August Bebel
Die Frau und der Sozialismus
August Bebel

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4. Der Darwinismus und der Zustand der Gesellschaft

Es ist also nicht erwiesen, daß die Frauen infolge ihrer Gehirnmasse gegenüber den Männern unterbürtig sind, demnach braucht man sich nicht zu wundern, daß gegenwärtig die Frauen geistig sind, wie sie sind. Darwin hat sicher recht, zu sagen, daß eine Liste der ausgezeichnetsten Männer in Poesie, Malerei, Skulptur, Musik, Wissenschaft und Philosophie neben einer gleichen Liste der ausgezeichnetsten Frauen auf diesen Gebieten nebeneinander gestellt, keinen Vergleich miteinander aushalten. Aber kann es anders sein? Verwunderlich würde sein, wenn es nicht so wäre. Deshalb antwortet auch Dr. Dodel-Zürich Die neuere Schöpfungsgeschichte. , daß dies sich anders verhalten würde, wenn eine Reihe von Generationen hindurch Frauen und Männer gleichmäßig erzogen und in der Ausübung jener Künste und Disziplinen unterwiesen würden. Die Frau ist durchschnittlich genommen auch physisch schwächer als der Mann, was bei vielen wilden Völkern keineswegs der Fall ist Belege hierfür gibt, wie schon erwähnt, Dr. Havelock Ellis in seinem mehrfach zitierten Buche. Danach ist die Frau bei vielen wilden und halbwilden Völkerschaften an physischer Kraft und Körpergröße dem Manne nicht nur gleich, sondern zum Teil überlegen. Dagegen stimmt Ellis auch darin mit anderen überein, daß infolge unserer Kulturentwicklung sich der Unterschied in dem Schädelinhalt beider Geschlechter fortschreitend gesteigert habe. . Was Übung und Erziehung von Jugend auf vermögen, sieht man zum Beispiel an Zirkusdamen und Akrobatinnen, die an Mut, Waghalsigkeit, Gewandtheit und Körperkraft das Erstaunlichste leisten.

Da eine solche Entwicklung Sache der Lebensbedingungen und der Erziehung, naturwissenschaftlich derb ausgedrückt der »Züchtung« ist, darf als sicher angenommen werden, daß das physische und geistige Leben der Menschen zu den schönsten Resultaten führt, sobald der Mensch zweck- und zielbewußt in seine Entwicklung eingreift.

Wie Pflanzen und Tiere von ihren Existenzbedingungen abhängen, günstige sie fördern, ungünstige sie hemmen, und Zwangsverhältnisse sie nötigen, ihr Wesen und ihren Charakter zu ändern, vorausgesetzt, daß sie unter deren Einwirkung nicht zugrunde gehen, so ergeht es auch dem Menschen. Die Art und Weise, wie der Mensch seine Existenz gewinnt und erhält, beeinflußt nicht nur sein äußeres Wesen, sondern auch sein Fühlen, sein Denken und Handeln. Sind ungünstige Existenzbedingungen der Menschen – das heißt Mangelhaftigkeit des Sozialzustandes – Ursache mangelhafter individueller Entwicklung, so folgt daraus, daß durch Veränderung seiner Existenzbedingungen, das heißt seines Sozialzustandes, der Mensch selbst verändert wird. Es handelt sich also darum, die sozialen Zustände in der Weise zu gestalten, daß jeder Mensch die Möglichkeit zur vollen ungehinderten Entwicklung seines Wesens erhält, daß die Gesetze der Entwicklung und Anpassung, die nach Darwin mit der Bezeichnung des Darwinismus belegt werden, zweck- und zielbewußt für alle Menschen zur Wirksamkeit kommen. Das ist aber nur möglich im Sozialismus.

Die Menschen müssen als denkende und erkennende Wesen ihre Lebensbedingungen, das heißt ihre sozialen Zustände und alles, was damit zusammenhängt, zielbewußt ändern und vervollkommnen, und zwar dergestalt, daß für alle gleich günstige Daseinsbedingungen vorhanden sind. Jeder einzelne soll seine Anlagen und Fähigkeiten zu seinem eigenen wie zum Wohle der Gesamtheit entwickeln können, er darf aber nicht die Macht haben, anderen oder der Gesamtheit zu schaden. Sein eigener Vorteil und derjenige aller sollen sich decken. Die Interessenharmonie muß an Stelle der Interessengegensätze treten, die heute die Gesellschaft beherrschen.

