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Elftes Kapitel

Als es dunkel geworden war, gingen Werner und Gerdis zum Tunnel. Es standen viele Menschen draußen, sie hatten sich vor den Eingang gewagt und leuchteten mit frischem Kienspan. Sie unterhielten sich voller Erregung, sie verstummten, als die beiden Menschen ihnen näherkamen.

Zurbriggen löste sich aus der Gruppe. Er kam auf Werner zu, gab ihm die Hand, gab sie Gerdis.

»Wir haben schon gehört, was geschehen ist. Der Portier von Saas-Grund, der sich nicht trennen wollte von seinem Hotel und uns gestern verlacht hatte, kam gegen zehn Uhr. Und er sagte, daß alles Eisen geschmolzen wäre, obgleich es nicht heißer war als an anderen Tagen. Nur eben viel, viel mehr Licht. Er war ganz wirr und sehr erschöpft. Die Sonne hätte ihn verdorrt, sagte er. Da sind wir im Tunnel geblieben, bis zur Dunkelheit. Der Mann liegt drinnen, und der Doktor nimmt sich seiner an. Auch die anderen sind noch alle drinnen, und es ist ihnen nichts geschehen.«

»Es ist gut«, sagte Werner. Er wollte in den Tunnel hineingehen, aber Zurbriggen hielt ihn zurück.

»Das sind vernünftige Männer«, er wies auf die Gruppe hinter ihm, die nun um ihn, Gerdis und Werner, einen Kreis schloß. Die Fackeln aus Kien gaben mattgelbes Licht, sie rußten und hüllten die Szene in einen seltsam unwirklichen Schein. Zurbriggen hob ein wenig die alte Stimme: »Herr Erlinspiel, wir danken Ihnen, Ihnen und Frau Gerdis. Sie haben das Schlimmste verhindert, was hätte geschehen können, den Irrsinn. Sie haben uns gewarnt, und wir haben gewußt, daß uns Gefahr drohte. Wir haben auch keine Blutzersetzung bekommen, wie Sie diese Krankheit vor ein paar Tagen nannten. Nur den Portier hats erwischt, aber es geht ihm besser, seit er im Tunnel ist. – Wir wissen nicht, wie es drunten im Tal ausschaut und in der Welt. Wollen Sie hierbleiben und uns weiterhelfen?«

Die Männer murmelten etwas Zustimmendes. Es war sichtbar, daß sie alle noch sehr erregt waren, sie wären sicher gern zu ihren Häusern gelaufen, die dunkel im Dunkel der Nacht dalagen, offenbar unzerstört. Sie hätten sicher gern im Schimmer der Fackeln und der blinkenden Sterne nach ihrem Vieh gesehen, aber nun hielten sie hier aus, weil es Wichtiges zu besprechen gab.

Erlinspiel drückte dem alten Zurbriggen die Hand. »Haben Sie die Menschen dort drinnen bei Verstand halten können?«, fragte er.

»Ja«, erwiderte Zurbriggen kurz. »Einige schrien, die Weiber zumeist. Fast alle haben gebetet, lange Stunden. Jetzt, als es dunkel wurde, wollten sie hinaus, aber ich habe gesagt, daß erst Sie kommen müßten, denn Sie allein wüßten, ob noch Gefahr droht. So warten sie eben.«

»Dann wollen wir hineingehen«, entschied Werner.

»Sie bleiben hier?« fragte Zurbriggen. Er fragte es, als hinge die Zukunft aller davon ab. Werner wandte sich um. Er sah in die flammenüberzuckten Gesichter, die alle sehr ernst und bewegungslos waren. Er sah Gerdis an.

»Ich bleibe hier«, sagte er langsam. »Ich helfe euch in allem, denn es kommt eine schwere Zeit, und wir werden viel abwehren müssen von diesem Tal. Das will ich euch später sagen. Wollt ihr mir in allem folgen, was ich euch heißen werde?«

Zurbriggen antwortete: »Schauen Sie, wir sind freie Schweizer. Es will uns scheinen, als gäbe es nicht mehr viel von der Regierung in Bern und auch nicht von Genf. Ich habe mir so meine Gedanken gemacht, als der Portier die Nachrichten von dem Einsturz des Hotels brachte. Auch das Kirchendach ist heruntergekommen, wie Sie es voraussahen. So sind wir wohl auf uns gestellt, und es muß eine Führung sein im Tal. Drum wollen wir Ihnen folgen, weil Sie wissen, was kommen wird. Und Sie werden nichts Unbilliges verlangen. Es wird gut sein für unsere Kinder.«

Die Männer nahmen die Hüte vom Kopf.

»Im Namen Gottes!« sagte Zurbriggen. Es war sehr feierlich.

