Martin Beradt
Die Straße der kleinen Ewigkeit
Martin Beradt

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ende der Fasten, Israel hat eine Unterredung mit Geppert. Rabbi Jurkim kann eine arme Familie retten

Ein einziger Mann hatte nicht gefastet, wenn auch natürlich so gut wie nichts berührt. Aber der Arzt hätte sich besser ein Verbot erspart. Hatte es einen Sinn zu hoffen? Er fand: nein, denn er sah nicht mehr als seine Nasenspitze.

Lange ertrug er diese Tatenlosigkeit nicht mehr, nächstens fuhr er auf seine Güter. Er horchte: draußen hatte ein Hund eine Katze gepackt, die Katze kreischte. Der vertraute Laut erschreckte ihn so, daß er dachte, das bin ich nicht, und sich mit schwachen Knien setzte, ein anderer, als er in die Gasse eingefahren war.

Seine Frau machte ein Martyrium durch – er quälte sie, wenn er stumm war, und quälte sie, wenn er sprach. Denn seine Gedanken und seine Reden betrafen immer nur das eine: wird es besser? wird es schlechter? Sollte sie schlechter sagen? Er wäre zusammengebrochen. Weckte sie aber eine Hoffnung, so schrie er: »Gelogen! Du lügst faustdick!« oder verlangte, daß sie schwor.

»Ich schwör!«

»Bei dem Leben deiner Kinder!«

»Bei dem Leben meiner Kinder schwör ich nicht.«

»Also schlechter, oder du schwörst bei allen zehn!« Ihr stürzten die Tränen herunter. Er wußte nicht, daß nicht ein Grund, daß zwei ihr den Schwur verboten.

Frau Weichselbaums Schwierigkeiten waren zu Tauber gedrungen. Tauber ging zu Weichselbaum, weil seine Wohnung feucht war, und er sich bei ihm nach einer anderen Kammer erkundigen wollte, nach einer anderen Küche. Aber er traf ihn allein, und sofort verlor er den Zweck seines Besuchs über einer erzieherischen Aufgabe aus den Augen. »Darf man eintreten?« fragte er. 231

»Was brauchen Sie zu fragen?«

»Ich komme, weil man sagt, Sie handeln um ein Haus.«

»Ich, handeln? Ich weiß nichts von handeln.«

»Ich dacht mir's gleich, die Gasse lügt bloß zweimal im Jahr, Sommer und Winter.«

»Ich hab doch ein Haus, hab ich nötig, noch ein zweites zu kaufen?«

»Natürlich nicht, wie sagt man, Honig zu viel gegessen, bekommt nicht.«

»Ich sag, ich kauf nicht, aber woher kennen Sie so gut meinen Magen?«

»Sie haben recht, woher soll ich ihn kennen? Ich mein, wenn Sie kaufen, wird es richtig sein, zu kaufen, wenn Sie nicht kaufen, wird es richtig sein, nicht zu kaufen. Ihre Frau hat es gut, sie kann sich verlassen auf ihren Mann.«

»Nun seh einer, was der Tauber für feine Glacéhandschuhe anhat.«

»Ich find sie nicht so fein. Was hab ich gesagt? Sie kann sich verlassen auf ihren Mann.«

»Und was haben Sie nicht gesagt?«

»Sie wissen, meine Frau liegt schon Jahre, also weiß ich, ein Kranker ist leicht gereizt.«

»Vielleicht Ihre Frau.«

»Meine Frau nicht vielleicht, meine Frau bestimmt.«

»Also wer vielleicht?«

»Also ich weiß nicht, wer, vielleicht wer anders.«

»Also wer schon?« fragte Weichselbaum ärgerlich.

»Was wollen Sie es mich sagen lassen? Ich möchte Ihnen lieber eine Geschichte erzählen. Die Leute reden zwar schon, wenn der Tauber nur den Mund aufmacht, was kommt heraus? eine Geschichte . . . Doch hier möcht ich wirklich eine erzählen, eine Geschichte von Rabbi Chanina ben Dosa! . . . Als Rabbi Chanina lebte, war einst das Land von Löwen heimgesucht. Rabbi Chanina betete, und die Löwen zogen ab. Ein Löwe aber fiel wieder in das Land. Rabbi Chanina stieß auf ihn und schrie ihn 232 an, wie er es wage, hier zu erscheinen. Er habe doch bei Gott erwirkt, daß der Löwe, dieser schwache König, nicht in das Land herein dürfe. Der Löwe ergriff die Flucht, aber Rabbi Chanina lief ihm nach, denn es reute ihn, einen Löwen, von dem die Bibel schrieb, ein starker König ist der Löwe, einen schwachen König genannt zu haben.«

»Was lief er?«

»Ihn um Verzeihung bitten.«

Weichselbaum stutzte und sprach dann abweisend: »Ich nehme an, er hat ihn nicht eingeholt.«

»Sie nehmen es an, ich auch, denn ich stell mir vor, ein junger Mann wird Rabbi Chanina ben Dosa nicht gewesen sein, und gut haben laufen können wird er auch nicht. Um so mehr sag ich mir, Rabbi Chanina wird doch gewußt haben, der Löwe ist schneller und ich kann ihn nicht erreichen – wenn er doch lief, wieviel mehr muß erst ein Mann laufen, der was kann erreichen . . . einer, der sich kann entschuldigen, ich meine entschuldigen bei jemandem, den er . . . den er angefahren hat. Aber ich geh weg, Sie sollen nicht sagen, der Tauber ist frech wie ein Spatz, er pickt zu, wo es nischt zu picken gibt. Ich geb zu, ich hab hier nischt zu picken.«

Tauber, der nichts für sich erreicht, nur einen großen Mann belehrt hatte, kam gerade recht, um auch bei Julchen seines Amtes zu walten. Allen Verboten zuwider war Riwka erschienen.

