Martin Beradt
Die Straße der kleinen Ewigkeit
Martin Beradt

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Frajims Ankunft

Ephraim, genannt Frajim, hatte schon früh eine unbeherrschte Unterlippe; sie war väterliches und mütterliches Erbteil zugleich. Seine Mutter fürchtete, die Lippe verriete die späteren Begierden, und hätte viel für die Macht gegeben, diese Form des Mundes zurückzunehmen. Zum Teil glich die Nase den Makel aus, zum Teil die Stirn: der Mund verriet die gröberen Instinkte, die Nase aber war edel, die Stirne klug. Frajim Feingolds Vater berief sich auf sie, wenn er dem Sohne eine große Zukunft weissagte. Doch die Unruhe der Mutter blieb: Sinnlichkeit, das wußte sie, verliert sich erst im Alter, Vornehmheit schon früh, und Klugheit – nun, es kommt auf die Art an, in der sie sich zeigt; ihr waren kluge Männer bekannt, denen war es übel genug ergangen im Leben, und gestorben waren sie im tiefsten Elend.

In jedem Fall erkannten Ephraims Eltern ihre Aufgabe, den Sohn zu einem großen Mann zu machen. Die Voraussetzungen für seine Laufbahn, natürlich als Kaufmann, waren erst zu schaffen. Sie waren in Piaseczno nicht vorhanden, aber vielleicht in Warschau, vielleicht in Lodz.

Sie entschieden sich nicht für die eine, nicht für die andere Stadt, sie entschieden sich überhaupt nicht für den Osten, ihre Entscheidung fiel für Berlin; Deutschland stand in ihren Augen hoch, vor allem stand Polen in ihren Augen sehr viel tiefer. In Deutschland konnten Juden um das Jahr 1927 in jedes Amt gelangen, konnten vor allem als Kaufleute sich frei entfalten. In Polen wurden einige Juden höhere Beamte, Lokomotivführer aber, Schaffner und Briefträger durften sie nicht werden; sie drängten in 8 diese unteren Stellen, aber man ließ sie nicht hinein. Man sah lieber zwei bis drei Millionen Juden ersticken in unsäglich bescheidenen Handwerken, in einem Handel, der eine Karikatur seiner selbst war. Sechs Juden rissen einem Verkäufer die alte Hose aus der Hand; hinterher machte sie den Weg durch alle sechs Läden – ach, das waren keine Läden, es waren Verschläge und Regale.

Auch anderen ging es in Polen schlecht, die Bauern bekamen ruinöse Preise, so mancher Gutsbesitzer war bloß ein armer Teufel, aber die jüdische Not war doch die größte. Es gab wohlhabende Juden, gewiß, aber was wollte das besagen? Man brauchte nur in Warschau über eine Seitenstraße des Nalewki zu gehen oder der Franziskanka, über den Nowo Woluwkie, in Wilna durch die Rameiles-, durch die Jatkewergasse, so wurde die Lage einem klar – man durchwanderte einen Pferch, ein Gewühl des Irrsinns: Straßen, Höfe, Häuser wimmelten von Juden, barsten von Juden, platzten von Juden, alles Ärmste der Armen, ein verelendetes Geschlecht, in Gefahr, am nächsten Tage zu verkommen; ein Schritt und man trat ein Kind nieder oder einen Vater, der beschäftigungslos umherstand, die Hand im langen Bart, die Gedanken bei Gott oder bei einem Geschäft mit entfernt winkendem Verdienst von zwei, im besten Falle vier Groschen. Nein, Frajims Eltern hätten sich schon deshalb für Berlin entscheiden dürfen, weil es in Deutschland lag. Zwar hatte in Deutschland schon damals eine Partei gegen die Juden Drohungen ausgestoßen, aber nie, so glaubten selbst die deutschen Juden, würde sie die Übermacht gewinnen, viel weniger je ihre Drohungen wahrmachen.

Frajims Eltern entschieden sich für Berlin noch aus einem zweiten Grund. In Piaseczno erzählte man sich sagenhafte Dinge von New York, man sprach geradezu von einem Paradies des Reichtums, und Berlin lag auf halbem Weg dorthin.

