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Für Joels Gasthof war es zuwenig Ehre, ihn ausgezeichnet zu nennen. Ausgezeichnet war ein Ausdruck für glänzend geführte Gasthöfe, sein Gasthof aber war unvergleichlich und in Wahrheit der Mittelpunkt der Stadt. In einer Stadt, weltlich wie Babylon, stand er in der zutiefst Gott hingegebenen Straße, erhaben und heilig wie das Bethaus auf dem Hof, es gab kein Bauwerk, das Gottes Herzen näher war . . .
Joel selbst ging es gut in diesem Gasthof, ja, er durfte hoffen, wie vielleicht nur wenige unter den Millionen dieser Stadt, nach dem schönen Leben auf dieser Erde noch mit einem weiteren von uns nur zu ahnenden begnadet zu werden. Ihm war er nicht verschlossen, der Garten Eden, wenn er frommer Menschen wartete, jener Garten, in dem man unter Palmen und Zypressen wandelte und Engel und seltene Vögel, Gesänge und Gezwitscher hörte. Ja, vielleicht darf ich noch mehr, dachte Joel, falls das Leben sich wirklich auf diese verheißene Weise fortsetzte: habe ich nicht manchen armen Juden übernachten lassen und keinen Pfennig dafür genommen? ihnen noch Fleisch und Brote mit auf den Weg gegeben? Vielleicht darf ich mir deshalb einen Platz im Paradiese auswählen – nicht neben einem der Größten in Israel, Rabbi Gamliel oder Jochanaan ben Sakkai, nein, da gibt es Würdigere, das weiß ich, aber einen Platz nicht weit von Rabbi Akiba Eger oder Jurkim, ruhig schmal, aber doch so, daß man sich beim Zuhören ein wenig strecken kann . . .
Nur in gehobenen Augenblicken waren das Joels Gedanken; im täglichen Leben lag übertriebene Heiligkeit 107 ihm nicht. Mit Wollust holte er gehenkten Burschen das Geld, das sie ihm schuldig blieben, aus der Tasche, wie selbstverständlich trennte er ihr Kleiderfutter auf, mit Begierde ließ er sie die Schuhe ausziehen. Aber nach geistiger Ergehung, nach einem Gespräch mit Jurkim, hatte er Vorstellungen von überirdischer Seligkeit.
Mitten in seinem Glück befiel ihn eines Tages eine schlimme Ahnung. »Warum hat Isaak Lurje«, hatte Tauber gefragt, »einen Fasttag zu Ende des Monats eingelegt? Sie wissen nicht. So wer' ich Ihnen sagen. Der Mond, das wissen Sie doch, ist abhängig von der Sonne, aber einmal wird ein Tag sein, heißt es, da wird er sein aus der Abhängigkeit befreit. Aber wann?« »Wann?« »Wenn Moschiach kommt.« »Wann kommt der schon?« »Ja, das frag ich Sie! Wie kann er kommen, wo die Juden ihn doch nicht lassen kommen? Versündigen sie sich nicht täglich? Schieben sie nicht mit jedem Tag seine Ankunft weiter hinaus? Beeinflußte ein Jude mit jeder Sünde nicht Sturm und Umschwung der Gestirne?« Joels Gedanken wurden trüber, vielleicht hatte auch er sich versündigt, wie leicht war man hingerissen, wie oft war er scharf im Eintreiben von Forderungen gewesen!
Die Ahnung war nicht grundlos. Frau Morduchowicz lieferte, einige Tage später, gerade Eier im Gasthof ab. Frau Joel, nicht beklommen wie ihr Mann, nahm eines in die Hand, beklopfte es, zurück! Frau Morduchowicz raste: bei dem Leben ihrer Kinder, bei dem ihrer Großmutter, sie lebte noch in Cernagora, keiner wußte, wie alt sie war, viele meinten, über hundert Jahre – alle sollten so gesund sein, wie diese Eier waren.