Dann plötzlich ging Gerdis herum und gab jedem der Männer die Hand.

Werner konnte nicht sprechen.

Er sah vor sich die Zukunft, sie stieg aus den grünen Matten von Saas-Fee hernieder, und sie richtete das Land auf rundum, das niedergesunkene, – ihm schien es, als ginge eine Frau durch ein Feld, das der Hagel niedergeworfen.

»Wir wollen alles tun, was wir können«, sagte er gepreßt.

Die Männer setzten die Hüte wieder auf.

Es schwamm die Sichel des jungen Mondes langsam die bleichen Gletscher herauf.

 

Bevor sie in den Tunnel gingen, setzten sie sich noch zusammen, die Männer und Gerdis, Zurbriggen und Erlinspiel. Zum Bericht, wie alles gewesen. Zumeist sprach der Alte, und bald rundete sich das Bild. Ja, sie waren alle, als die Rakete Erlinspiels hochging, in den Tunnel geeilt, bis zu seiner tiefsten Stelle, dort, wo auch die Kisten und Kasten lagerten, die Erlinspiel noch am letzten Tage hatte heraufkommen lassen. Es hatte einige Aufregung gegeben, besonders nachdem die, so vor dem Eingang bis zuletzt ausgehalten hatten, von dem sonderbaren Licht und der schrecklichen Helligkeit, auch von dem Fluchtsignal Erlinspiels berichtet hatten. Manche wollten ein Zittern der Erde gespürt haben, andere ein sonderbares Brausen. Zwei Frauen behaupteten, Stimmen im Felsen zu hören, aber es waren sicher nur Echolaute gewesen. Dennoch hatten viele gemeint, das Jüngste Gericht sei gekommen, und alles hätte die Sterbegebete gesprochen und die frommen Lieder gesungen. Dann hätten einige Frauen plötzlich geschrien, die Schreie hätten andere mitgerissen, und es habe vieler Mühe bedurft, wieder Ordnung zu stiften, als zwei alte Weiber sich anschickten, dem Heiland entgegenzugehen, den sie am Tunneleingang zu sehen meinten, obwohl man den Eingang von dem Zufluchtslager aus gar nicht sehen konnte. Schließlich aber, als Stunde um Stunde verging, sei eine ganz andere Meinung aufgekommen. Namentlich die jungen Burschen hätten gesprochen und gesagt, daß alles Unsinn wäre, draußen wäre nur eine besonders große Lichtflut, weil eben der Stern neues Licht zum alten gebracht hätte. Und dieses neue helle Licht wollten sie sich ansehen. Bei der Gelegenheit könnten sie gleich nach denen suchen, die in den Häusern geblieben, in Saas-Grund etwa, oder auf den Almen. Gerade als sie hätten losziehen wollen, sei dann der Portier hereingestürzt gekommen, er sei wie irre gewesen, er habe zuerst Unverständliches gestammelt und habe immer die Hände vors Gesicht gehalten.

Erst langsam habe er sprechen können. Er, Zurbriggen, habe ihm etwas Wein gegeben, den habe er getrunken wie ein Verschmachtender. Und dann habe er erzählt von den eingestürzten Hotels, die unter den ersten Sonnenstrahlen einfach zusammengesunken seien. Mit Donnerkrachen seien auch die Glocken vom Dachgestühl der Kirche heruntergekommen, die Telephondrähte seien abgeschmolzen. Er wäre dann in den Stall bei der alten Post geflüchtet, überall seien die Mauern niedergekracht, und das Licht, das furchtbare Licht habe ihm schier die Augen ausgebrannt. Ja, er habe gemeint, das letzte Stündlein sei gekommen. Ein paar Kühe seien am Stall vorbeigerast. Immer müder sei er geworden, immer matter, da habe er an den Tunnel gedacht, über den er gestern noch gelacht, – und da habe er sich aufgemacht. Geblendet sei er durch die entsetzliche Sonnenglut gelaufen, sei hingefallen, wieder aufgesprungen, habe getaumelt und nimmer geglaubt, daß er den Eingang erreiche. Seine Gedanken seien ihm davongelaufen wie Wasser aus einem Sieb, ›wie eine Last hat mich die Sonne niedergedrückt‹, genau so habe er es beschrieben.

Da seien die jungen Burschen still geworden, und es habe niemand mehr nach draußen gewollt. Für die armen Seelen im Tal und im Gebirg hätten sie stumm ein Ave Maria gebetet.

»Was hat Doktor Füßli festgestellt«, fragte Werner.

