Sein Kopf wurde klarer, seine Erregung ließ nach.

»Aber das ist ja schrecklich«, sagte er. »Ich habe darüber noch niemals nachgedacht. Wenn das alles so ist, dann – dann muß es morgen fürchterlich werden.«

»Und warum?«

»Wenn er – wenn Gloria in die Sonne stürzt, dann wird sich diese Strahlung verdoppeln, verdreifachen, ins Unermeßliche anschwellen. Und wenn jetzt schon die Wirkungen so sind …«

Er brach ab. Auch Williams schwieg einen Augenblick.

»Und kann man sich dagegen schützen?« fragte er dann.

»Ich weiß nicht.« Peter zuckte die Achseln. »Wir kennen die Strahlung nicht, ihre Art, ihre Durchschlagskraft. Vielleicht muß man es so machen, wie wir es an meinem Theodolithen gemacht haben, allerdings, ohne daß wir an diese – diese entsetzliche Art von Strahlung gedacht haben. Wir wollten die Aufnahmen lediglich gegen Röntgen-, Höhen- und elektrische Strahlen schützen.«

»Und wie haben Sie das gemacht?« erkundigte sich Williams. Er war jetzt wieder ganz kalt und klar.

»Wir haben einen Kupfer- und Bleimantel darum gelegt«, sagte Peter erschöpft.

Und so, als spräche er zu sich selbst, fügte er nach einer Pause hinzu: »Bisher sind die Aufnahmen alle gut geworden. Ich habe keine Klagen aus Hammerfest gehört.«

In diesem Augenblick wurde Williams beweglich.

»Danke, Doktor«, sagte er. »Vielen Dank, das ist uns sehr viel wert. Und hier ist der Scheck, füllen Sie ihn aus, wie Sie es für richtig halten. Aber ich bitte Sie. Sie erweisen der Menschheit einen Dienst. Sie erweisen vor allem England einen unschätzbaren Dienst. Und wenn Sie wieder zurück sind – der Minister wird Ihnen eine Nachricht zukommen lassen.«

Er wendete sich zu Leutnant Fairfax: »Werfen Sie an«, zischte er.

»Also machen Sie's gut, und vielen Dank. Viel Glück!« Er salutierte militärisch stramm.

In Peters Hand flatterte das Papier der Bank von England.

Zwei Minuten später heulten die Motore auf, stiegen zum höchsten Diskant, während die Maschine schon anrollte, schwang sich Kapitän Williams hinein. Er winkte, die Maschine stieg steil nach oben und schoß nach Südwesten davon.

»Total verrückt«, murmelte Larsen. Er ging gleichmütig auf Peter zu. »Müssen ja mächtige Angst haben in London.«

Peter sah ihn groß an. Also hatte Larsen das ganze Gespräch gehört. Und doch schlug ihm nicht das Herz? Und doch spottete er so gleichgültig? War das echt? Oder war dieser junge Norweger nur tapfer, unglaublich tapfer und beherrscht?

»Aber meine Frau …« fing Peter an.

»Ich hörte es. Tut mir leid. Es wird aber schon wieder gut sein. Sagte der aufgeregte Engländer nicht etwas Derartiges?« Er sah Peter treuherzig an. »Wird wohl ein Junge werden«, meinte er.

Peter war sehr gerührt. Da tapste nun dieser Junge herum wie ein großer braver Bernhardiner und machte gute Worte. Nein, der war sicher kein heldenmütiger Todverächter. Er glaubte einfach nicht an Gefahr, er hatte nie darüber nachgedacht, was wohl geschehen würde, wenn …

»Sagen Sie mal, lieber Larsen«, Peter sprach sehr langsam und leise, – »haben Sie eigentlich mal daran gedacht, daß dieses hier unser letzter Tag sein kann?«

Der Junge lachte. »Nee, wie kommen Sie denn darauf? Ist die Welt schon mal untergegangen?« Er schüttelte sich, offenbar hielt er Peters Frage für einen Witz.