Frau Joel wünschte der Familie Morduchowicz das Allerbeste, »aber machen Sie was mit meinen Gästen! Wird einem schlecht, reden sich alle ein, sie sind vergiftet.«
Eine Probe – Frau Morduchowicz hielt das zurückgegebene Ei noch in der Hand. Frau Joel widersprach: »Was 108 wollen Sie? Bei einer frommen Frau wie Sie, kann ein schlechtes Ei inzwischen gut geworden sein!«
Aber Frau Morduchowicz gab nicht nach, der Dotter lief ihr über beide Hände, sie stöhnte, sie hatte die Probe kaum bestanden. »Ein zweites«, schrie sie, »ich schlag ein zweites auf.«
»Von mir aus können Sie alle aufschlagen, dann ist der Fall erledigt . . .«
Das war der Augenblick, in dem der Schutzmann Michalak in das Tor trat, unter dem sie standen, Frau Joel, Frau Morduchowicz, die Gaffer. Flüchtig legte er die weiß behandschuhte Hand an die Mütze und verlangte Herrn Lesser Joel. Er las den Namen von einem Zettel und sprach ihn ›Jöl‹. Frau Joel führte ihn zu ihrem Mann. Frau Morduchowicz mit ihren Körben kam, geführt von dem Hausdiener Esra Lachs, in die Küche.
Die mächtige, gedrungene Gestalt des Wachtmeisters steckte in einem knappen Uniformrock. Der unglückliche Besitzer des Gasthofes verglich die eigene bescheidene und spärliche Gestalt mit der Erscheinung dieses Mannes, der seinen Körper auf der Infanterieschule geübt und den Krieg in den vordersten Schützengräben mitgemacht hatte. Stirn, Nase und Kinn, alle drei verrieten Strenge, aber der von Gesundheit strotzende Körper ließ Freude am Genuß erraten.
Auf dem Podest des ersten Stockwerkes hatte Michalak einen Teil seiner Gala abgelegt. Er schwenkte den Handschuh und deutete mit ihm flüchtig auf eine dunkle Stelle an der Wand, die seine Aufmerksamkeit erregte. Aber er blickte wieder fort – merkwürdig, denn die Stelle verdiente durchaus, untersucht zu werden. Joel begann zu hoffen. Eben noch ohne Atem, erlaubte er dem Mund ein leichtes Lächeln, ohne daß der Körper schon seine untertänige Haltung aufgab.
Mit Vergnügen bemerkte Michalak die Veränderung. Einen geduckten Sünder abzustechen, machte keinen Spaß, das Messer mußte in eine schmetternde Kehle 109 stoßen. Er reckte sich, rieb den Hals in dem zu engen Kragen und zeigte mit geschwungenem Arm von neuem auf die Stelle: »Nun also los, was ist das?«
Joels Blick und Haltung wurden starr. »Eine kleine Unsauberkeit«, stotterte er.
Eine Frau kam die Treppe empor. Michalak machte geradezu Front vor ihr und sah ihr nach, bis die Kehre sie dem Blick entzog. »Donnerwetter!«, rief er, »eine schöne Person!«
»Schön? Gar kein Ausdruck«, fiel Joel ein, der verehrungswürdigen Frau voll Inbrunst dankbar, die in dem eisernen Mann wenigstens ein Gefühl geweckt hatte.
Aber der Wachtmeister wies jetzt wieder auf die Stelle.
»Eine Nachlässigkeit der Mädchen«, meinte Joel. Wahrscheinlich hatte ihnen seine Frau hundertmal gesagt, sie sollten . . .
»Ach was«, unterbrach ihn Michalak, »mit solchem Blödsinn sollten Sie mir nicht kommen! Ein Gewächs ist das!«
Joel sah ihn verständnislos an.
»Sie verstehen woll nicht, was das heißt«, fuhr der Wachtmeister los. »Sie wollen das woll erklärt bekommen?«
Joel blickte weniger dumm.
»Also wie kommt das weg?« fragte Michalak scharf.