»Laßt du dich doch sehen?« flötete Julchen honigsüß.

Himmel und Erde wurden besprochen. Die Zeiten? Miserabel! Die Geschäfte? Schlecht, nicht schlecht, man muß Geduld haben, es wird schon werden. Und bei ihr? Jurkim? Die Tochter?

Es war nicht leicht, gestand Riwka, mit der Tochter zu leben. »Vorhin fing sie an zu jammern: wofür bin ich auf der Welt? wozu habe ich nötig, zu sein? Versündigen Sie sich nischt, sag ich. Also schön, ich bin nötig, aber dann sagen Sie mir doch gefälligst: wofür nötig? Für Ihren 233 Vater, sag ich. Schön, für meinen Vater, aber wenn mein Vater eines Tages nischt mehr ist? Ich sag erschrocken, man denkt nischt an seines Vaters Tod, in dreißig Jahren . . . Sie unterbricht mich: also schön, in dreißig Jahren, was wird da sein?«

»Weißt du, was du bist? Ein Esel bist du! Was hat man dich genommen, man hätte mich sollen nehmen! Ich weiß, was ich ihr gesagt hätte . . . Du red'st mit ihr, ein Mensch darf nischt denken – aber was ist, wenn er doch denkt? Er darf Sonnabend nicht über die Grenze gehen, aber was ist, wenn er doch geht? Eine Frau darf nischt am Fasttag mit ihrem Mann – aber was ist, wenn sie doch . . . Sie soll nischt, sie darf nischt, die Rabbinen lehren ich weiß was, aber die Rabbinen haben Wasser in den Adern, und es soll Menschen geben, die was Blut haben!«

»Manche kommt, manche kommt nischt«, erklärte Julchen, indem sie wieder auf das Geschäft zurücklenkte.

»Sie werden sich gewöhnen.«

»Oder abgewöhnen.«

»Wieso abgewöhnen? Sie kennen dich doch, sie wissen doch, wer du bist.«

»Sie kennen mich, ja«, sagte Julchen und hatte mit einem Mal einen Ernst, daß sie am Versöhnungstag vor Gott nicht ernster hätte sprechen können, »sie kennen mich, ja, drauflospratschend, frech, und du meinst, es gibt keine, die anders bedient sein will, leise, ein bißchen feiner? Du hättest ruhig bleiben sollen«, erklärte sie kurz heraus, »das mit Czenstochau, ich will nischt gesagt haben, ich weiß nur, wenn ich es wär, ich ginge nischt.«

»Geh ich schon?«

»Sagen Sie es ihr, Tauber«, forderte Julchen von dem gerade oben durch die Tür sich Hinabbeugenden, »soll sie zu Lipmann Süss nach Czenstochau gehen oder bleibt sie besser hier?« Bei ›hier‹ zog sie mit der Hand einen mächtigen Kreis – man wurde an einen Großgrundbesitzer erinnert, der mit einem Jugendfreund auf seine Güter hinausfährt und, mit einer großen Armbewegung über die 234 weiten Flächen weisend, nur mühsam nicht in die Worte ausbricht: alles das ist mein!

»Ich werd Ihnen sagen«, meinte Tauber, »kann man vergleichen etwas, was man kennt, mit etwas, was man nicht kennt? Hier ist's nicht schlecht und hier ist's nicht gut, es ist beides, und wie wird es dort sein? Auch beides, auch nicht schlecht, auch nicht bloß gut. Der Mensch kann leider nicht zur selben Zeit zugleich in zwei Städten sein, obwohl es sehr viel besser wäre, wenn er könnte, und doch ist es wieder gut, daß es nicht geht, sonst würden alle Leute, die was in Kolomea wohnen, auch in Paris wohnen wollen, und die was in Paris wohnen, auch in Kolomea.«

»Wieder so sein dummes Gerede«, fährt Julchen dazwischen. »Sie sollen ja oder nein sagen und Sie sagen nischt ja und nischt nein.«

»Nun, kann man denn ja sagen und kann man denn nein sagen?«

Da seine Worte nicht gefielen, machte sich Tauber los und fand auf der Gasse einen Jungen stehen. »Wie heißt du, mein Kind?«

»Moritz.«

»Und wie weiter?«

»Henoch.«

»Und wie auf jüdisch?«

Er bekam keine Antwort.

»Aber du wirst doch wissen, wie du heißt?«

Jetzt fiel es dem Jungen ein: »Menachem.«

»Ein schöner Name«, sagte Tauber, »weißt du auch, was er bedeutet?«

Der Knabe schüttelte den Kopf.

»Also dann sag ich's dir, Menachem heißt der Tröster. Warum haben dich deine Eltern so genannt? Worüber hast du sie mit deinem Erscheinen auf der Welt getröstet?«

Der Junge konnte es nicht angeben.