»Es ist mit dem Portier so, wie vorher mit der gnädigen Frau«, meinte Zurbriggen. »Das Blut ist halt zersetzt gewesen, der Doktor sagt, weil er so lange durch das Licht gelaufen ist. Aber er hat sich jetzt, im Finstern, schon wieder ein wenig erholt.«

Jetzt hätten die Leute ganz ruhig gesessen, manche hätten auch gegessen und getrunken. Zumeist hätten sie sich unterhalten, wie es wohl ihrem Vieh gegangen wäre, denn daß ihre Häuser noch stünden, soweit sie aus Holz seien und aus blankem Stein, das hätte ja der Portier noch erzählt.

Einige hätten auch an den Kisten im Tunnel sich zu schaffen gemacht, aus Neugierde, und an den Beschlägen gerüttelt, aber sie hätten nicht nachgegeben.

Werner fuhr auf: »Sind alle Kisten heil geblieben? Sind die Eisenbeschläge noch fest? Sind sie nicht weich geworden, – wie, – wie alles andere Eisen?« Er faßte Zurbriggen beim Arm. »So reden Sie doch«, schrie er.

Zurbriggen sah ihn an, er war ein wenig erstaunt über die Heftigkeit Erlinspiels.

»Ja, im Tunnel ist alles geblieben, wie es war. Die Beschläge sind fest und hart. Auch die Sachen, die wir mit hineingenommen haben, sind unversehrt. Die Messer, die Gewehre, – …«

»Gott sei Dank«, Werner stöhnte fast.

»Ist denn draußen alles Eisen – –«, Zurbriggen suchte sichtlich nach einem Wort, – »fort? Ich meine geschmolzen? Unbrauchbar geworden?«

Erlinspiel nickte. »Ich sah, wie das Stativ des Fernrohres zusammensank, ich sah es, und der Portier hat es bestätigt, es gibt kein Eisen mehr, außer dem, was hier im Berge ist.«

Einen Augenblick lang schwieg alles. Dann begann ein aufgeregtes Durcheinandersprechen.

»Das ist ja furchtbar«, sagte Zurbriggen, er hatte am schnellsten begriffen, was alles Erlinspiel in dieser Sekunde verraten hatte.

Werner sah ihn an. »Ich habe gestern die letzten Sachen, die ich gekauft hatte, in den Tunnel bringen lassen, damit kein Neugieriger fragt, und weil ich im Hause keinen Platz hatte. Weil ich an den Tunnel als Zuflucht für Menschen dachte. Nun ist er auch die Zuflucht geworden für die Dinge.«

Ein junger Bursche, dunkel das Haar, mit einem kühnen, gescheiten Gesicht, dem man ansah, daß es die Berge aus der Nähe anzuschauen gewohnt war, ein rechter Gebirgler und sicher gern gesehen bei den Mädchen und ungern bei den Jägern, trat zu Werner und dem Alten.

»Alles Eisen ist weich geworden?« fragte er.

Werner nickte. »Alles, was draußen war«, sagte er, »ungeschützt durch den Fels.«

»Dann«, sagte der Bursche, »dann –« seine Stimme zitterte plötzlich, er griff nach vorn, bekam Werners Schulter zu fassen –, »womit sollen wir dann pflügen?«

Erlinspiels Herz stockte. Das hatte gefehlt in seiner Vision, er hatte an Fabriken gedacht und an Elektrizität, an Gewehre und an Eisenbahnen. An den Pflug hatte er nicht gedacht.

»Im nächsten Jahre gibt es keine Ernte mehr.«

Erlinspiel sah dem braunen Burschen mitten ins Gesicht, und obwohl er keinerlei Gedanken hatte, was zu tun sein könnte, und das Entsetzen ihn wieder schüttelte, daß er meinte, man müsse es ihm ansehen, antwortete er ruhig, und er hörte seine eigene Stimme wie eine fremde von weit her: »Wir werden neue Pflüge machen!«

Er spürte Gerdis hinter sich, sie flüsterte ihm etwas zu, aber er konnte es nicht verstehen. Der Bursche sah ihn erstaunt an, dann ging er langsam zu den anderen in den Kreis zurück.

Er fragte nicht, wie man das machen könne, da alles Eisen vernichtet wurde. Er glaubte.

»Das ist Medard Anthanmaten«, sagte Zurbriggen. Erlinspiel nickte.

»Wir wollen die anderen holen«, sagte er dumpf. »In der Nacht ist keine Gefahr. Ich will ZU ihnen sprechen, sie sollen alle ins Dorf kommen. Sucht auch in den anderen Dörfern, wer noch über ist. In zwei Stunden in der ›Sonne‹ in Saas-Grund.«

Er ging langsamen Schrittes in die Nacht hinein, Gerdis folgte ihm im Sternenschatten. Er schritt dahin und sprach leise mit sich selbst. Die Bäume rauschten, als führe ein Wind durch sie hin.

Aber die Luft war ganz unbewegt.


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