»Ich werde ihn abwaschen lassen, den Fleck, fertig.«
Sie waren unglaublich töricht, diese Worte, die Stelle machte einen üblen Eindruck, offenbar hatte sich der Beamte ihretwegen herbemüht, man durfte seine Obliegenheit nicht mit einer Handbewegung abtun. In Michalak entstanden Zweifel, ob Joel seiner Sinne mächtig sei. Er schrie, nein, eigentlich hob er die Stimme nur, weil er bestimmter wurde:
»Mit einem bißchen Bimsstein meinen Sie und grüner Seife? Glauben Sie, ich suche hier die Wände nach Flöhen ab?«
Die Worte hallten durch das Haus, und das Geländer 110 wankte. Joel wies mit erhobenen Händen darauf hin, daß jedes Wort zu hören sei.
»Ich soll wohl piepsen?« war die Antwort, »mir die Stimme in den Magen schlagen? Das ist ungesund, verstehen Sie!«
In den oberen Stockwerken hingen die Köpfe und Hälse der Bewohner über dem Geländer. Joel zeigte hinauf.
»Weg da!« rief Michalak.
Wer nicht von selbst flüchtete, den verscheuchte Joel: »Psch! Psch!«
Schließlich erklärte der Schutzmann: »Im übrigen können alle hören, was wir sprechen. In längstens acht Tagen muß das Haus . . .« – er wollte deutlich werden.
Es war Joel klar: noch ein Wort, so stürmte alles aus den Kammern, um nicht unter den Trümmern begraben zu werden. Mehr tot als lebendig, flüsterte er: »Herr Wachtmeister, kein Wort weiter! Wollen Sie mich durchaus kaputt machen?«
Dem Wachtmeister blieb der Mund offen. Dieser Bursche unterstand sich . . .
Die Angst um den Untergang seines unvergleichlichen Gasthofs nahm Joel die Besinnung – oder gab sie ihm wieder. »Kein Wort weiter! sag ich. Sonst krieg ich fertig und mach Dummheiten und sag meiner Frau: lauf zum Präsidium! Ich bin bloß ein kleiner Mann, aber so klein nicht, und Sie können sich darauf verlassen, red ich erst, so pack ich aus, die Herren sollen hören, wie mit einem kleinen Mann umgesprungen wird.«
Michalaks Gesicht, immer rot, überzog sich dunkel, dunkelblau schwoll die Ader aus der Schläfe, ehern mahlten die Kiefer gegeneinander. Auch als sich die Ader beruhigte, sah der Kopf weiter aus wie scharf gebrüht. Joel hörte ihn Atem holen und dann mit mühsam wiedergefundener Sprache sagen: »Nun, dann werden die Herren endlich eine Ahnung kriegen, was für Beamte sie haben und wie sich unsereiner für sie zu Schanden macht . . . Und diese Kinkerlitzchen da, das muß weg, nicht 111 wahr! Mit einem Mal abwaschen ist das nicht getan . . . So, und nun wollen wir mal weitersteigen und sehen, ist da oben auch noch son Zeugs an der Wand oder nicht.«
Joels Hund kroch heran, ein Schäferhund, alt und mißfarben, auch leidend aussehend. Er lief im Kreis, wedelte und legte sich schließlich, von Joel aufgefordert, an Joels Stelle dem Wachtmeister zu Füßen. Der Wachtmeister fuhr ihm über den Rücken, um die Schnauze, und als das Tier wieder aufstand und die Treppe langsam hinabsetzte, Stufe um Stufe, sagte Michalak gemütlich: »Also gehen wir auch!« und plötzlich meinte er: hinunter! und nicht: hinauf!
Der Wachtmeister war gar kein so fürchterlicher Mann. Er ging sogar mit in die Schankstube, in der sich schon mit richtigem Gefühl Frau Joel eingefunden hatte.
Ihr Mann überließ ihr den Gast zunächst allein.