»Haben Sie nicht gehört, was dieser Kapitän erzählte?«

»Ach, und Sie geben nun diese Fragen dieser englischen Angsthasen weiter? Ich glaube, dieser verrückte Bursche hat Sie angesteckt.«

»Ich meine, daß der Mann, der soeben hier war, wohl einer der klügsten Offiziere des englischen Geheimdienstes ist. Und umsonst schickt man so eine Maschine nicht 3000 Kilometer über Land und Meer zu uns. Fühlen Sie sich eigentlich wohl, Larsen?«

»Ich hab mich nie besser gefühlt«, lachte der; er hopste in einigen übermütigen Sprüngen zu dem Wasserloch und schüttete sich ein paar Hände Wasser ins Gesicht. »Großes Reinemachen, Kagemann«, rief er.

Peter setzte sich auf den Moosrasen, die Knie sackten einfach unter ihm weg, er mußte herunter, ob er wollte oder nicht. Der Scheck flatterte vor ihm nieder, Hätte er nicht bläulichweiß vor ihm gelegen, Peter hätte noch immer gemeint, er habe geträumt. Aber dieses Papier war nicht wegzuerklären.

Gerdis, dachte Peter, Gerdis. – Und morgen werden wir sterben. Er neigte den Kopf vornüber, bis er die Knie berührte, er schloß die Augen, die Hände lagen leer und willenlos im Moose.

Erst als er Larsens rufende Stimme hörte, richtete er sich langsam auf. Nein, schlappmachen wollte er nicht.

Mühsam ging er ins Zelt. Jeder Schritt kostete unendliche Anstrengung. Aber er kam doch noch bis zur Pritsche. Dann aber war er zu Ende mit allen Kräften. Haltlos fiel er der Länge nach auf das Lager.

Draußen trat Larsen pfeifend seine Vierstundenwache an.

* * *

Grellweiß leuchtete der Stern am südwestlichen Himmel. Nun, da er der Sonne so nahe war, schien sein Licht schon in ein unerträgliches Grün hinüberzuschimmern. Die Sonne aber stand da in orangefarbenem Schein. Ungeheure Fackeln schossen aus ihr heraus, der Stern dehnte sich sichtbar ihr entgegen.

Fieberhaft arbeiteten Peter und Larsen, es war keine Zeit mehr, an Tod und Nachher zu denken, die Wissenschaft hatte auch Peter wieder und der Rausch der Beobachtung. Der Kinoapparat lief jetzt schon mit einer Geschwindigkeit, die zwei Aufnahmen in der Sekunde ergab. Larsen war vergnügt wie ein kleiner Junge, der zum ersten Male in einen Zirkus mitgenommen wurde; in den dicken schwarzen Kunstgläsern sah er aus wie ein lustiger Kobold. Peter richtete das Fernrohr noch einmal genau ein, prüfte den Ablauf des Uhrwerks. Das Wetter war ideal. Auch die Amerikaner konnten mit ihren Riesenteleskopen nicht solche Aufnahmen herstellen wie sie hier, Peter Kagemann und Lars Larsen.

Unerträglicher wurde das Gleißen, die Nordlichter jagten dahin. Hinter den Schutzgläsern mußte man nun schon die Augen zusammenkneifen. Der ganze Himmel schien zu sieden. Ein unbestimmbares Leuchten erfüllte grell die Welt.

Kurz vor Mitternacht wechselte Peter die Kassette. Er schob die große, lange gehütete ein, die es während der nächsten Stunde gestattete, ununterbrochen Aufnahme an Aufnahme zu reihen. Auch der Zeitlupenapparat wurde geladen, er sollte selbsttätig die letzte Phase des Zusammensturzes aufnehmen. Sorgfältig stellte Peter auch hier die Auslösung ein.

Larsen kam fluchend an. »Sieh doch«, rief er, »der Belichtungsmesser ist kaputt, ausgerechnet jetzt. Trauen Sie sich, die Einstellung zu regulieren?«

Peter sah sich das Instrument an, es zeigte keinerlei Ausschlag mehr. Er warf es auf den Boden, sah es an wie ein ekliges Tier.

»Als ob die Selenzellen den Stern übelnehmen«, lachte Larsen.