»Nach wem heißt du?« kam ihm Tauber zu Hilfe. 235

»Nach meinem Großvater.«

»Nach welchem?«

»Nach dem von meinem Vater.«

»Und der lebt noch?«

»Nein, der ist tot.«

»Und seit wann ist er tot?«

Das war ihm nicht bekannt.

»Eh du geboren bist?«

»Ja.«

»Siehst du, da haben wir es schon, worüber du deine Eltern getröstet hast: über den Tod deines Großvaters. Und hast du schon einen Vers?«

Der Junge verstand nicht.

»Jeder Jude«, erklärte Tauber, »muß einen Vers haben aus der Bibel, der nur für ihn da ist und den er dreimal täglich in das Gebet einschaltet. Aber der Vers muß besonders beschaffen sein, er muß mit demselben Buchstaben anfangen und mit demselben aufhören, wie der Vorname. Menachem? Welcher Buchstabe ist da vorne? M. Und welcher hinten? Das wirst du doch sagen können! Ist das so schwer? Es ist derselbe Buchstabe, wieder M! Also laß uns einmal nachdenken, welcher Vers fängt an mit einem M und hört auf mit einem M. Da haben wir schon einen . . . nein, der paßt nicht . . .« Es war nicht ganz einfach, einen Spruch zu finden, der nicht bloß seiner Form nach recht beschaffen war, sondern der sich auch inhaltlich dazu eignete, einem jungen Mann sein Leben lang als Stärkung zu dienen.

»Weißt du was«, sagte Tauber, »sei morgen wieder hier um diese Zeit, ich werde nachdenken, dann sollst du einen Vers bekommen.«

Weichselbaum hatte über Taubers Worte nachgedacht. »Ich hab gestern gefastet«, brummte er vor sich hin, »oder so gut wie nichts berührt, und doch wird aus einem kein anderer Mensch! Im Gegenteil, die Leute reden schon und sagen, ich fahr sie an, die Frau. Schwör nischt«, sagte er, als sie in das Zimmer trat. 236

»Eben komm ich, um dir zu sagen, ich schwör!« hätte eine verschlagene Frau gesagt. Sie sagte einfach: »Du bist so gut!«

»Ich gut? Wo bin ich gut? Wenn du einen Wunsch hast, les ich ihn dir von den Augen ab? Allerdings, lies ab mit meinen Augen! Also sag schon etwas, was du haben willst!«

Von Frajims Eltern waren jämmerliche Briefe eingetroffen. Sie glaubten ihn noch bei dem Lumpenhändler Lewkowitz und staunten, daß er nichts für sie tat. Frau Warszawski hatte ihm Geld für sie gegeben, ein wenig auch Noah, aber es schien sehr schlecht zu stehen in Piaseczno.

»Gib ihnen!«

»Man wird auch für ihn selbst was tun müssen.«

»Ich werde nachdenken.«

Und dann . . . aber sie verlange wohl zuviel . . .

Also, was war noch?

Frau Spanier suchte Geld für Seraphim, damit er nach Palästina kam.

Dann solle sie es aufbringen!

Sie hatte nach Hause geschrieben, aber man schickte nichts.

Dann solle sie noch einmal schreiben.

Sie hatte das ein zweites Mal getan.

Dann sollte sie es ein drittes Mal tun. »Oder hast du gedacht, ich werd mich hinsetzen und schreiben: Frau Spanier, Ihre werte Verwandte, will einen jungen Menschen, der was nischt uneben ist, nach Tel Aviv schicken und hat Ihnen zweimal um Reisegeld geschrieben. Ich ersuche Sie hierdurch höflichst, ihr das Reisegeld zu schicken, im anderen Fall ich mir erlauben werde, vor Ihnen auszuspucken. Mit der gebührenden Achtung, Abraham Weichselbaum, Haus- und Grundbesitzer, zu elf Zwölfteln blind, aber bei Verstand.«

Er war wieder bei seinem Ausgangspunkt. »Und du sagst nicht, was red'st du von elf Zwölfteln, wo es nicht 237 sind drei? Wenn um mich alles schwarz ist, wirst du noch sagen, es ist hell!«

»Es ist, werd ich nicht sagen, aber vielleicht, es wird, denn alles ist schon dagewesen.«

»Was gehen wir dann noch zu den Ärzten, können wir nischt gleich nach Gora-Kalvaria fahren zum Wunderrabbi?«

Er spielte augenblicklich mit diesem Gedanken, den er sonst abzuweisen liebte.

 

Lewkowitz, Frajims früherer Dienstherr, hatte seine Lumpen nach England gesandt und gerade damit in Piaseczno Eindruck gemacht. In England waren seine Geschäftspartner fromme Juden, gewiß sehr vorsichtig; aber Zimmt & Calman Brothers wurden in den überraschenden Zusammenbruch eines anderen Unternehmens hineingerissen und rissen Lewkowitz mit. Lewkowitz wurde dadurch nicht irre an seiner Frömmigkeit; mit Gott, mit seiner Offenbarung, mit seinen heiligen Lehren hingen diese Vorgänge nicht zusammen; irre wurde er höchstens an den geschäftlichen Fähigkeiten frommer Juden, und zu zweifeln begann er, ob er sich selbst werde halten können. Bestimmt mußte er, wenn er keinem etwas schuldig bleiben wollte, das Haus, das schon sein Vater erworben hatte, abgeben, und auch dann war er nicht sicher: kam er durch oder nicht.