Zwei Jahre fasten, und das Reisegeld für Frajim war erspart. Er bekam einige Mark dazu als Zehrgeld – dann 9 würde er selbst weiter zu sehen haben. Niemand verkam, auch dann nicht, wenn ihm die Mittel ausgingen; kurze Zeit sorgten die jüdischen Gemeinden für den Zugewanderten; erst wenn er auch dann sich nicht ernährte, wurde er über die Grenze abgeschoben. Er kam im schlimmsten Fall dort wieder an, von wo er ausgezogen war, da war noch immer nichts verloren – allerdings, die Schande ersparte er besser seinen Eltern und sich selbst.

Wirklich traf Frajim Feingold zu Beginn des Herbstes 1927, an einem wenig schönen Tag, in der deutschen Hauptstadt ein. Er kam unmittelbar aus einer Judengasse von Piaseczno und wußte genau, in welche Gasse er hier zu gehen hatte; es gab nur eine. In Amsterdam gibt es ein Viertel für Ostjuden, in New York füllen sie ganze Stadtteile, in London lange Straßenzüge. Hier, in einer Stadt von vier Millionen Einwohnern, einer der größten und bedeutendsten der Welt, waren so ausgeprägt nur wenige Gassen; die wichtigste betrat er. Dreitausend Menschen hatte sie bisher beherbergt, jetzt sollte es einer mehr sein.

Frajim sah ängstlich unter seinem Plüschhut hervor und hoffte zaghaft auf sein Glück. Es war frühe Menschenkenntnis, daß er Frau Warszawski zur Quartierfrau wählte, er hätte keine bessere finden können. Schon den sechsten Monat hielt sie ihn jetzt durch, schon den sechsten Monat beherbergte und beköstigte sie ihn umsonst. Denn so lange schon war Feingold ohne Verdienst, so lange gab es keine Stellung für einen jungen Mann, der in jeder Stellung etwas Außerordentliches hätte leisten wollen. Dabei ergab sich Feingold nicht etwa dem Müßiggang. Er nahm Dienste bei Frau Peissachowitsch, einer Geflügelhändlerin, einer ungeheuer beleibten und zänkischen Person. Er tat das Äußerste, er tat die schmutzigste Arbeit, aber selbst bei aller Bereitwilligkeit behauptete er sich nicht; ihr früherer Austräger war nur krank gewesen, sie stellte ihn wieder ein.

Frau Warszawski brachte ihn zu Schaum. Schaum war 10 hochmütig; wahrscheinlich stieg er in seinen eignen Augen noch durch einen ungeheuerlichen Buckel auf dem Rücken und einen bescheidnen auf der Brust. Ein steifes Bein hinderte ihn, die alten Kleider, die er kaufte, sogleich nach Haus zu schaffen; die anderen Händler schleppten ganze Berge heim, aus Furcht, man könne sie nachträglich vertauschen. Feingold holte die von Schaum gekauften Kleider ab, Feingold trug sie geduldig heim, Feingold wurde krumm und schief, ein treuer Diener seines leicht verbauten und etwas unheimlichen Herrn. Aber kaum hatte er sich eingearbeitet, da wurde er entlassen, das Geschäft sei schlecht. Schlecht, das war es, aber Schaum stellte ihn auch nicht wieder ein, als es sich belebte. Feingold war durch Schaum in viele Häuser gekommen, Feingold hatte viele Teile der Stadt betreten und die Stadt war so groß wie eine polnische Wojewodschaft – die Kammer, in die man ihn stieß, die Einsamkeit, zu der man ihn zwang, machten ihn schwermütig, er vermochte kaum zu atmen. Frau Warszawski fühlte es, sie beschwor Schaum: »Haben Sie denn kein Gewissen? Wollen Sie einen jungen Menschen ruinieren?« Aber Schaum, so sehr er ihr ergeben, Schaum blieb hart, machte Redensarten und lehnte ab.

