Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Ich dich allein lassen? Nischt zehn Pferde kriegen mich hier fort!«
»Nicht schlecht«, meinte Julchen, »am Ende soll ich dir noch zureden: geh!«
»Und wenn du hundertmal sagst: geh! ich geh doch nischt!« beteuerte Riwka.
Aber das waren Redensarten, wie sie Frauen lieben, wenn sie unangenehme Mitteilungen einleiten. Es waren keine Pferdekräfte nötig, auf die freundliche Einladung Jurkims gab Riwka ihren Platz an den Ständen auf.
»Was macht Ihre Schwägerin?« erkundigte sich teilnahmsvoll eine Nachbarin.
»Meine Schwägerin, was wird sie machen, wahrscheinlich macht sie Gemüse ein.«
»Ich meine, wie's ihr geht?«
»Wie's ihr geht? Wie wird's ihr gehen? Ich denk, es geht ihr gut.«
»Ich denke? Sehen Sie sie nicht?«
»Was man so sehen nennt. Sie kommt, steckt die Nase rein, zieht sie wieder raus und geht.«
»Und wer sitzt?«
»Sie sehen doch, wer sitzt! Tauber sitzt und ich sitze. Nein, sie wird sitzen! Von ihr aus kann der Stand zusammenbrechen, sie rührt es nicht!«
Wirklich brach der Stand zusammen und nicht dieser Stand allein. An einem Stand im Torweg eines Hauses handelte ein alter Jude namens Seidenspinner mit Zelluloid. Viele tun das in Osteuropa, fast in allen Läden verkaufen sie diese billige Ware: Serviettenhalter, 198 Seifenbecken, Fingerhütchen, Kinderknarren, Stecknadelschalen, das heißt, sie möchten sie verkaufen, doch es geht nicht, und es bleiben ihnen ewige Bestände.
In der Gasse beliebte es, außer dem alten Seidenspinner im Tor, noch einem etwas aufgeregten Manne, einem Christen von mittleren Jahren, mit Zelluloid zu handeln. In seinem Holzwarenladen gab es besseres Zelluloid, aber es war auch teurer, und deswegen haßte er den Mann im Torweg. Aber gehaßt wurden die Stände in zwanzig Läden, es gab bei ihnen alles, was Menschen aßen oder trugen, und fast immer billiger, wenn auch möglicherweise nicht so gut. Noch größere Erbitterung galt den fliegenden Händlern, die mit einem Schleifstein durch die Gasse zogen oder von einem Handwagen Blumenerde und Orangen absetzten. Alle diese Leute zahlten keine oder unverhältnismäßig wenig Miete, und ihre Ware, behauptete man, war verschoben oder doch geramscht. Der Holzwarenhändler hatte viel über die Mißstände nachgedacht, aber Mittel gegen das Übel nicht gefunden. So trank er sich eines Tages in einen Taumel und stürzte zum Entsetzen aller schreiend aus der Schenke auf die Gasse. Er hatte halbe Zusagen von mehreren und hoffte, viele mitzureißen. Er tat, was er sich hundertmal vorgesetzt, fegte das verhaßte Zelluloid von dem verhaßten Stand und zertrampelte es am Boden, daß es krachte. Während die anderen zögerten, und während im Tore Seidenspinner verzweifelt schrie, schleuderte er schon von einem zweiten Stand alles Gemüse und Obst auf die Gasse. Ehe die anderen ihn festhielten, war auch Julchens Ware in den Dreck geworfen.
Der Holzwarenhändler folgte dem Rate guter Freunde und erstattete, obwohl bescheiden begütert und nur von einem einzigen unterstützt, den zugefügten Schaden. So kam der verzweifelte Mann im Tor zu neuer Ware und wurde die uralte los, die in langen Jahren fleckig und verbeult geworden war. Auch Julchen erhielt ihre verschmutzten Stücke bezahlt und hätte wieder ihre Nische 199 beziehen können. Aber bei der allgemeinen Erregung waren auch Stücke verschwunden, und die verschwundenen ersetzte niemand. In diesem Tor ließ sich eben ein Stand überhaupt nicht halten; in diesem Hause, das von den Dirnen noch nicht gereinigt war, mußte Julchen, trotz allem, eines Tages zugrunde gehen.
Julchen beutete den Vorfall aus. Sie stellte sich vor den Ständen auf die Gasse und jammerte, sie gehe nicht wieder in das Tor zurück, sie könne sich nicht mit der Gewalt in ein Handgemenge einlassen; die Ware wurde nicht besser, wenn sie sich häufiger im Schmutze sielte . . .
»Sie sagen doch immer, Gott wird helfen«, rief sie Tauber zu, der in der Nähe auf der Gasse stand. Sie rief es mit kräftiger Stimme, daß recht viele von ihrer Zerfallenheit mit der Welt erfuhren. »Da sehen Sie, wie er hilft.«
»Und er wird helfen, sag ich Ihnen wieder.«
»Ich merk bloß nischt davon.«
»Heut!«
»Ach so, in zehn Jahren? In zehn Jahren können meine Kinder zehnmal Jahrzeit für mich gehalten haben.«
»In zehn Jahren werden Ihre Kinderchen Mohn und Zucker zu essen haben, und was werden sie tragen? Samt und Seide!«
»Frau Warszawski, kommen Sie her, hören Sie sich das an! Es kann sein, ich verhunger, sagt er, aber die Kinderchen werden vielleicht zu essen und anzuziehen haben . . . Fangen Sie was an mit so 'nem Menschen! Ich bitt Sie, sagen Sie ihm, ich weiß nischt was, der Mensch macht mich rein verrückt. Wenn er mir nischt sofort aus den Augen geht, werd ich mich hinreißen und mich vergessen!«
Gott half nicht? Frau Warszawski half. Mit Weichselbaums Wissen und Willen erließ sie einer zweifelhaften Mieterin des Hauses den aufgelaufenen Zins, um einen Kellerladen freizumachen und ihn Julchen zu geben. Drei 200 Fenster reichten keinen Meter weit aus dem Boden, aber in jedes konnte man ein Kleid legen, einen Shawl, ein Tuch, ein Stück Wäsche, eine Trikotage. Kein glanzvolles Geschäft, nichts von der verschwenderischen Pracht der Warenhauspaläste, aber welch ein Fortschritt: nicht mehr ein täglich auf- und abgeschlagener Stand, ein festes Quartier, mit dem Haus verwachsen und verbunden. Mit geradezu herrlichen schwarzen Buchstaben wollte Julchen den Namen ›Hurwitz‹ über den Eingang malen lassen, denn bloß ein Keller – aber doch ein Keller! Nur der letzte Abfall von Deutschlands Reichtum brauchte sich in seinen Winkeln anzusammeln, mehr verlangte sie nicht. Bisher hatte sie die Stadt geliebt, sie vergötterte sie fortan. Das Haus war wenig anständig? Frau Warszawski würde es allmählich säubern, und wenn selbst nicht alle Dirnen auszutreiben waren, ein Keller war nicht ein Tor, im Keller konnte niemand einer Frau, die ein Nachthemd auswählte, eine schlüpfrige Redensart im Vorübergehen zurufen. Und zu allem war sie auch endlich diesen Schwätzer los. Um in einem Keller aufzupassen, dazu reichten ihre Augen und ihre Hände und, wenn es nötig werden sollte, ihre Fäuste – sie brauchte keinen Tauber mehr.