Er bot das Haus zuerst der Gesellschaft an, der rechts die beiden Nachbarhäuser gehörten, der Gesellschaft für Grundbesitz und Areal. Sein Angebot begegnete größtem Interesse, aber unglücklicherweise war einer der beiden maßgebenden Herren verreist, und vor zehn Tagen konnte Lewkowitz keinen endgültigen Bescheid erhalten.

Inzwischen wurden in der Gasse die Schwierigkeiten ruchbar. Ein Dutzend Vermittler stürzte vor, Himmelweit an der Spitze. Jedem nur vermeintlich wohlhabenden Mann liefen sie die Wohnung ein und schrien ihm die Ohren voll, ob er nun mit Eiern handelte oder mit 238 alten Kleidern, mit elektrischen Artikeln, mit Radiogeräten, mit Häuten oder Schuhen. Aber sie verstanden kein ernstliches Interesse zu erwecken, und auf die einzige Person, die sich innerlich nach dem Haus verzehrte, kamen sie nicht. So mußte Frau Dippe selbst nebenan zwei Treppen hochsteigen und Lewkowitz ihre Wünsche vortragen. Sie hatte keine Ruhe, seit sie ihr Haus an Weichselbaum verkauft, und sie fand sie erst wieder, wenn sie ein anderes erworben hatte – ein Haus sah man, Geld sah man nicht. Das Lewkowitzsche statt ihres alten, das hätte ihr gepaßt . . .

»Für das Geld, das Sie mir bieten, wollen Sie dieses Haus bekommen?« sagte Lewkowitz etwas von oben herunter. »Da denke ich einen besseren Käufer an meiner Nachbarin zu haben. Die Gesellschaft will sich in zehn Tagen entscheiden, ich kann Ihnen deshalb im Augenblick gar nichts sagen. Aber selbst wenn ich mit den Leuten nicht einig werden sollte und einen anderen Käufer suchen müßte, für das Geld, das Sie mir anbieten, so ein Haus herzugeben, das wäre eine Sünde und eine Schande!«

Auch Frau Dippes bewährte Ratgeberin, Fräulein Czinsky, wußte keinen Rat. »Mehr als das Geld, das Sie für Ihr Haus bekommen haben, können Sie nicht anbieten, und für das Geld werden Sie das soviel bessere Lewkowitzsche Haus nicht kriegen. Ebensogut können Sie baumwollenen Stoff zurückgeben und reine Seide dafür haben wollen.«

Zwei Tage später sah Fräulein Czinsky, als sie von der Näharbeit nach Hause kam, vor der Haustür einen Bekannten stehen.

»Kommen Sie schon wieder an?« schimpfte sie, aber sie lachte dabei.

»Halb so wild, liebes Fräulein Czinsky!« erwiderte Geppert, gelassen und verschlagen. Er wollte gar nicht zu ihr, was sollte er da wohl wollen? Er wußte, daß er schlecht angeschrieben war, aber es gab hier im Hause, was sie 239 offenbar noch nicht bemerkt hatte, einige Damen, die Männer etwas liebenswürdiger behandelten.

Er strahlte sie leicht an, Fräulein Czinskys Unbeirrtheit und Zähigkeit sagten ihm seit langem zu. Er hatte sich mehrfach vergeblich um ihr Vertrauen bemüht und es nur bis zu kleinen Gefälligkeiten gebracht – aber damit fangen die großen manchmal an. Ob es je zu diesen kam, das hätte selbst keiner von ihnen sagen können. Fräulein Czinsky war jedenfalls nicht zu Konzessionen entschlossen, und vielleicht reizte gerade das Geppert oder forderte ihn heraus.

Er sollte ruhig zu denen da oben gehen, erklärte Fräulein Czinsky, diese Frauen hätten richtig »auf Mann gelernt«, nicht Schneiderei, wie sie, natürlich verstanden sie besser, Männer zu behandeln.

»Papperlapapp«, sagte er und griff nach ihrer Hand.

»Sie werden mir noch meine Hand zerquetschen«, behauptete Fräulein Czinsky und zog die Hand zurück. »Sehen Sie!« Wirklich war von seinem Griff ein roter Streifen auf der Hand zurückgeblieben.

»Ich blas drauf«, erklärte Geppert und wollte durch den Anhauch die Färbung vertreiben.

»Suchen Sie sich andere Instrumente zum Blasen aus!« forderte Fräulein Czinsky.

»Sie haben eine Zunge fast wie ein Rechtsanwalt.«

Sie sei auch ein halber, er wisse doch, daß sie Geschäfte habe.

»Ich muß immer lachen, wenn ich von Ihren Geschäften höre.«

»Ich wünschte, Sie hätten auch welche«, sagte sie ernst. »Aber Sie müssen sich mit schlechten Sachen abgeben, nicht? Das gehört zu Ihnen.«

Sie kam auf Frau Dippes Sorgen. Es waren auch die ihren, denn sie sollte etwas verdienen, wenn sie ihr das Haus erwerben half. Sie schilderte, wie der Fall lag, sie habe schon nutzlos mit verschiedenen gesprochen. »Was werden Sie machen können? Auch nichts!« 240

»Ihr habt immer kniffliche Sachen«, seufzte Geppert. »Was soll einem Mann wie mir wohl einfallen, wenn selbst so ein wohlgeratenes Köpfchen wie das da nichts findet?« Und er tippte mit dem Finger gegen ihre Schläfe.