Peter zuckte zusammen. Aber er antwortete nicht. Er handelte nur noch wie im Traum, in einem zermürbenden, entnervenden Traum, er sah sich selbst hantieren, denken, durch das Fernrohr sehen, er stand noch einmal hinter sich und sah sich selber zu, er träumte sich selbst und die letzten Minuten seines Daseins – und konnte sich nicht aus dieser Spaltung lösen, seine Sinne schwangen wie Saiten von Stahl, hell und hoch –, er meinte, den Stern zu riechen, dieses gleißend grüne Geleucht.

Er fühlte sich sehr elend. Langsam sank er zusammen.

Dann fühlte er plötzlich ein Rütteln. Als er die Augen aufschlug, sah er Larsen. »Los, los«, schrie der, »es ist so weit, nicht mehr schlafen! Los!«

»Habe ich denn geschlafen?« wunderte sich Peter. Er stand mühsam auf, da flammte es im Westen, er taumelte zurück. Grellweiß loderte es auf, das Orange der Sonne zischte empor zu grellem Weiß. Eine unerträgliche Lichtflut brach herein, die das Herz versehrte, die Hirne versengte, Licht, Licht, Licht kam heran, es fiel über ihn, es schlug durch die zugekniffenen Augen, es preßte den Schrei aus der Kehle, es überschwemmte alles Land und ließ es ertrinken in seiner erbarmungslosen Helligkeit. Niemals hatte Peter ein solches Licht erlebt, und auch das augenzerstörende Licht siedenden Stahls in Tausenden von Graden Hitze war mildes Schwelen feuchten Holzes gegen das infernalische, helle Licht, das da hereinbrach. Oh, tat das weh! Peter schrie auf, und immer mehr Licht fiel herab, immer mehr Licht, mörderisches Licht.

Er riß die zweite Schutzbrille heraus, schob sie über die erste. Herrgott, das war der Untergang. ›Mit flackernden Flammen kommt Surtur von Süden‹ schoß es ihm durchs Gehirn, und: Unsinn, dachte er, von Westen –, das Licht fraß ihn leer, er taumelte, da hörte er tierisches Schreien, und er riß die Augen auf, und sah – und sah und während er, gebannt an seinen Platz von dem Entsetzlichen, starrte, sah er, wie der Theodolith langsam in sich zusammensank, wie seine drei Stahlrohrfüße weich wurden, nachgaben, sich krümmten und langsam niedersanken. Es versank die Kassette, es sank das Kernrohr zusammen, das Zelt und das Zeitlupenstativ. Weich wie Wachs wurde der Stahl.

Da schlug Peter die Hände vors Gesicht und schrie wie sein Kamerad, und namenloses Entsetzen schüttelte ihn, daß er fiel.

Im Fallen sah er, wie Larsen auf das Wasserloch zurannte, wahnwitzig vor Schreck.

Gleich wird er dort sein, dachte Peter im Sinken.

Er sah, wie Larsen ins Wasser fiel, den Kopf eintauchte – dann spürte er, wie alle Kraft ihn verließ, aus ihm auslief wie Wasser aus einem angeschlagenen Gefäß.

Und nichts war mehr da auf der Welt als das Strahlen und Gleißen des höllischen Lichts.

Schmerzlos war es, ja. Peter atmete den Geruch des Mooses, und es schien ihm seltsam, dies jetzt zu riechen. Jetzt sterben alle Menschen, dachte er, auch Gerdis. Auch Gerdis.

Hatte sie nicht Menschen gesehen? Menschen, die wanderten?

Oh, wäre nur nicht dieses entsetzliche Licht! So hell, so unerbittlich hell war es, man konnte nicht denken.

Peter versuchte, vorwärts zu kriechen, immer eine Hand vor die andere auf das Wasserloch zu –, wie weit das doch war, eine Hand vor die andere, ein Knie an das andere –, weich war das Moos. Da winkt ja Larsen. Komisch, er schreit gar nicht, eine – Hand – vor, die andere Hand vor … da hebt er den Arm, er kommt heraus, er holt mich … oh, Gerdis … Gerdis …

Oh … Sonnenstern …


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