Es klinkt, und im Keller erscheint jemand, von dem Bestellungen zu erwarten sind: Alexandra Dickstein. Alexandra wickelt nicht mehr Zigaretten, der Fabrikant, ein Mann schon mit erwachsenen Kindern, will sie heiraten – die Hochzeit soll sehr bald sein, einen Witwer kann man nicht warten lassen, bis er schimmelt. Übrigens ist er nur wenig über vierzig, der Vollbart macht ihn älter. Man redet in der Gasse: Hat sie ihn ordentlich lieb? Tauber, er hat zwar im Keller nichts mehr zu suchen, darf aber durch die offene Tür von oben in den Keller hinuntersprechen – Tauber bezweifelte jüngst, ob es zur Hochzeit kommen werde.
»Warum haben unsere Rabbonim bestimmt, die Braut darf die Wäsche erst nach der Hochzeit sticken lassen? Sie wußten, weshalb.« 201
»Nischt wußten Ihre Rabbonim«, antwortete Julchen schneidend, »und Sie wissen noch weniger.«
»Wenn Sie sagen, ich weiß nischt«, fügte sich Tauber, »dann weiß ich nischt soviel, wie ich Schwarzes hab unterm Finger.«
»Ich will nischt nachsehen kommen.«
»Sie können ruhig kommen, oder nein, besser Sie kommen heute nischt.«
Ohne ihr Geschäft zu vernachlässigen, erkundigte sich Julchen vorsichtig bei der Braut, die in den Stoffen wühlte, ob sie für die anderen Schützlinge von Frau Warszawski etwas tun könne. Da waren Noah Kirschbaum, Frajim Feingold . . . Man sagte, in den Geschäften des Herrn Apfelbaum seien Reisen notwendig auf den Balkan, Verhandlungen im Orient . . .
Alexandra ging nicht auf die Anregungen ein. Sie hatte Noah nie gemocht und Frajim nur beiläufig begünstigt, als sie einmal Herrn Elias Apfelbaum durch Eifersucht hatte reizen wollen. Auch damals hatte sie Frajim nicht das mindeste gewährt, ja, als er einmal sagte »Zeig mal, wie du aussiehst von der Seite!« war sie grob geworden: »Leck Fett! Butter ist zu teuer!« Nein, auch Frajim wird nicht Tabak in Mazedonien einkaufen.
Frau Warszawski stand mit Noah Kirschbaum zu einer kleinen Abendunterhaltung vor dem Haus. »Man sagt doch, bei dir geht das Geschäft noch immer? Alle klagen, bloß du nicht?«
»Es geht wirklich«, erklärt er, befriedigt von dem Tag, »aber man hat den ganzen Tag bloß einen Ärger. Sie sollten sehen, wie einem die Jungens das Leben schwer machen. Einer kommt vorhin ran und sagt: du verdirbst die Preise! Ich sag: wieso verderb ich? Ich geb doch nischt mit Schaden ab? Mit Schaden willst du auch noch abgeben? Also was redst du, sag ich. Ich red, sagt er, weil keiner mitkommt mit deinen Preisen. Wo steht geschrieben, sag ich, er muß mitkommen?«
Aber gleich siegreich enden nicht alle Gefechte. Er 202 erzählt, er steht an der Ecke. »Was haben Sie hier zu suchen?« fährt ihn ein Schutzmann an.
»Zu suchen? Gar nichts«, sagte er bescheiden.
»Also scheren Sie sich gefälligst weg!«
Er macht sich dazu bereit, und der Schutzmann wird milder: »Also Sie sehen ein, es geht nicht?«
Einsehen, nein, er sieht gar nichts ein, er sieht da nur ein Seitengewehr, das überzeugt ihn.