Nur um Gotteswillen nicht zurück nach Piaseczno! dachte Frajim unablässig, Tag und Nacht. Dennoch war er ohne Furcht. Zwar übersah er sein neues Leben noch nicht ganz, aber er fühlte eines: Frau Warszawski brachte sich eher um, als daß sie ihn zurückfallen ließ in sein polnisches Elend. Diese Gewißheit machte ihn leichtsinnig in einer Stellung, die er wieder durch sie bekam, durch niemand sonst. Herr Lewkowitz war ein angesehener Mann und handelte mit Lumpen. Hier, in dieser Gasse, war das Kontor, nebenan in einer Nachbargasse das Lager; dort wurde auch sortiert. Es sortierten augenblicklich sieben Mädchen, ein achtes sortierte nach, aber Herr Lewkowitz hatte schon fünfundzwanzig beschäftigt: der Lumpenhandel ging zurück, kein Zweifel, leider. 11

Lewkowitz nahm Feingold ungern, er zog einen späteren Konkurrenten in ihm groß. Um selbständig zu werden, was brauchte man da? Etwas Warenkenntnis, ein wenig Kapital. Das Kapital bekam man leicht geliehen, und Warenkenntnis – er wußte nicht, ob Feingold sehr viel Zeit brauchte, sie zu erwerben. Schließlich entschied er sich für ihn. Frau Warszawski hatte sich in seiner Familie in jeder Not bewährt und einem armen Juden Brot zu geben, war ein frommes Werk. Aber er hatte ihn noch keine Woche bei sich, da lief ihm Frajim fort. Frajim hätte sich bei ihm über vieles unterrichten können, Lewkowitz sortierte Lumpen für alle Arten Kunstwolle, für Shoddy-, Mungo-, Tibet-, Extraktwolle. Aber die christlichen Sortiererinnen mochten den zugereisten kleinen Juden nicht, bei uns ist es gefährlich, sagten sie. Er erfuhr von Milzbrand, von typhöser Erkrankung, einem Mädchen waren die Haare ausgegangen; Lewkowitz bestritt das alles, aber er bestritt es lau. Eines Tages spürte Feingold Gase aus den Lumpen steigen, da hielt ihn nichts. Das war feige, natürlich, aber er war jung, er hatte noch eine große Vorstellung von seinen Möglichkeiten. Lumpen – der Gegenstand allein stieß ihn ab.

Noch ein zweites Mal verschüttete sich Frajim alle Möglichkeiten. Seit langem lebte ein jüdischer Lederhändler in einer Seitenstraße. Dem Mann ging es nicht gut. Er führte es darauf zurück, daß ihm die Ostjuden im Handel überlegen waren; er selbst war schon in diesem Stadtviertel geboren. Er gedachte dem Übelstande abzuhelfen, indem er Frajim einstellte – Frajim kam aus dem Osten und Frajim war in einem Ledergeschäft aufgewachsen. Eben deshalb lehnte Frajim ab: wenn der Vater mit Leder gehandelt und keinen Erfolg gehabt hatte, so durfte der Sohn alles tun, nur nicht das gleiche.

Bald jedoch bereute er seinen Entschluß, denn er legte Frau Warszawski eine schwere Prüfung auf. Andere junge Männer waren mit ihm angekommen, weitere ihm gefolgt. Jeder besaß Talente, jeder war voller Wut, 12 voranzukommen, keiner hatte mehr im Vermögen als ein paar Mark, das trieb wunderbar den Ehrgeiz an. Feingold fand keine Stellung und verfiel einem Zustand, den man Verdrossenheit nennen konnte, der aber von Verzweiflung nicht weit entfernt war.

Von all dem erfuhren seine Eltern nichts. Für sie war er bei Lewkowitz eingetreten und bei Lewkowitz geblieben. Er schrieb ihnen, jede Woche, so wie das in allen jüdischen Familien in Osteuropa üblich ist. An jedem Donnerstag übergab er der Post eine Karte, immer hatte sie den gleichen Wortlaut. »Liebe Eltern!« schrieb er, »ich empfing Eure l. Zeilen. Mir geht es m. G. H. gut. Ich hoffe, auch von Euch s. G. w. bald das Gleiche zu erfahren. Indem ich Euch einen vergnügten Sabbat wünsche, bin ich Euer treuer Sohn Frajim.« Als Nachschrift setzte er hinzu: »Den Geschwistern und Noah viele Grüße.« Die Buchstaben waren die der jüdischen Kursivschrift, die Orthographie nicht die amtliche deutsche; aber je länger er schrieb, desto mehr gab er die Schreibweise von Piaseczno auf und kam der in Deutschland üblichen näher. Nie schrieb er übrigens, ohne an die Oberkante der Karte die Abbreviatur eines frommen Spruchs zu setzen, und immer ließ er, ebenfalls ungekürzt, der Anrede an die Eltern eine Fürbitte folgen an Gott um ein langes Leben für sie beide.