Sie zog den Kopf zurück, nicht gekränkt, aber doch nicht ohne zu erklären: »Machen Sie das da oben bei Ihren Mädchen!«

»Und wenn mir die Sache doch gelingt?«

Sie wollte sagen: »Dann ist es noch ebenso«, aber sie verbiß es sich und lächelte ihm bloß zu.

Geppert trat auf die andere Straßenseite und musterte von dort langsam das Lewkowitzsche Haus, von unten nach oben und wieder von oben nach unten. Als er niederblickte, sah er ein kleines, unansehnliches, um nicht zu sagen mißratenes Männchen in das Tor treten. Geppert beschäftigte sich mit ihm, wandte sich dann abermals dem Hause zu und pfiff schließlich durch die Zähne. Er hatte einen Gedanken.

Er überquerte die Straße und ging ebenfalls in das Lewkowitzsche Haus. Immer, spornte er sich an, muß man dem ersten Gedanken nachgeben, der zweite bringt die Zweifel.

Schon im ersten Stock fand er die Tür, durch die das unscheinbare Männchen verschwunden war. Auf dem Schild stand der Name: Israel Wahrhaftig. Er klingelte.

Wahrhaftig fuhr zusammen, schon als er es klingeln hörte; als er sah, wer vor der Tür stand, schüttelte es ihn. Ohnehin quälte ihn Tag und Nacht, daß er das gestohlene Gut versteckt hielt. Israel Wahrhaftig hatte nicht das Tuch, nur die Seide zurückgegeben; die Seide zum Spediteur gebracht hatte eben jener Scharpf, der kürzlich in einem Fleischerladen einer Mamsell das Messer in die Brust gestoßen. Erst mußte sich auf der Flucht der Dieb erschießen, nun hatte der Helfer die Verfolger auf den Fersen! Faßte die Polizei einen Verbrecher, so benahm sie sich wie eine eifersüchtige Frau: sie wollte alles aus seinem Leben wissen, alles, was sich seit ihrer letzten 241 Begegnung zugetragen hatte! Bekam sie Scharpf, so kümmerte sie sich nicht bloß um den Messerstich, sie deckte auch seine Verbindung zu Wahrhaftig auf, und alles war verloren.

In solcher Lage dieser Besuch? Von einem Ausbund aller Schlechtigkeiten? Wahrhaftig kannte Geppert bloß von einer einzigen Begegnung in einem trüben Keller, aber er erkannte ihn sofort, genau wie Geppert ihn erkannt hatte. Es war das gleiche vollgefressene Gesicht, der blonde Scheitel, der ausgezogene Schnurrbart. Wahrhaftig dachte bei dem Schnurrbart wieder an Zabludowo, wo die Landstraße von Westen kam, sich schnurgerade durch die Stadt zog und ebenso gerade weiterlief nach Osten. Was in aller Welt wollte dieser Mann bei ihm?

Wahrhaftig ließ den gefährlichen Besucher nähertreten und betete in Eile außer zu den großen zu den kleinen Propheten, zu allen zwölf, sagte auch rasch einige Sprüche auf, die sich in seiner Familie bei Ungemach bewährt hatten.

»Wissen Sie, wie Sie mich jetzt ansehen, lieber Freund?« sprach Geppert. »So, als sei ich niemand anders als der Gottseibeiuns in Person.«

Wahrhaftig machten die Worte nur verwirrter, er billigte Geppert weder das Recht zu auf die Anrede, noch in einem frommen Hause mir nichts dir nichts von wem zu reden? Wenn er richtig verstanden hatte, vom Teufel . . .

»Ich wollt Ihnen mal guten Tag sagen, nichts weiter«, meinte Geppert, »das wird doch noch erlaubt sein? Sie wollen das nicht glauben? Es muß etwas anderes dahinterstecken? Also schön, nachher führt mich noch eine andere kleine Sache her. Aber ich hätte auch warten können, bis Sie wieder einmal in den Keller kommen.«

»Wieder einmal? Ein einziges Mal bin ich dagewesen«, und Wahrhaftig klagte in seinem Herzen seine Frau an, die ihm den schlechten Rat gegeben.

»Aber wer nicht kommt, sind Sie. Seit Tagen, sobald 242 ich in dem dicken Rauch auch nur das leiseste erkenne, schiele ich umher: vielleicht ist Freund Israel Wahrhaftig da – aber wer nicht da ist, das sind Sie, mein Freund!«

Dieses ewige Gerede von einer Freundschaft, für die es an jedem, aber auch an jedem Anhalt fehlte, wurde Israel unheimlich, er sagte mühsam: »Sie sprechen immer zu mir von Freund, reden Sie zu allen so?«