»Sehr anständiger Mann«, sagt Frau Warszawski, »er hat Sie zu dir gesagt. Er hätte du sagen und du hättest auch nichts machen können.«
»Der war auch ganz anständig, aber gestern ist mir was passiert, ich ärgere mich noch heut darüber. Es spricht mich jemand an, was soll ich Ihnen sagen, wer, also ein ganz übler Bursche. Willst du englisches Tuch haben? fragt er. Nein, ich will nicht englisches Tuch haben. Warum willst du's nicht haben? Warum soll ich wollen? Warum du wollen sollst? Weil du es halb geschenkt bekommst. Halb geschenkt, sag ich, ich kann mir denken, warum. Gar nichts kannst du dir denken, sagt er, ich garantier dir. Woher denn halb geschenkt? frag ich, und was sagt er: Kaufen willst du nicht das Tuch, wissen willst du, woher ich es hab, willst du noch was?«
»Ärger dich nischt«, begütigt ihn Julchen, die die Erzählung mit angehört hat, »du weißt doch, die Menschen sind nischt mehr wert als –« sie sucht – »du kennst doch ein Waschfaß, wie die alte Seife da in der Ritze.«
»Komm nischt«, sagt Julchen, als Riwka ihren Keller betritt, »du glaubst, wer weiß, was du mir antust, wenn du kommst – komm nischt! Morgen wird hier stehen: J. Hurwitz!«
Ja, soll sie ›J.‹ schreiben oder ›J.&R.‹? Das hängt davon ab, ob Riwka dauernd bei Jurkim bleiben wird. Sie glauben beide nur an einen flüchtigen Aufenthalt, denn wie rasch kann es Frau Jurkim besser gehen. Aber Riwka schwankt. Einer ihrer Vettern, noch nicht lange verwitwet, hat ihr aus Czenstochau geschrieben und sie ohne 203 Umschweife gefragt, ob sie seine Frau werden will. Er hat sie vor fünfzehn Jahren das letzte Mal gesehen und sich damals vergeblich um sie bemüht, sie war gebunden. Er übersteigert sein Angebot: wenn sie es wünscht, will er den Laden von Czenstochau in die Gasse legen. Es schmeichelt ihr begreiflicherweise, sich so geliebt zu sehen über Zeit und Raum hinaus. Sie überschätzt auch Torwege und Keller nicht, und selbst die Rückkehr nach Czenstochau wäre kein Hindernis für sie, Frau Lipmann Süß zu werden – aber sollte sie es werden? Herr Süß hat keine Ahnung, was aus ihrer einstmals so guten Erscheinung geworden ist. Und jetzt noch einmal mit einem Mann beginnen?
»Hast du nischt gehört, was ich gesagt hab: komm nischt!« erklärt Julchen. »Geh, werd seine Frau, aber kommst du wieder, weil er dir nischt mehr gefällt oder du nischt mehr ihm oder weil er nischt mehr hat eines Tages, dann laß ich dich nischt herein. Von mir aus fahr du auf die Höfe mit einem Kinderwagen und schrei: Einkauf von Lumpen, Papier, Wein- und Bierflaschen!«
Sie wollte sie hier behalten. Mit ihr zusammen wäre der Keller das doppelte Glück, und nicht bloß er – wie gut, in freien Stunden, zwei Stühle nebeneinander gestellt, vor dem Keller zu sitzen, das Auge nicht scharf auf die Ware gerichtet wie einst, sondern frei. Wie schön, gemeinsam das Meer der Menschen zu betrachten und in das Gewoge die Stimme zu mischen!
Julchen sitzt ohne Riwka auf einem schmalen, durchgesessenen Stuhl neben dem Eingang zu ihrem Keller, als die Sonne für eine Stunde die Nässe der Straße aufgetrocknet hat. Ein aufgerissenes Kissen erleichtert ihr das Sitzen. Sie muß das Kreuz reiben, Jahre in Torfahrten zählen doppelt und lassen Verschiedenes zurück. Von ihren drei Töchtern sind die beiden kleineren bei ihr.
»Das ist doch Tauber«, ruft sie süß, als er, seinen Laden umgegürtet, auftaucht.
»Wenn man Sie so hört«, sagt Tauber, »meint man, keinen haben Sie so gern um sich wie mich.« 204
»Gleich um sich? Nein, muß das sein? Aber etwas entfernt, Tauber, hab ich Sie richtig lieb!«
»Was haben Sie mich?«
»Lieb nicht, aber geradezu gern. Kommen Sie, erzählen Sie mir was, oder wissen Sie gar nichts mehr? Sind Sie beim Sitzen die ganze Weisheit an mich los geworden?«
»Mir will sogar wirklich nischt einfallen«, sagt Tauber, während er Julchens kleinster Tochter, die ihr vom Schoße strebt, die Backen streichelt.
»Nischt, nischt!« jammert das Kind, dem von Julchen die Nase gereinigt wird.
Ihr die Nase zu reinigen, ist sonst das Amt der zweitjüngsten Tochter, die jetzt am Boden kullert und der Mutter zujubelt, als diese die Reinigungsarbeit mit erzieherischem Unterricht begleitet: »Nischt! sagst du, mein Kind? Wie hat hier ein kleines Mädchen zu sein? Adrett, sauber, geleckt! Wenn dir noch mal die Nase läuft und du läßt sie dir nicht abwischen, pack ich dich ein und schick dich zurück nach Parizi, da wohnst du dann in einem finsteren Loch.«
»Mit Mäusen«, fügt die Mutterstellvertreterin hinzu, »und mit einem bissigen Hund.«
»Den bissigen Hund kannst du fortlassen« befiehlt die Mutter, »wollen wir lieber einen fetten Kater dazusperren. Was hast du da?«
Sie unterbricht sich. Mit baumelnden schwarzen Zöpfen erscheint ihre älteste Tochter, die, vierzehnjährig, jetzt den Haushalt leitet.
»Du wirst lachen, was ich hab, ich hab Reis gekauft.«
»Schon wieder alle?«
»Nun, die fressen ja!« Sie zeigt auf die Geschwister.
»Meine Kinder fressen nicht«, weist Julchen sie zurecht.