Nichts schrieb er über sein eigenes Leben. Seine Eltern fragten, aber er wich aus. Schließlich bestürmten sie ihn so, daß er sie anlog in seiner Not. Nun zweifelte der Vater nicht länger und die Mutter hoffte, eines Tages werde Frajim vom Gehilfen zum Teilhaber des Herrn Lewkowitz aufsteigen. Das machte auf sie zunächst keinen großen Eindruck, denn was war das schließlich? Sie hatten für ihren Frajim etwas anderes im Sinn als den Handel des Herrn Lewkowitz mit Lumpen. Eines Tages aber fragten sie, was aus den Lumpen werde, wenn sie Lewkowitz sortiert habe. Frajim berichtete, sie gingen nach England, in Fabriken. Das änderte ihr Urteil, das war 13 eine andere Betriebsform, als sie annahmen. Bis dahin waren sie kleinlaut gewesen, wenn man in Piaseczno fragte: was tut er denn nun eigentlich, der Frajim? Er ist doch in Berlin, gaben sie zur Antwort. Ja, aber was macht er in Berlin? Da schwiegen sie, denn bei ihnen in Piaseczno suchten die Lumpenhändler zugleich Knochen und altes Eisen aus dem Müll. Die Lumpenhändler, Herr Naftali Ehrenfels und Herr Leiser Feuerstein, der eine lahm, der andere verkrüppelt, genossen keine Achtung und hatten beide zusammen nicht zwanzig Zloty im Vermögen. Aber wenn die Feingolds nun jemand fragte, so gaben sie bereitwillig Auskunft – es kam nur darauf an, welchen Umfang ein Betrieb erreichte.

Durch diese Überschätzung wurden sie unvorsichtig. Frajim war zur Größe aufgestiegen, also sandten sie Frajim einen Vetter nach. Sie sandten ihn, ohne Frajim auch nur zu fragen, hatten sie doch auch niemanden gefragt, als sie Frajim in die Welt geschickt. Noah Kirschbaum war früh verwaist und bei ihnen untergeschlüpft, als ihn eine Tante nicht mehr durchbringen konnte. Bis dahin fünf Kinder erziehend, erzogen sie nun sechs. Fast so alt wie Frajim, war Noah Kirschbaum weniger begabt; auch die Züge von Größe, die sie in dem Gesicht des Sohnes fanden, lasen sie nicht in dem des Neffen – aber sollte er deshalb in Piaseczno untergehen?

Mit einem Vermögen, nicht einmal so groß wie einstmals das von Frajim, traf Noah gegen Wintersende in der Gasse ein. Er fand einen niedergeschlagenen, nicht, wie erhofft, einen hochgemuten Vetter. Frajim gab zu: so stand es, schlimm. Sie einigten sich rasch: nach Hause wird nichts berichtet. Aber wichtiger war: was fing man an? Schlafen – es verstand sich von selbst, die armen Vettern konnte man nicht trennen, Noah mußte bei Frau Warszawski wohnen, in einer ihrer beiden Kammern. Eine Bettstatt fehlte? Dann schliefen die beiden Vettern eben in der einen. Sie wollten nicht? Also abwechselnd der eine im Bett, der andere auf dem Boden; wer auf dem 14 Boden schlief, der deckte sich mit dem Mantel zu, die Hose behielt er an.

Aber mit dem Schlafen allein war es nicht getan, ein junger Mann will essen. Frau Warszawski konnte ihn nicht durchbringen. Sie sorgte, außer für Frajim, schon für eine Tante, noch für eine dritte Person, das war zuviel. Sie arbeitete hart. Niemand in der Gasse hatte Berufe in ähnlicher Zahl wie sie. Sie half bei Lewkowitz, wusch für den Rabbiner, nähte für alle Welt, schnitt Hühneraugen, legte Bandagen an, die wegen ihrer leichten Hand gerühmt wurden, selbst bei Toten wachte sie und doch war das alles erst die eine Hälfte ihrer Berufe. Aber weder mit der einen noch mit der anderen verdiente sie soviel, daß sie auch das geringste zurücklegen konnte; bestimmt vermochte sie nicht noch eine weitere Person zu ernähren.