»Frau Spanier«, sagte Joel später, als er die schöne Frau hereinführte, »der Wachtmeister hat Sie vorhin auf der Treppe gesehen und ist einfach weg von Ihnen!«
»Aber, Mann, das brauchen Sie der Frau doch nicht ins Gesicht zu sagen!«
»Die Frau soll erst geboren werden, die das nicht hören will.«
»Aber so eine Frau! Die kriegt das den ganzen Tag gesagt und von ganz anderen Männern«, sagte der Wachtmeister und schob energisch das Glas zurück, das Joel hinstellte.
»Also fragen Sie sie selbst, sie muß's doch wissen. Frau Spanier, sagen Sie, ganz offen, ist Ihnen das nun unangenehm oder nicht, was der Herr Wachtmeister sagt?«
Frau Spanier lächelte.
»Also was heißt das?« fragte Joel den Wachtmeister, »Heißt das: angenehm oder heißt das: der Mann kann mir gestohlen bleiben?«
Während sie auf diese Weise die Blitze abbogen, hatten sich im Treppenhaus die Türen aufgetan und Dutzende herangedrängt. Packt zusammen! hinunter! schrien die 112 Verängstigten; ein Weib stürzte hinzu mit einem Koffer, alles wild durcheinandergestopft, und prallte nur an der Unbeweglichkeit der Menschenmauer ab.
Im Schlafrock, in warmen Schuhen erschien der ehrwürdige Bettler Abraham Fischmann und redete die Menge an: »Was ist schon? Ein bißchen Schwamm? Wahrscheinlich bin ich geboren in einem Haus mit Schwamm, ich wünsche jedem jüdischen Mann ein Haus mit Schwamm!« Er rechnete auf Heiterkeit; er fand keine.
Eisenberg tastete sich heran: »Das Bethaus will man einreißen?«
»Kein Stein werd sich hier angerührt!« gebot jemand. »Nischt werd eingerissen, kein Körnchen von ein Stein!«
»Und wenn sie wollen selbst«, schrie Eisenberg verzückt und heiser, »die Engel von Gottes Thron werden sich herumstellen und ihr Schwert wird sie niederschlagen, die Reschoim.«
Der Hausdiener Esra Lachs versuchte durch Zurufe Ordnung zu schaffen, aber er vergrößerte nur das Durcheinander. »Halt den Mund endlich!«
»Wenn ich das täte, verdient' ich, daß Joel mich an den Ohren nähm' und rausschmisse.«
»Wozu an den Ohren?« bekam er zur Antwort, »Er kann dich am Bart nehmen«, denn wie gewöhnlich hatte Esra Lachs ihn seit einer Woche nicht abgekratzt und sah aus, als ob man schon in den letzten Tagen der jährlichen Erinnerung an die Zerstörung des Tempels von Jerusalem hielte, jene Tage, in denen man den Bart zum Zeichen der Trauer stehenzulassen hatte.
In der Wirtsstube setzte Joel die Verhandlung fort. Wieso war er überhaupt hier, der Herr Wachtmeister? »Zehn Jahre ist kein Mensch nicht hier gewesen, noch zehn Jahre hätte ich Sie nicht gebraucht zu sehen!«
»Na, was glauben Sie, warum kommt man wohl?« 113 fragte der Wachtmeister bequem, die Augen halb geschlossen.
»Also weshalb?« fragte Joel. »Nun, irgend etwas muß doch vorliegen, von selbst ist doch nichts und wird doch nichts.«
»Eine Anzeige«, mischte sich Frau Joel ein.