»Ach, das stört Sie, ich bitte Sie, es bedarf doch nur eines Wortes, schon ist der Freund wieder ausradiert. Und wenn Ihnen sonst noch was mißfällt, bitte, sagen Sie es ruhig! Nur nicht das Leben unnötig schwer gemacht! Soweit es in meinen Kräften steht, wird jedes Ärgernis sogleich beseitigt. Gott, werden Sie denken, was wird der Mann noch alles von mir wollen, wenn er ein solches Wesen macht! Aber das stimmt nicht, ich will nicht viel, nur eine Kleinigkeit, ein bißchen Zutrauen zu mir müssen Sie freilich haben – solange Sie mich finster ansehen wie ein wildes Tier, das mit der Tatze losschlagen möchte und sich bloß nicht traut, weil der Bändiger danebensteht und einen Knüppel in der Hand hat, solange geht es nicht. Sie haben wahrscheinlich Sachen über mich gehört, und das macht Sie unsicher. Ich soll Beziehungen zur Polizei haben?« sagte er geradezu, indem er einen Stuhl zwischen die Beine klemmte, »nicht wahr, das ist es?«

»Aber nicht doch«, sagte Wahrhaftig, »wer red't so was?«

»Lassen Sie man, mein Lieber, es wird gesagt, und darum spricht man sich besser aus. Aber nehmen Sie mal an, es wär' an dem, könnte ich Sie dann nicht erst recht um eine Kleinigkeit bitten kommen?«

Nein, Wahrhaftig sprach mit ihm von allem auf der Welt lieber als davon. Die Hölle ist gewiß kein angenehmes Thema für ein Gespräch. In den Schriften der Rabbinen werden wenig erbauliche Einzelheiten von ihr berichtet, angeblich soll man dort geröstet und gebraten werden, aber lieber von der Hölle gesprochen, lieber vom Tod, als mit Geppert von der Polizei. Er erbleichte, 243 wurde kreideweiß, das war nicht tapfer, ein bißchen könnte er sich verstellen, sich so einfach gehenzulassen, wer tat das?

Schon mit seinen nächsten Worten nahm Geppert seine halben Andeutungen zurück. »Nein, alles Unsinn, was ich sage, das müssen Sie doch selbst sehen, was soll ich wohl mit der Polizei zu tun haben? Da zerbricht sich hier jedermann den Kopf: wovon lebt der Kerl? Vom Eisenbahndiebstahl? Dummes Zeug! Von der Pension? Die haben sie mir abgeknöpft. Also, tuscheln die Jungens, der Geppert schiebt mit der Polizei. Schön, die Leute müssen doch was zum Quasseln haben. Aber Ihnen kann ich's sagen, woher ich in Wirklichkeit meine paar Zigaretten krieg und das bißchen Schnaps, denn mehr brauch ich nicht zum Leben, ab und zu ein Gläschen, höchst bescheiden eines nach dem andern, bestimmt nicht zwei auf einmal.«

Wahrhaftig begriff und bot Geppert einen Tropfen an.

»Also zieren möchte ich mich nicht. Zunächst und zuvörderst einmal Ihr Wohl – na, hören Sie mal«, unterbrach er sich und zog das Glas vom Mund, »wenn die Juden so gut essen wie sie trinken, dann laß ich mich auf meine alten Tage noch beschneiden . . . Donnerwetter, dieser Schnaps hat's in sich. Der ist wohl nur für ganz besondere Besuche? Aber nee, wissen Sie, so besonders ist mein Besuch nun wieder nicht. Wovon sprach ich doch da eben? Aber ja doch, wo das Geld für den Schnaps und die Zigaretten herkommt. Ich will es Ihnen sagen, aber Sie brauchen es nicht gleich jedem Cohn und Levy zu erzählen, nicht wahr, wen interessiert das denn? Also, sehen Sie mal, lieber Freund, ich bin doch nun mal ein alter Eisenbahner. Wenn ich Geld brauche, das kommt ja vor, dann wird das so gemacht, das ist im Grund die einfachste Sache von der Welt, Sie können es ruhig hören, Sie machen es mir doch nicht nach, die Sache liegt Ihnen nicht. Ich setze mich auf die Bahn, nicht wahr, ein leidlich hübscher Kerl ist man ja noch, so heißt es wenigstens, 244 und da macht sich die Bekanntschaft mit einer Dame leicht. Ich nehme natürlich keine x-beliebige, dazu ist es ja Geschäft, sondern eine mit Kind oder eine, die sonst behindert ist. Auf einer Zwischenstation steigt sie aus, um auf den Anschlußzug zu warten – wer steigt mit aus? Wer schlägt ihr vor, sich in der Zwischenzeit nicht mit dem Handgepäck zu plagen? Wer gibt es für sie zur Aufbewahrung? Wer händigt ihr einen falschen Schein aus, über die richtige Stückzahl, aber einen, der sich auf einige vorher abgegebene Kartons bezieht mit altem, zusammengeknülltem Papier? Nun, raten Sie mal, wer das wohl macht? Sehen Sie, das ist mein Geschäft.«

»Springt dabei was raus?« fragte Wahrhaftig, der übrigens annahm, daß die ganze Erzählung erlogen war.

»Man muß viel herumkutschieren, es klappt nicht immer, und was haben nachher die Frauen im Handgepäck! Ich hätte schon zehnmal können mich als Frau verheiraten, eine Ausstattung hab ich zusammen, bis zum letzten, also wir wollen nicht näher drauf eingehen, aber bis zum allerletzten, sag ich Ihnen. Manchmal ist aber doch auch ein anständiges Stück darunter, ein Hundertmarkschein in einem schmutzigen Wäschestück, das kommt schon vor, das scheint bei reisenden Frauen ein beliebtes Geldversteck. Aber nun einmal etwas anderes«, erklärte er plötzlich, und seine Stimme veränderte sich.