»Weitergehen, meine Herrschaften, weitergehen!« mahnt sie drei Männer, die stehengeblieben sind und ihr die Aussicht versperren. Der eine schwört, den zweiten zu verklagen, und der dritte beschwichtigt: »Meine Herren, ich sag euch, keine Akten lesen, keine Statuten mischen, 205 Friede! Stellen nischt wir Juden Freitags die Speisen in den Ofen und essen Sonnabends, was herauskommt, und was kommt heraus? Was Gutes mal und mal was Schlechtes. Genauso bei Prozessen! Ich bin bei ganz großen Verhandlungen gewesen, über zehntausend Joch Land. Da ist ein Anwalt aufgestanden und hat gesprochen, die Leut haben in die Hände geklatscht und haben gesagt: Oi, wie gut hat er gesprochen! Und dann ist der andere Anwalt aufgestanden und hat auch gesprochen, und wieder haben die Leut in die Hände geklatscht und haben gesagt: Oi, wie gut hat er gesprochen! Weiß man, was für ein Richter sitzt! Mein seliger Vater, der in Galizien ein großer Petroleumhändler gewesen und dann nach Polen zog und dort noch ein viel größerer Holzhändler geworden ist, hat viele Verhandlungen mitgemacht, und immer ist seine Rede gewesen: besser Friede, als zu Tode gesiegt! Wenn zwei Leute sich nischt vertragen, dann ist Eisch, was heißt das? Feuer. Ich sag euch, liebe Herren, Friede!«
Kaum sind die drei weitergegangen, so versperren andere, versperrt eine ganze Gruppe Männer Julchen die Aussicht. Sie streichen die Bärte und streiten über eine Stelle in dem Talmudabschnitt ›Von den Schäden‹, aus dem Jurkim am Morgen vorgetragen hat. Die Stelle handelt von der Tochter eines großen Gelehrten, der den Namen Rabbi trug, als sei er der einzige Rabbi überhaupt. Dieser war eines Tages an den Ort gezogen, wo vordem Rabbi Tarfon lebte, der, nach der Überlieferung, nicht selten ausgerufen hatte: »Meine Söhne sollen nicht am Leben bleiben, wenn ich nicht im Recht bin!« Rabbi wollte nun erfahren, ob Rabbi Tarfon Söhne hinterlassen, also Recht behalten hatte. Es zeigte sich, daß keine Söhne zurückgeblieben waren, nur der Sohn einer Tochter, und dieser schöne, aber leichtsinnige Enkel lebte von einer Dirne, die für ihre Hingabe den Männern zwei Geldstücke abnahm und immer, wenn sie acht beisammen hatte, sie ihrem Freunde brachte. Rabbi forderte von diesem Enkel Rabbi Tarfons, daß er sich bessere, und versprach 206 ihm seine leibliche Tochter in diesem Fall. Der junge Mann besserte sich auch, und nun kam die Frage: wurde die Tochter seine Frau? Es gab drei Lesarten. Die eine: er heiratete sie und ließ sich später wieder scheiden. Die zweite: er heiratete sie nicht, es habe nicht nachher heißen sollen, er hätte bloß um ihretwillen seinen alten Wandel aufgegeben. Die dritte – nein, es gab überhaupt nicht drei, sagte ein alter Mann.
»Richtig und nicht richtig«, meinte ein anderer, »geschrieben stehen im Traktat ›Schäden‹ zwei, doch die dritte Lesart versteht sich von selbst.«
»Was versteht sich von selbst?«
»Daß er sie geheiratet hat und ist zusammengeblieben mit ihr.«
»Und das ist so schlimm, daß der Talmud es verschweigen muß?«
»Schlimm nicht, aber er spricht bloß nicht davon . . .«
Das befriedigte wenig und wurde abgelehnt: »Wenn er es verschweigt, muß er doch einen Grund haben, es zu verschweigen?!«
»Vielleicht«, sagte ein Überlegener, »haben die Rabbonen die Lesart nicht geben wollen, sonst hätte man gedacht, da seht ihr, so schwer hat es ein Rabbiner, seine Töchter zu verheiraten! Die Ehe hat zwar Bestand gehabt, aber was hat der große Rabbi anstellen müssen, damit es zu ihr kam!«
»Nun, schön«, sprach ein anderer, »aber warum gibt der Talmud für die zweite Lesart, daß er sie nicht geheiratet hat, eine Begründung, und für die erste, daß er sich hat scheiden lassen, keine?«
»Weil das ein jeder versteht!«
»Wieso versteht das ein jeder?«
»Weil ein Mann, der was zu tun gehabt mit einem lasterhaften Mädchen, nicht nachher leben kann mit ein' anständigen!«
»Ah so!«, machten andere. Schließlich sagte derselbe, der vorhin von den Anstrengungen der Rabbiner 207 zugunsten ihrer Töchter gesprochen hatte: »Hat nicht einer hier gesagt, es gibt eine dritte Lesart, die Ehe kann Bestand gehabt haben? Wie kann sie? Wenn sie Bestand gehabt hätte, könnt doch die Stelle nicht stehen im Abschnitt: ›Von den Schäden‹!« Man lachte.
»Was ist da zu lachen?« lärmte Julchen. Die Männer, schon ein wenig weitergegangen, waren jetzt nebenan stehengeblieben. »Männer lachen immer, als ob es so lustig sei, das Leben; wir Frauen müssen stehen und aushalten.«
»Jede hat ihren Teil, die eine mehr, die andere weniger«, stimmte eine verhärmte Mutter bei, »das sein Zeiten, ich zittere, wenn die Tür geht.«
»Woraus besteht das Leben überhaupt?« fragte Seraphim, der hinzugetreten war, »aus zweiem: aus Unglück, das sie betrifft, und aus Unglück, das sie fürchten und das vorübergeht.«
»Sie sagen ja plötzlich so gute Sachen«, meinte Julchen verwundert, »das hätte können beinah Tauber sagen!«
Die Juden erregte ein Ereignis, das sich einige Tage später zutrug – äußerlich nur das Hinscheiden eines alten Mannes, aber unter Umständen so ungewöhnlich, daß die Folgen nicht abzuschätzen waren. Die Zukunft erschien plötzlich dunkel, und die Vorstellungen vieler drückte ein Mann aus, der immer vor sich hinmurmelte: Vom Morgen bis zum Abend kann die Welt zerstört werden.
Am Tage zuvor hatte Fischmann sich erkundigt, weshalb London immer zu ihm sage: ich versteh nischt – ertaubte London oder war er selber nicht mehr zu verstehen? Frajim beteuerte, ihm entgehe keine Silbe Fischmanns, und es wurde Fischmann leichter ums Herz. Aber so leicht wie früher nicht. Ohne zunehmende Beschwerden hätte er nie den zugereisten Bettler David Grundmann niedergeschrien, er, der Mann mit dem Benehmen eines rabbinischen Gelehrten, ein Anhänger der strengen 208 Form, ein überlegener, umsichtiger Greis, den nichts zu einer Unbeherrschtheit hinriß, und in dessen Augen Gereiztheit nie zu Selbstvergessenheit führen durfte. Der Ausbruch hatte etwas anderes bedeutet und hätte den Kundigen Sorgen machen dürfen, aber niemand war hier kundig.