Der Darwinismus ist wie jede wirkliche Wissenschaft eine eminent demokratische Wissenschaft »Die Halle der Wissenschaft ist der Tempel der Demokratie.« Buckle, Geschichte der Zivilisation in England. 2. Band, 2. Teil, 4. Auflage. Übersetzt von A. Ruge. Leipzig und Heidelberg 1870. ; behauptet ein Teil seiner Vertreter das Gegenteil, so weiß dieser die Tragweite seiner eigenen Wissenschaft nicht zu beurteilen. Die Gegner, insbesondere die Geistlichkeit, die stets eine feine Nase hat, sobald es sich für sie um Vorteile oder Schaden handelt, haben das begriffen, und deshalb denunzieren sie den Darwinismus als sozialistisch oder atheistisch. Hierin stimmt auch Professor Virchow mit seinen heftigsten Gegnern überein, der auf der Naturforscherversammlung in München im Jahre 1877 gegen Professor Häckel auftrumpfte: »Die Darwinsche Theorie führt zum Sozialismus« Ziegler, a.a.O., S. 11 und 12, bestreitet, daß dies der Sinn der Virchowschen Ausführungen sei. Aber seine eigene Angabe der Ausführungen Virchows bestätigt es. Virchow sagte: »Nun stellen Sie sich einmal vor, wie sich die Deszendenztheorie heute schon im Kopfe eines Sozialisten darstellt! (Heiterkeit.) Ja, meine Herren, das mag manchem lächerlich erscheinen, aber es ist sehr ernst, und ich will hoffen, daß die Deszendenztheorie für uns nicht alle die Schrecken bringen möge, die ähnliche Theorien wirklich im Nachbarlande angerichtet haben. Immerhin hat auch diese Theorie, wenn sie konsequent durchgeführt wird, ihre ungemein bedenkliche Seite, und daß der Sozialismus mit ihr Fühlung genommen hat, wird Ihnen hoffentlich nicht entgangen sein. Wir müssen uns das ganz klarmachen.« Nun, wir haben getan, was Virchow fürchtete, wir haben die Konsequenzen der Darwinschen Theorien gezogen, die Darwin selbst und ein großer Teil seiner Anhänger entweder nicht oder falsch gezogen haben. Und Virchow warnt vor der Bedenklichkeit dieser Lehren, weil er voraussah, daß der Sozialismus Konsequenzen daraus ziehen werde und müsse, die in denselben liegen. . Virchow versuchte den Darwinismus zu diskreditieren, weil Häckel die Aufnahme der Entwicklungslehre in den Schulplan verlangte. Die Naturwissenschaft im Sinne Darwins und der neuen Naturforschung in der Schule zu lehren, dagegen kämpft alles, was an der gegenwärtigen Ordnung der Dinge festhalten will. Man kennt die revolutionäre Wirkung dieser Lehren, deshalb das Verlangen, sie nur im Kreise der Auserwählten gelehrt zu sehen. Wir denken aber: Führen die Darwinschen Theorien zum Sozialismus, wie Virchow behauptet, so beweist das nichts gegen diese Theorien, sondern für den Sozialismus. Männer der Wissenschaft dürfen nicht danach fragen, ob die Konsequenzen einer Wissenschaft zu dieser oder jener Staatseinrichtung, zu diesem oder jenem Sozialzustand führen oder ihn rechtfertigen, sie haben zu prüfen, ob die Theorien richtig sind, und sind sie das, so sind sie mit allen Konsequenzen anzunehmen. Wer anders handelt, sei es aus persönlichem Vorteil, sei es wegen Gunst von oben, oder aus Klassen- oder Parteiinteresse, handelt verächtlich und macht der Wissenschaft keine Ehre. Die Vertreter der zünftigen Wissenschaft, insbesondere an unseren Universitäten, können allerdings nur in seltenen Fällen auf Selbständigkeit und Charakter Anspruch machen. Die Furcht, die Pfründe zu verlieren, an Gunst von oben einzubüßen, auf Titel, Orden und Beförderung Verzicht leisten zu müssen, veranlaßt die meisten dieser Vertreter, sich zu ducken und ihre Überzeugungen zu verbergen oder gar öffentlich das Gegenteil von dem zu sagen, was sie glauben und wissen. Wenn ein Dubois-Reymond gelegentlich einer Huldigungsfeier an der Berliner Universität 1870 ausrief: »Die Universitäten sind die Erziehungsstätten für die geistige Leibwache der Hohenzollern«, dann kann man beurteilen, wie die Mehrzahl der übrigen über den Zweck der Wissenschaft denkt, die an Bedeutung tief unter Dubois-Reymond steht Dubois-Reymond hat, mit Hinweis auf frühere Angriffe gegen ihn, den zitierten Satz im Februar 1883, bei der Geburtstagsfeier Friedrichs des Großen, wiederholt. . Die Wissenschaft wird zur dienenden Magd der Gewalt herabgewürdigt.