Wahrhaftig erschrak so, daß Geppert den forschen Ton aufgab: »Erschrecken Sie man nicht gleich wieder, das dürfen Sie jetzt schon nicht mehr.«

Wahrhaftig entschuldigte sein Benehmen, er habe sich nur aufgeregt, weil sich seine Frau nebenan bewegt habe, seiner Frau gehe es nicht gut – es ginge ihr sogar schlecht, das Herz könnte kaum noch die Arbeit leisten.

»Na, hoffentlich scheint es bloß so. Wissen Sie, um die Frauen soll man kein zu großes Wesen machen. Wir Männer verstehen von den Frauen doch nichts Recht's. Im Grunde wollen die auch bloß für sich allein sein. Aber, was ich sagen wollte«, und seine Stimme hob sich 245 wieder, »sagen Sie mal, das hier ist doch das Haus von einem gewissen Lewkowitz?«

»Ja, von dem Lumpenhändler Lewkowitz.«

»Wohnen Sie schon lange drin?«

»Ich weiß nicht genau, wie lang, aber ich mein, an zehn Jahr.«

»Sehen Sie, das hatte ich mir gedacht. Und kennen Sie auch seinen Zustand? Näher?«

»Seinen Zustand? Ein Zustand, wie der Zustand ist von einem Haus.«

»Wenn da nun was passiert . . .?«

»Passiert? Was soll passieren?«

»Wie soll ich vorauswissen, was passieren kann? Neulich soll im Gasthof von Joel was vorgekommen sein . . . Wenn nun was Ähnliches hier im Haus passiert, . . . sagen wir, wenn eine Wand einstürzt?«

»Um Gotteswillen, sprechen Sie das nicht aus, die Menschen . . .«

»Ja, aber davon will ich gerade sprechen, was wird mit den Menschen dann?«

»Die Menschen, Gott soll schützen, die gerade da sind, die können umkommen, der Stein kann sie erschlagen.«

»Ja, nun sagen Sie mir, wer wohnt nun eigentlich außer Ihnen hier im Haus? Sind das Christen? Sind das Juden? Was ist das?«

»Aber Sie wissen doch selbst genau, alles Juden! Was fragen Sie mich aus? Was wollen Sie überhaupt von mir?« schrie er plötzlich auf in Angst.

»Ich will von Ihnen gar nichts«, sagte Geppert fest. »Aber Sie haben doch Frau und Kinder und sind doch selbst ein Jude, wollen Sie da mit ansehen, daß hier eine Mauer einfällt und alle totgeschlagen werden?«

»Was wollen Sie von mir?« schrie Wahrhaftig, um plötzlich zu verstummen, weil er an die Kranke im Nebenzimmer dachte.

»Sie werden den unhaltbaren Zustand der Polizei mitteilen!« 246

»Ich? Was, ich?« klang es gepreßt. »Warum nischt Sie, warum nischt die anderen Leute aus dem Haus?«

»Weil die es nischt nötig haben«, sagte Geppert, indem er die Sprechweise nachahmte.

Wahrhaftig verging der Mut, zu fragen.

»Ich habe morgen bei der Polizei zu tun, ich komme öfter hin«, er wurde ausgesprochen deutlich und warf alles Bisherige über den Haufen, »ich werde mich bei der Bauabteilung erkundigen, im Sekretariat« – er nannte einen Namen – »ob da ein Einlauf von Ihnen ist. Hören Sie mal«, und er packte Wahrhaftig an der Schulter, »mit der Polizei muß man sich gut verhalten. Die ist für ein Geschäft zu haben, natürlich darf man nicht gleich ein Mörder sein, aber das sind wir ja Gott sei Dank noch nicht. Sie tun ihr einen Gefallen, schon tut sie Ihnen auch einen, Sie brauchen bloß den Mund aufzumachen, was Sie für einen haben wollen. Geht da zum Beispiel eine Anzeige gegen Sie ein und Sie werden vorgeladen, dann sagen Sie das einfach diesem schlechten Kerl, diesem Geppert, der geht dann für Sie hin und sagt: Hände weg, der Junge hat sich verdient gemacht, der ist ein Freund der Polizei und hat sich gut gegen sie betragen. Schon bekommt der Beamte einen Wink, wenn Sie hinkommen, heißt es, die Vernehmung hat sich erledigt. Sie sollen mal sehen, wie rasch so ein Schriftstück weggelegt werden kann, davon hat ein armer Teufel, der seine paar Monate abmacht, keine Ahnung.« Um den völlig schlotternden Wahrhaftig zu trösten, schlug er ihm abermals heftig auf die Schulter, mit sich selber höchst zufrieden: Frau Dippe, diesem alten, verhutzelten Wesen, hatte er vielleicht etwas Gutes getan, der Czinsky sich wahrscheinlich auf das angelegentlichste empfohlen, und Spaß hatte es ihm obendrein gemacht.

»Was läufst du, was tust du?« fragte Rosa Wahrhaftig ihren Mann, als er in der Stube erschüttert auf und ab lief.