Er sprach nicht von seinen Beschwerden, oder doch nur auf Bittgängen, und da gewohnheitsmäßig von solchen, die vielleicht nicht seine eigentlichen waren. Eine Rücksicht wünschte er allerdings, die Einquartierung mußte aus der Kammer, sie lärmte in der Nacht, er schlief nicht. Joel meinte: »Wieviel sind zugekommen in der Kammer? Vier. Wieviel sind Sie? Einer. Ist es nicht bequemer, man legt einen um als vier? Für wieviel Nächte wird es sein? Für zwei, lassen Sie es einige mehr werden! Nach einigen Nächten sind die vier nicht mehr da, und wir legen Sie zurück.«
So ruhte Fischmann die nächste Nacht in einer anderen, gerade freigewordenen Kammer, der winzigsten im ganzen Haus. Er stieg drei Treppen hoch, zwei mehr als sonst, aber er lag allein, er erinnerte sich nicht, daß das je der Fall gewesen.
Man liest gelegentlich, Sterbende durcheilten vor ihrem Tode ihr Leben ein letztes Mal im Geist. Fischmann tat es nicht. Er dachte nicht an seine vor ihm hingegangene Frau, nicht an seine schon recht bei Jahren angelangten Töchter; nicht an die lange Zeit in Rosienny, nicht an die glänzende in Kowno, nicht, wie er von diesem Gipfel hinabfiel und in kaum verhüllte Verkommenheit sank. Er dachte nur an zwei, in seinen Gedanken sonst unterdrückte Jahre, zwischen dem Beruf als Schneider und dem als Bettler, verbracht als Hausierer in Dörfern und auf Chausseen. Der Anblick dieser Landstraßen machte schwermütig, die Häuser, kaum mehr als Lehmhaufen, fielen beinahe auseinander, mitten aus den Stuben sank man in Kot. Ach, wie war man bescheiden damals! Tropfte jemand eine Messerspitze Gänseschmalz aufs 209 Brot, so schmeckte dieses Brot wie mit fetter Gänsebrust belegt, und ein Salzkörnchen im Mund war süß wie goldener Melassezucker. Eine getrocknete Rosine, gestiebitzt von der Schwelle eines Dorfladens, mundete wie aufgewärmte Nudelspeise – das höchste Entzücken, das er kannte. Aber gleich danach machte man lange Beine, schon das Gefühl von Hieben auf dem Rücken. Der glanzlederne Packen hing am Riemen, der Knotenstock stach in glühenden Sand, eilends tappte man voran. Würde endlich die Bäuerin das Kleid zerrissen haben? Die Weiber hatten jetzt alle eine glatte Haut, nichts riß. Man sollte Disteln von den Wegen raufen und ihnen die Körper damit spicken, da wären die Kleider rascher hin. Wer stiefelte vor ihm über die Landstraße, so schnell, daß ihm bestimmt der Schweiß in Strömen rann? Der Vorsprung war zu groß, sein Herz hämmerte zu rasch – er nahm den Wettlauf nicht auf. Aber ein zweiter saß ihm auf den Fersen, der sollte nicht schneller sein als er. Setz doch die Füße geradeaus, nicht einwärts, wollte er zurückrufen, aber es strengte zu sehr an, beim Laufen auch noch zu schreien. Geradeaus oder besser leicht nach außen! Nach innen, das war nicht schön, zu stark nach außen auch nicht, das sollte man den Soldaten überlassen und von den Frauen jenen, denen Gott, sein Name sei gepriesen, die Beine etwas fett und stark in den Leib geschraubt hatte . . .
Als der Mensch vor ihm sich bei einem Feldstein niedersetzte, holte ihn Fischmann ein. Freilich schlug ihm das Herz von der Anstrengung. Der Ausruhende streckte die Sohlen seiner Schaftstiefel nach vorn, und Fischmann betrachtete sie sachkundig, trug er doch selbst noch heute solche Stiefel, obwohl sie der Asphalt der Großstadt nicht verlangte. Sie waren für den Lehm der polnischen Landstraßen und für die Kopfsteine litauischer Kleinstädte geschustert. Die Hacken schief, die Sohlen durchlöchert, – gut schien es auch Jecheskel Holz nicht zu gehen, Jecheskel seufzte, Fischmann stöhnte, sie hatten voreinander nichts voraus. Sicher waren in wenigen Wochen vierzig 210 Händler der Bäuerin, zu der sie wollten, um den hellen Flaum des Gesichts gestrichen. Hielt sie das Versprechen, das beide von ihr hatten? Wenn ihr keiner etwas Besseres über ihr Kind gesagt hatte! Zehnmal mehr, als er es vor Gott verantwortete, denn es war ein gewöhnliches kleines Mädchen, ein Strohkopf, eine Stupsnase, nur die himmelblauen Augen waren reizend.
Fischmann drehte sich im Bett von einer auf die andere Seite. Trotz des Galopps da innen, trotz der Beklemmungen, trotz der Jagd nach Luft fühlte er: oi, wie gut habe ich's doch heute im Vergleich dazu! Aber das hinderte ihn nicht, schon in der nächsten Stunde inne zu werden, wie schlecht es in Wirklichkeit um ihn stand. Er hatte keine Zeit, die Sünden seines Lebens abzubitten, keine Zeit, sich die verschlungenen Parks und Wege im Paradiese vorzustellen, oder die Menschen, denen er dort begegnen werde; keine, zur Linderung seiner Schmerzen an die Eichenbäume und Platanen zu denken, keine, an die Zitronenbüsche und Orangen, unter deren schwellender Üppigkeit er wandeln würde, in Gesprächen über Fragen aus dem Talmud, überrascht von eigenartigen Erklärungen aus dem Munde großer und erleuchteter Rabbinen; vor Atemnot keine Zeit, sich auf Kolibris und Papageien zu freuen, die durch die Zweige hüpften, oder auf die hübschen Äffchen, die, Eicheln und Bucheckern knackend, von Baum zu Baum sprangen und schrien, anders als ihre kleinen buntangezogenen Brüder, die er bei Jahrmärkten hatte auf Leierkästen vor Schaubuden spazieren sehen, eine eigens für sie gearbeitete Mütze in der Vorderpfote, in die sie Kupfermünzen sammelten. Es blieb lediglich Zeit, langsam, Finger um Finger, seine schöne, weiße Hand, aus der die Adern stark hervortraten, ruckweise an das Herz zu ziehen. Als sie endlich oben lag, hielt es an – diesen letzten Schutz hatte es einzig noch verlangt; nun war ihm wohl.