Es ist erklärlich, daß Professor Häckel und seine Anhänger, Professor O. Schmidt, v. Hellwald und andere, sich energisch gegen den entsetzlichen Vorwurf wehren, der Darwinismus arbeite dem Sozialismus in die Hände, und behaupten, das Gegenteil sei richtig, der Darwinismus sei aristokratisch, indem er lehre, daß überall in der Natur das höher organisierte und stärkere Lebewesen das niedere unterdrücke. Und da, nach ihnen, die besitzenden und gebildeten Klassen diese höher organisierten und stärkeren Lebewesen innerhalb der Gesellschaft darstellten, so betrachten sie deren Herrschaft als selbstverständlich, weil naturgesetzlich berechtigt.

Diese Richtung unter unseren Darwinianern hat keine Ahnung von den wirtschaftlichen Gesetzen, welche die bürgerliche Gesellschaft beherrschen, deren blinde Herrschaft weder den Besten, noch den Geschicktesten, noch den Tüchtigsten auf die gesellschaftliche Höhe erhebt, oft aber den Geriebensten und Verdorbensten, und diesen in die Lage setzt, die Daseins- und Entwicklungsbedingungen für seine Nachkommen zu den angenehmsten zu machen, ohne daß diese dafür einen Finger zu krümmen brauchen. Unter keinem Wirtschaftssystem besitzen, durchschnittlich genommen, Individuen mit menschlich guten und edlen Eigenschaften so wenig Aussicht auf Emporkommen und Obenbleiben als unter der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Man kann ohne Übertreibung sagen, diese Unwahrscheinlichkeit wächst, wie dieses Wirtschaftssystem seinem Höhepunkt entgegenstrebt. Rücksichtslosigkeit und Gewissenlosigkeit in der Wahl und Anwendung der Mittel sind unendlich wirksamere, mehr Erfolg versprechende Waffen als alle menschlichen Tugenden zusammengenommen. Und eine auf solcher Basis aufgebaute Gesellschaft als eine Gesellschaft »der Fähigsten und Besten« anzusehen, das kann nur jemand, dessen Kenntnis von dem Wesen und der Natur dieser Gesellschaft gleich Null ist, oder der von bürgerlichen Vorurteilen beherrscht, in bezug auf sie das Denken und das Schlüsseziehen verlernt hat. Der Kampf ums Dasein ist bei allen Organismen vorhanden, ohne Einsicht in die Umstände, die sie dazu nötigen, er vollzieht sich ihnen unbewußt. Dieser Kampf ums Dasein ist auch in der Menschenwelt, unter den Gliedern jeder Gesellschaft vorhanden, in der die Solidarität verschwand oder noch nicht zur Geltung kam. Dieser Kampf ums Dasein ändert sich nach den Formen, welche im Laufe der Entwicklung die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander nehmen; er nimmt den Charakter von Klassenkämpfen an, die sich auf immer höherer Stufenleiter abspielen. Aber diese Kämpfe führen – und darin unterscheiden sich die Menschen von allen anderen Wesen – zu immer höherer Einsicht in das Wesen der Gesellschaft und schließlich zur Erkenntnis der Gesetze, welche ihre Entwicklung beherrschen und bedingen. Schließlich haben die Menschen nur nötig, diese Erkenntnis auf ihre politischen und sozialen Einrichtungen anzuwenden und diese entsprechend umzuformen. Der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist also, daß der Mensch ein denkendes Tier genannt werden kann, das Tier aber kein denkender Mensch ist. Das begreift ein großer Teil unserer Darwinianer in ihrer Einseitigkeit nicht. Daher der falsche Zirkelschluß, den sie machen Aus der Feder des Professors Enrico Ferri rührt eine Schrift, betitelt: »Sozialismus und moderne Wissenschaft, Darwin–Spencer–Marx« (übersetzt und ergänzt von Dr. Hans Kurella. Leipzig 1895, Georg H. Wigands Verlag), in welcher er speziell Häckel gegenüber nachweist, daß Darwinismus und Sozialismus in vollkommener Harmonie sich befinden und es ein Grundirrtum Häckels ist – wie er das bis in die neueste Zeit getan –, den Darwinismus als aristokratisch zu charakterisieren. Wir sind mit Ferris Schrift nicht allenthalben einverstanden und teilen insbesondere nicht seinen Standpunkt in Beurteilung der Eigenschaften der Frau, indem er wesentlich auf dem Standpunkt von Lombroso und Ferrero steht. Ellis hat in seinem »Mann und Weib« nachgewiesen, daß, wenn die Eigenschaften von Mann und Frau verschiedenartige sind, sie doch gleichwertige seien – eine Bestätigung des Kantschen Ausspruchs, daß Mann und Frau zusammen erst den Menschen bilden. Nichtsdestoweniger kommt die Ferrische Schrift ganz à propos, nur hätte sich ihr Übersetzer ersparen können, in einer Note auf S. 10 bei der Erwähnung Zieglers »von den leichtfertigen Behauptungen Bebels« zu sprechen. Diese »Leichtfertigkeit« nachzuweisen, dürfte Herrn Kurella schwerfallen, und recht leichtfertig angebracht ist diese Note bei Sätzen Ferris, mit welchem wir vollkommen übereinstimmen. .