Sie grübelte: wie bringe ich den Noah durch, solange der Junge keine Stellung hat? Es blieb nur eines: weniger essen. Vor allem sie, danach die Tante, danach die junge Verwandte Alexandra Dickstein, die mit der Tante und ihr eine Kammer teilte, zuletzt auch Frajim. Ja, Frajim zuletzt. Frajim war ein junger Mann, junge Leute müssen gehörig essen, da gab es nichts zu knapsen.

Aber auch die Verwandte, auch Alexandra Dickstein, war jung und Alexandra wollte außerdem hübsch bleiben. Sie wickelte Zigaretten, ihr Chef war ein wenig in sie verliebt – wenn sie abmagerte, wer weiß, ob er es blieb? Sie widersetzte sich der Hungerkur, schon Frajim wurde verwöhnt, nun auch der Vetter? Aber ihr Widerstand hielt nicht vor. Sie verehrte Frau Warszawski und nur vorübergehend vertrieb der Hunger die Schwärmerei.

Länger empörte sich die Tante. Sie erboste sich jeden Tag. Wozu hatte ihre Nichte diesen Noah in das Haus genommen? Schon Frajim war eine Last. Nächstens fand sich ganz Piaseczno ein, nach Piaseczno Pinsk, nach Pinsk Bialystok, danach ganz Litauen! Sie stammte nicht von 15 hier, natürlich nicht, sonst hätte sie in dieser Gasse nicht gelebt. Ihre Vorfahren lagen auf den schmucklosen Begräbnisplätzen zwischen der Weichsel und dem Dnjepr, sie selbst war in einer polnischen Kleinstadt geboren, in der die Juden in der Überzahl waren. Sie lebte allerdings schon dreißig Jahre hier, aber es nahm sie keineswegs gegen die Vettern ein, daß sie so viel später gekommen waren. Hier leben mochten die Jungen immerhin, bloß nicht auf ihre Kosten. Sie hatte alle Menschen verloren, die ihr nahegestanden, die Eltern, den Bruder, den Mann, die beiden Töchter, zuletzt den Schwiegersohn. Ein Mann hätte überhaupt nicht länger leben mögen nach so viel Schlägen, sie mochte es. Was blieb ihr mit sechsundsiebzig Jahren? Sie aß gern – und jetzt sollte sie auch das nicht dürfen? Damit es zwei junge Burschen taten, dieser Feingold und dieser Kirschbaum? Sie schimpfte, die alte Tante Feiga Turkeltaub, freilich laut und kreischend nur, wenn sie allein war in der Küche und für alle kochte. Saßen sie um den Tisch beisammen, so zeigte sie ihr Mißfallen nicht so offen, doch verschwieg sie selten, daß sie gut und gern noch was vertragen würde. Die Reibereien nahmen zu, und schließlich konnte Frau Warszawski den Streit nur mit Mühe beilegen und mit Mitteln, die schwerlich vorhielten. Um die Tante abzulenken, fragte sie die Jungen: »Was steht denn nun eigentlich bei euch an einem Hutgeschäft? steht da immer noch . . .?« Sie konnte nicht weitersprechen, so rasch schoß es aus dem Mund der darauf dressierten Jungen: »Sprzedaz Kapeluszy.«

»Und an einem Kleiderladen?«

»Ubiary Damskie Meskie, auf der anderen Seite Jiddische lange Malbuschim.«

»Und an einem Buchladen?«

»Podreczniki Sczkolne Seforim.«

Die Tante nickte, sie erinnerte sich ihrer Jugend, der Straßen des Städtels, nur hatte man damals russisch geschrieben, jetzt schrieb man polnisch auf der einen und jiddisch auf der anderen Seite. Aber lange konnte Frau 16 Warszawski mit so bescheidenen Mitteln des Menschenfangs nicht einer Urgewalt begegnen wie dem Hunger; es war klar, einer von den beiden Jungen mußte weichen oder morgen eine Stellung haben, sonst brach die Wirtschaft hier zusammen.

»Macht fertig, geht hinunter, stellt euch auf!« sagte die Tante streng, »vielleicht find't ihr was!«

»Was sollen sie herumstehen in der Kälte?« warf Frau Warszawski ein.

»Ich weiß nicht, wie du red'st! Wenn sie frieren, sollen sie inwendig sich Feier machen, so wird ihnen warm werden! Es gibt manchen, der was gestanden und hat sein Glück gemacht.« 17

 


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