Seines Todes wurde man sehr bald inne, man zählte die fünfte Stunde, es war noch Zwielicht. Im vierten Stock, 211 über Fischmanns Kammer, krachte und dröhnte es um diese Stunde. Mitten in der Nacht hatte einen Mann die Sorge um seine Ware gepackt. Er hob eine große Kiste an; zu schwer, stürzte sie aus seinen Händen. Der Boden barst nicht, wie die Schläfer meinten, die aus den Betten sprangen und schon in die Grube zu fahren glaubten gleich der Rotte Korah, aber die als dünn bekannte Decke, die schon zitterte, ging einer nur mit festen Schritten über ihr hin und her, gab ein wenig nach, und der Putz schlug zu Abraham Fischmann in die Kammer; er fiel nicht auf, er fiel neben ihn und spritzte und pulverte in sein Gesicht.
Die aufgestörten Schläfer weckten den Diener Esra Lachs. Lachs lief zum Wirt, zu Joel; Joel nahm zwei alte angesehene Männer und stieg mit ihnen in den dritten Stock. Als er die Kammer aufgeschlossen und sie zu dritt Fischmanns ansichtig wurden, zog er die Tür eilends hinter sich zu. »Geh!« befahl er dem Diener Esra Lachs, der gefolgt war, »und wenn du kannst, halt deinen Mund!«
Erschrocken betrachteten sie den Freund und lasen Geröll und Splitter von ihm ab – kein Leben im Gesicht, nur das Weiß des Staubes und das Gelb des Todes. Kann niederwehender Staub einen Mann erschlagen? Wohl nicht, aber das niederkrachende Gewitter konnte das Herz gerührt haben.
Zu dritt trugen sie den Toten in eine freigemachte Kammer und stellten ein Licht zu seinen Häupten. Dann schloß Joel diese Kammer und die Sterbekammer ab, auch die Kammer darüber. Zugleich erging ein Schweigegebot an die drei Schläfer aus dem vierten Stock, an die beiden Greise, die ihn begleitet, und nochmals an den Hausdiener Esra Lachs. Den Totenschein stellte ein Arzt aus, den Joel mit Absicht aus einer entfernten Straße gerufen hatte, die Verunreinigungen waren fortgewischt worden. Später legte man dem Toten weiße Leinenkleider an und setzte ihm die silberbetreßte seidene Mütze auf. Nun war er so gekleidet, wie im Bethaus an hohen Feiertagen und so 212 wie einst in Kowno an den Osterabenden, wenn er am Eßtisch seiner Familie die frommen Legenden von dem Auszug der Kinder Israels aus Ägypten vortrug; den gelblichen Gebetmantel mit den schwarzen Streifen, aber ohne die hellen Schaufäden, hatte man ihm ebenfalls umgetan, er lag feierlich um seine Schultern.
Am übernächsten Nachmittag wurde er aus dem Haus getragen, die Füße voran. Den Kasten aus ungehobelten Brettern hoben Männer der heiligen Bruderschaft empor. Er war aus Tannenholz und ohne Schmuck, jeder Aufwand im Tode verstieß gegen die Gesetze der Natur, aber auch wider die Ordnung der Rabbinen. Am frühen Morgen waren zwei Frauen in der Gasse eingetroffen, die eine verblüht, die andere im Gesicht den adeligen Stolz, den Ungebeugtheit durch jahrhundertelange Verfolgung verleiht. Es waren Fischmanns Töchter, die nun mit hunderten von Freunden der Leiche ihres Vaters zum Grabe folgten. Er wurde auf den Friedhof der Frömmsten gebracht und unter Zeremonien nach dem strengsten Ritus beigesetzt.
Sieben Tage später reisten beide Töchter zurück, Gott mochte wissen, dank welcher Mittel. Vorher hatten sie in der Gasse auf Schemeln, mit handbreit eingerissenen Kleidern, die Trauerwoche abgesessen und den Zuspruch von einem halben Tausend Menschen erfahren. Aber mehr, Gastfreundschaft und Liebe, hatten zwei gegeben, Frau Spanier und Frau Warszawski. Beide erzählten ihnen viel von der herrlichen Erscheinung ihres Vaters, und Frau Warszawski führte Frajim vor, seinen ständigen Begleiter auf den Bittgängen. Er war nun jäh verwaist und erfuhr das Anfangsstück der Wahrheit, die wir alle nur zu rasch erfahren: erst sterben unsere Großväter, dann unsere Väter, dann wir selbst. Manchmal ist die Bitterkeit noch größer: wenn die Reihenfolge nicht eingehalten wird. Frajim, wie alle vom Tod zum ersten Mal Berührten, erschauerte, untröstlich.
Aber nicht nur er, die ganze Gasse war um einen Mann 213 ärmer und trauerte um ihn. Er war nur einer von Dreitausend, aber der schlechteste nicht. Was blieb, war ein erhabenes Gedächtnis, zugleich ein ungeheueres Gerücht. In der Gasse wußten sieben Männer um den Sachverhalt, drei Kammern waren in einem bis unter das Dach besetzten Haus gesperrt, das Geheimnis ließ sich nicht bewahren. Vergeblich verlangte Joel nichts für das Essen von den gestörten Schläfern, vergeblich lieh er einem von ihnen Geld.
»Wissen Sie, was man sagt?«
»Was sagt man?«
»Man sagt . . .«, hieß es auf der Gasse, und die Köpfe fuhren zusammen.
»Wenn es bloß das wär . . . .«
»Ist es noch mehr?«
»Darf man hören?« drängte jemand hinzu.
»Warum nicht, warum soll ein Mann wie Sie nicht hören dürfen?«, und verschwenderisch berichtete man.