Professor Häckel und seine Anhänger bestreiten auch, daß der Darwinismus zum Atheismus führe, und so machen sie, nachdem sie durch alle ihre wissenschaftlichen Ausführungen und Beweise den »Schöpfer« beseitigt haben, krampfhafte Versuche, ihn durch die Hintertür hereinzuschmuggeln. Zu diesem Zwecke bildet man sich seine eigene Art von »Religion«, die man »höhere Sittlichkeit«, »sittliche Prinzipien« usw. nennt. Professor Häckel machte 1882 auf der Naturforscherversammlung in Eisenach in Gegenwart der großherzoglich Weimarschen Familie den Versuch, nicht nur die Religion zu retten, sondern auch seinen Meister Darwin als religiös hinzustellen. Der Versuch scheiterte, wie jeder, der jenen Vortrag und den dabei zitierten Brief Darwins gelesen, bestätigen wird Professor Häckel veröffentlichte in Nr. 8 der »Zukunft« (Berlin 1895) einen Artikel über die dem Reichstag vorliegende Umsturzvorlage, an dessen Schluß er unter anderem bemerkt: »Ich bin gewiß kein Freund des Herrn Bebel, der mich wiederholt angegriffen und unter anderem in seinem Buche über die Frau geradezu verleumdet hat.« Der Vorwurf, den Herr Häckel mir hier macht, ist der stärkste, den man jemand machen kann, er bedeutet – was Professor Häckel nicht zu wissen scheint –, man habe wider besseres Wissen Angriffe gemacht. Ich bin mit nicht bewußt, das getan zu haben, und muß abwarten, daß Professor Häckel seine Behauptung beweist; solange er das nicht tut, weise ich sie als leichtfertig zurück. (Der Verfasser.) . Der Brief Darwins besagte das Gegenteil von dem, allerdings in vorsichtigen Ausdrücken, was er nach Professor Häckel besagen sollte. Darwin mußte Rücksicht auf die »Frömmigkeit« seiner Landsleute, der Engländer, nehmen, deshalb wagte er nie, öffentlich über die Religion seine wahre Meinung zu sagen. Aber privatim tat er dieses, wie kurz nach der Weimarer Versammlung bekannt wurde, gegenüber Dr. L. Büchner, dem er mitteilte, daß er seit seinem vierzigsten Lebensjahr – also seit 1849 – nichts mehr glaube, weil er keine Beweise für den Glauben habe erlangen können. Darwin unterstützte auch in den letzten Jahren seines Lebens eine in New York erscheinende atheistische Zeitung.


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