Er weihte sie ein und sie erwogen: mußte Wahrhaftig 247 die Eingabe unterzeichnen? Wurde der für ihn undurchsichtige Zweck nicht auch erreicht, wenn es ein anderer für ihn tat, etwa der gute Beistand in jeder Lebenslage, Tante Ida Perles? Aber es war schwer, später ein Verdienst von Ida Perles als eigenes auszugeben, und Israel hatte allen Grund, für Gunst zu sorgen. Vielleicht lag eine Anzeige vor, warum hätte Geppert ihn sonst aufgesucht? Etwas mußte sich herumgesprochen haben . . . Möglich, daß man Scharpf verhaftet hatte . . . Im übrigen zeigte Ida Perles zum ersten Mal im Leben einen festen Willen und wies die Zumutung, als sie auch nur angedeutet wurde, ab – nie brachte sie hunderte von Juden um ihr Obdach! Sie hatte schon einmal eine bedenkliche Unterschrift geleistet, aber eben weil sie das für Rosa und Israel getan, sollte man es nicht noch ein zweites Mal von ihr fordern.

Rosa und Israel war klar, was ihnen drohte, wenn den Juden auf die Anzeige das mindeste geschah: sie wurden verfemt, wenn nicht erschlagen! So rüsteten sie zum Aufbruch. Aber vorher wollten sie das Tuch verkaufen, verkaufen, nicht zurückgeben – von den Juden drohte ihnen Gefahr, von der Polizei nicht mehr . . .

Am nächsten Abend, nicht lange vor dem Gottesdienst, begab sich Israel zu Jurkim und bat, für sein armes Weib zu beten. Als Beihilfe für arme Kranke übergab er die hier ungewöhnlich große Summe von hundert Mark.

»Sein Verdienst wird dem Gerechten angerechnet!« sagte Jurkim. »Gerade heute hatte ich lange zum obersten Gott gebetet, er möchte mir einen Wohltäter schicken, da kommen Sie!« Ein verzweifelter Hausvater hatte sich ihm am Vormittag zu Füßen geworfen und um Hilfe geweint, über seine Familie war ein schreckliches Unglück hereingebrochen, und er hatte ihn ziehen lassen müssen, die kleinen Fonds, die er verwaltete, waren erschöpft. Nun ging er noch zur selben Stunde zu dem Ärmsten und rettete die Familie.

Gleich darauf begab sich Jurkim in das Bethaus und 248 betete für Frau Wahrhaftig. Auch der Mann, Wahrhaftig selbst, war ihm verängstigt vorgekommen, so schloß er auch ihn in sein Gebet, ohne daß Sünde und Frevel dem gottesfürchtigen Manne klar waren.

Daß er hatte helfen können, machte den sonst immer so Ernsten heiter auf dem Heimweg. Er aß im allgemeinen abends wenig, aber wenn es sich so machte, wollte er seine Tochter und Riwka Hurwitz heute um eine etwas reichlichere Mahlzeit bitten und ihnen dabei von dem Hausvater erzählen, den er glücklich gemacht. Ein junger Mann ging in der Mitte der Gasse und pfiff vor sich hin:

»Als der Rabbi Abimelach
war geworrn a bissl frehlach,
war geworrn a bissl frehlach,
Abimelach . . .«

und Jurkim, der es hörte, wurde fast so heiter wie dieser sagenhafte Abimelach.

Doch zu Hause verflog die Fröhlichkeit sehr rasch. Mißmutig saß die Tochter da, wie abwesend Riwka Hurwitz.

Von Esther hieß es, sie sah grün aus, das galt als ein Zeichen der Schönheit, aber hier bedeutete es eher, daß es jemandem schlecht ging. Jurkim sagte es und sah dabei, wie es seine Gewohnheit war, die Angeredete nicht an; aber er mußte ihre Gesichtsfarbe bemerkt haben.

»Es gefällt Ihnen wahrscheinlich bei uns nicht«, fuhr er fort, zu Riwka zu sprechen. »Aber wer das Schlechte nicht kann ertragen«, er lächelte, »der wird das Gute nicht erleben. Und Czenstochau halten Sie doch für gut?«

Nein, erklärte Riwka entschlossen, sie wollte nicht heiraten. »Ich werde hier bleiben, so lange, wie Sie mich haben wollen. Hoffentlich kommt die Frau Rabbiner bald zurück.«

»Gott gebe es.«

»Und wenn sie kommt, gehe ich zu meiner Schwägerin in den Keller.« 249

»Nun, nun«, sagte der Rabbiner, von dem Entschluß befriedigt, »das läßt sich gut hören. Und was sagst du dazu?« fragte er ermunternd seine Tochter.

»Was soll ich sagen? Was ich sage, ist doch falsch«, klagte sie. »Wie wird gesprochen? Geht sie langsam, heißt es, kriech nicht, geht sie rasch, heißt es, zerreiß nicht die Schuh!«

»Sprech ich wirklich so zu dir, mein Kind, oder sprech ich: wenn du kriechen willst, kriech, wenn du die Schuhe zerreißt, laß dir neue machen.«

»Da sehen Sie, wie gut der Vater ist.«

»Der Vater ist gut, aber wer ist sonst noch gut?«

»Wer möchte nicht bloß einen Vater haben, der gut zu ihm ist?«

»Oder eine Mutter«, sagte Jurkim. 250

 


 << zurück weiter >>