Aber dem Hinzugekommenen genügte auch die breiteste Erzählung nicht. »Das soll alles sein? Wollen Sie wissen, was ich Ihnen sagen werde? Fischmann ist erschlagen worden. Es werden noch mehr erschlagen werden!«
Ängstlich blickten sich die Leute um: »Pscht, nicht so laut!«
»Das Haus«, fuhr der Mann fort, »wird man abschließen, fertig!«
»Und die Juden werden sich vor dem Gekreuzigten auf die Erde werfen müssen«, sagte ein anderer gelassen, »damit die, die noch keine krummen Nasen haben, sie sich krummschlagen.«
»Sie können sich ruhig über mich lustig machen«, erwiderte der Verkünder des Unheils, »was schadet's? Mir wär wohler, Sie behielten recht.«
Aber man teilte seine Meinung. Die Gasse wurde heimgesucht, das sah man, Plagen befielen, Schrecken schlugen sie. Erst war der Arzt gestorben, die Leute hatten die 214 Verbände abgerissen, dann waren Torfahrten gestürmt worden, jetzt ereilte es das Haus. Fielen wirklich seine Grundmauern ein, so kamen zweihundert Juden um ihr Obdach. Schon vor Monaten hatte ein Schutzmann Schwamm in dem Hause festgestellt, jetzt war es da, das Unglück. Es war hier nicht mehr geheuer, alle diese Geschehnisse waren Zeichen: etwas ist im Anzug, Juden, seid auf der Hut, gürtet eure Lenden, eure Wanderschaft hebt an! Man schlief schlecht, man stand herum und verzehrte sich in Grauen vor etwas, das unabwendbar war und näher kam.
Julchen, eigentlich grundlos übler Laune vor ihrem Keller, weckte Frajim aus seinem Trübsinn. »So nimm! Wer ist immer mitgegangen? Du! Die Töchter haben doch gewollt, man soll verteilen! Was heißt, es paßt nicht? Der Rock schleift auf dem Boden? Laß ihn schleifen! Du ertrinkst im Hut? Ertrink! Du wirst nachwachsen. Bist du groß, was wirst du sein? Man sieht doch schon, was leider aus dir werden wird: ein zweiter Bettler. Hier hast du fünf Pfennig, später kriegst du wieder.« Sehr rasch folgte ein Nachsatz, um die Worte abzuschwächen. »Und wenn es mit dir halb so schlimm kommt, oder ein Viertel, aber es wird schon nicht – auch dann halt dir den Rock, halt dir den Hut!«
Sie stieß ihm das Herz ab mit den ersten Sätzen. Frajim lernte viel, meist allein, unter Anleitung von Seraphim, Sprachen und Geschichte, die Seraphim selber trieb; aber er rannte zugleich wie unsinnig hinter jeder Möglichkeit zu verdienen her. Er hatte Teller in der Nachbarschaft gewaschen, einige Stunden des Tages einen Lehrling ersetzt, das eine bei einem rituellen Speisewirt, das andere bei einem der wenigen frommen Rechtsanwälte dieser Stadt, aber das Glück war hingegangen, das eine wie das andere, nach wenigen Tagen oder Wochen, und seitdem er keinen Bettler mehr in die Stadt geleitete, war er nur noch für Israel Wahrhaftig tätig, ging er einzig noch in die Keller dieser und einer Nachbargasse, stieß er die 215 Luken auf und ließ frische Luft herein. Wahrhaftig stand am Fenster seiner Wohnung und lauerte – wird Frajim den Schlüssel wiederbringen oder kreidebleich gelaufen kommen: alles ist über Nacht beschlagnahmt? Frajim wußte nicht, was Wahrhaftig fürchtete, aber daß er sich fürchtete, sah er.
Wie meist im Sommer, wurde in den Straßen der Asphalt aufgerissen. Arbeitslose marschierten, abgedrängt, statt durch die Hauptstraßen durch die Gasse. Sie gaben Frajim eine Ahnung von seinem bevorstehenden Niedergang. Würde er nach Piaseczno zurück müssen? Oder wurde das Unheil dadurch abgewendet, daß ihm Herr Weichselbaum gelegentlich einen Botengang übertrug, ja, daß seine Frau ihn offenbar zu sich heranzog? Ein leicht verzagter junger Mensch, noch fast ein Knabe, der dadurch tröstete, daß er sich trösten ließ, kam ihr manchmal recht für ein Gespräch – Frau Spanier, so lange ihr einziger Umgang, hatte, so lieb sie war, doch einen Nachteil: eine Frau, die liebte, war bei allem guten Willen keine Trösterin für eine Frau in Trauer.
Frajim erzählte ihr von hier, aber auch von zu Hause. In Piaseczno war ein Mädchen gewesen, das einen Christen, und wenn die Himmel darüber einstürzten, zum Manne haben wollte. Die Eltern widersetzten sich, da verschluckte sie zwei Stecknadeln und erstickte. Frajims Großvater war Wasserträger, bis er sich eines Tages überhob. Nun verdang er sich einem Bauern, der ihn mochte und ihm leichte Arbeit gab, aber der alte Mann mußte von dem Essen das meiste stehenlassen, denn der Bauer konnte und konnte nicht begreifen, was der Großvater notfalls nahm, was nicht. Warum der Großvater nicht zurückkam in das Städtchen? Die Frau hatte er verloren, und unter Fremden, sagte er, ist man lustig, mit der Familie zankt man sich.
Frajim mischte die Farben richtig, ein gelehriger Schüler seines heimgegangenen Herrn. Aber seine Seele gehörte mehr denn je zu Seraphim. Seltener als früher war 216 Seraphim im Kreise seiner Anhänger zu sehen. Er las mit einem evangelischen Studenten der Theologie das alte Testament in der Ursprache, half einem Arabisten aramäische Texte durchsehen; eine Art von öffentlichem Schreiber, entwarf er Briefe. Nicht entwarf er einen, den Frau Spanier an ihre Brüder schrieb, um für seine Fahrt nach Palästina die Mittel zu beschaffen – er wußte nicht einmal von diesem Brief. Sie habe an einer Geschwulst zu leiden, schrieb sie. Aber die Brüder beriefen sich auf einen Ausspruch ihrer Eltern: nicht schneiden, erst einen zweiten Arzt befragen! und schickten keinen Pfennig, ja, sie schwiegen überhaupt, als Frau Spanier ihnen nach einer Weile mitteilte, auch der zweite Arzt riete zu einem Eingriff. Offenbar entsprach es ihrer Meinung, Geschwülste länger zu beobachten . . .
Jurkim hatte an Fischmanns Bahre gesprochen, Seraphim kam auf diese Rede zurück. »Wie heißt es im Traktat ›Sabbat‹?« rief er seinen Schülern zu. »Rührt eine Leichenrede zu Tränen, so zählt Gott die Tränen und hebt sie auf gleich Kostbarkeiten in seinem Schatzhaus.«
»Wie hab ich das zu verstehen«, fragte ein verschlagener Jünger, »darf man, um die Hinterbliebenen zu rühren, in einer Leichenrede Gutes sagen auch von dem ärgsten Frevler, auch von jemand, der sich vor seinem Tode auf die Gasse gestellt und ausgerufen hat: Gott ist, was es nicht gibt.«
»Wieso kommst du auf den Unsinn, Libsowski?«
»Gut«, sagte Libsowski, »ich versteh, ich versteh genau, keiner darf in einer Rede einen besser machen als er ist – aber wie darf man dann von einem Mann sagen, sein Leben war vollendet, wenn es gerade nicht vollendet war, wenn der Mann hingerafft worden ist vor der Zeit, durch ein Unglück, sagen wir: ein Bach schwillt an oder ein Haus stürzt ein?«
Jurkim hatte diese Worte von der Vollendung gebraucht, um ein Gerücht zu widerlegen; sie waren viel 217 beachtet worden. Gegen ihn waren also die Anwürfe gerichtet, und sie erfüllten den Kreis mit Unruhe. Seraphim forderte, daß Libsowski sie verließe. »So, jetzt ist kein Litauer mehr da«, sagte er, den traditionellen Gegensatz zwischen polnischen und litauischen Juden benutzend. Als die Aufregung zunahm, fuhr er gegen seine Gewohnheit mit Schärfe fort: »Ich werde jetzt eine Geschichte erzählen von einem Litauer, die nicht sehr schmeichelhaft ist. Ein Litauer ging einstmals vor die Stadt und sah da plötzlich einen Baum voll Äpfel, ein Apfel schöner als der andere. Es verlangte ihn, einen Apfel abzubrechen, und er gelobte: hol ich ihn unbemerkt herunter, so kriegt von mir ein armer Mann was in die Hand. Er kletterte hinauf, pflückte den schönsten Apfel, drehte ihn zwischen den Händen und fand, so schön, wie er ihn sich vorgestellt hatte, war er nicht, und das mit der Gabe ließ er besser. Auf einmal knackte es, der Zweig brach ab, und der Litauer saß unten auf der Erde. Kaum hatte er seine Glieder wieder beisammen, sprach er erschrocken: ich hab doch nur gespaßt und Gott wirft schon.«
»Hat Gott wirklich geworfen?« fragte ein Anhänger.
»Da mußt du Ihn fragen.« Seraphim wies nach oben.
Die Gasse auf und ab wandelnd, trafen sie Libsowski, der in der Nähe unschlüssig stehengeblieben war. »So, jetzt hab ich eine Geschichte erzählt von einem Litauer, nun darfst du wieder zuhören! Wovon wollen wir reden?«
»Von der Zerstreuung der Juden über die Erde«, schlug jemand vor.
»Gut . . . Also gibt es Juden in Indien? Sicher wird es Libsowski wissen, oder vielleicht Frajim?«
»Es gibt.«
»Und gibt es Juden in Abessinien? Libsowski? Frajim?«
»Die Falaschas.«
»Wo liegt die Loangoküste? Libsowski? Wieder nicht? Also wieder Frajim! Auch nicht? Also schön, in Afrika, dort und dort, und Juden gibt es auch da. Aber einmal 218 ein ganz anderes Land! Wo liegt Montreal? Libsowski frag ich nicht mehr.«
Frajim: »In Kanada.«
»Und wieviel Juden gibt es in Montreal? Eine Antwort kann man darauf nicht gut verlangen, also 6 Komma 9 Prozent. Und in Saloniki? 22 Komma 8.« Er erzählte, es gäbe auch Juden auf Madagaskar und in China.
Die Augen seiner Anhänger leuchteten. Aber Libsowski sollte noch etwas ausgesprochen Schönes hören, sonst kam er vielleicht überhaupt nicht wieder. »Ich komm.« Also dann erst recht, und wenn er wieder einen schlechten Gedanken hatte, sollte er ihn unterdrücken und lieber an so etwas Schönes denken, wie er es jetzt erzählen werde. Gott, sein Name sei gepriesen, hatte einmal Durst, da bat er einen Schäfer, ihm Wasser zu holen, der Schäfer ging, und bis zu seiner Rückkehr, hieß es, sammelten sich die Schafe im Schatten der Mütze Gottes. »Nun wirst du wieder fragen«, wandte sich Seraphim an seinen unschuldigsten Zuhörer, »hat Gott denn Durst und hat Gott denn eine Mütze? Aber dieses Mal sage ich nicht: frag Ihn! Diesmal sag ich: frag dich selbst!«
Im Auf- und Abwandeln waren sie in Julchens Nähe gekommen, die, als sie ›Mütze‹ hörte, sofort rief: »Mützen? Vorläufig kann ich nicht Mützen liefern, aber was meinen Sie, was wird sonst passen?«
»Wenn die Frau Hurwitz keine Mütze hat«, sagte die alte Tante Feiga Turkeltaub, »soll sie etwas anderes geben, ein Taschentuch, und hat sie auch kein Taschentuch nischt da, soll er sich die Hand auf den Kopf legen!«
Seraphim gerann das Blut: »Gott im Himmel«, sprach er andächtig, »daß wir uns nicht versündigen an Deinem heiligen Namen!« 219