»Sehen Sie, die Frau ist wieder mal die Klügere.«
Die Gerüchte griffen auf die Straße, in die Nachbarhäuser. Bethaus und Gasthof sollten abgerissen werden? Eine Angst wie vor dem Jüngsten Gericht, als donnere Gott und als fielen die Himmel ein, erfaßte alle. Auch Andersgläubige drängten hinzu. Vier Frauen, Scheuerfrauen der Polizeihauptunterkunft, der früheren Alexanderkaserne, berüchtigt wegen ihres Mundwerks, auf dem Heimweg begriffen, kamen, die Trümmer einer Mauer zu besichtigen, von der sie gehört hatten, sie sei eingestürzt vom Fraß. Schwere Enttäuschung – ein leichter Ausschlag. Machte nichts, sie blieben, man stand gut, zusammengepreßt. Von unten stießen neue Menschen nach, die vorn standen, fürchteten gegen die Wand gestoßen und zerdrückt zu werden.
In der Wirtschaft kam man wieder auf die Anzeige. Anonym? Der Wachtmeister versicherte, anonym nicht. Von wem? »Sie können uns doch sagen, welcher schmutzige Kerl diese verlogene Sudelei verbrochen hat.« Aber der Wachtmeister verriet kein Amtsgeheimnis. »Wer wird das schon gewesen sein?« fragte Joel seine Frau.
»Ein Feind«, sagte sie.
»Zu komische Namen gibt es bei euch« – das war das einzige Wort, zu dem der Wachtmeister sich entschloß.
»Weißt du, wer das sein wird?« sagte Joel seiner Frau: »Himmelweit!«
Eine Magd war erschienen. »Herr Joel, Sie werden so gut sein und kommen. Es geht alles drunter und drüber auf der Treppe!«
»Laß mich gehen!« sagte seine Frau und stand auf; die Magd folgte. 114
Man bahnte ihr den Weg. »Still, pscht! Sie will sprechen!« Aber die vier Scheuerfrauen lärmten. Junge Burschen, unterstützt von Esra Lachs, pufften die vier Aufsässigen die Treppe hinab. Es folgte ein Wutausbruch der vier: das sollten sie heimgezahlt bekommen, diese Drecklappen, die Polizei kam bald und sah die Pässe nach – das weitere verhallte draußen.
Frau Joel gab bekannt: nichts, eine gemeine Denunziation. Der Fleck? Mit einigen scharfen Putzmitteln zu beseitigen. Nicht die leiseste Gefahr, alle könnten wohnen bleiben, nur die Treppe bat sie freizumachen.
Wohnen bleiben? Die Männer sprachen Segenssprüche, eine Gruppe ging ins Bethaus, um dem ›Oiberschten‹, um Gott zu danken.
Die vier Scheuerfrauen standen auf der anderen Seite der Gasse und spuckten Wut; ein Auflauf bildete sich um sie. Bei einigen Schritten, um die Beine zu vertreten, kam Michalak dem Fenster der Wirtschaft nah. Sofort erhoben alle vier die Faust und schimpften.
»Herr Wachtmeister, das können Sie sich nicht gefallen lassen!« ermunterte Joel, der sich viel von einer Ansprache des Wachtmeisters versprach. Auch Frau Spanier äußerte ähnliches. Aber Michalak warf nicht den Riegel zurück, ergriff nicht die Handschuhe und sprach nicht mit feuerrotem Kopf zum Fenster hinaus: wenn ihr euch nicht fortschert, laß ich euch einstecken! Er schob nur die Halbgardine etwas beiseite und machte zu den Frauen eine Faust. Dann sprach er gelassen zu Joel: »Ich sitz da, da müßten die doch sehen, hier gibt's nichts und alles ist in schönster Ordnung.«
»Nun ja, es ist doch so«, sagte Michalak, wieder am Tisch, »warum bin ich denn sonst noch da? Ich will die Leute beruhigen. Wenn ich dächte, das Haus stürzt ein, dann setzte ich mich doch, weiß Gott, nicht ausgerechnet hierhin und ließe mir das Ganze auf den Kopp kommen.«
Joel behauptete, genau dasselbe habe er soeben seiner Frau gesagt: weshalb sitzt der Herr Wachtmeister noch 115 einen Augenblick? Nur, damit die Leute sich beruhigen.
»Und die Anzeige, Herr Wachtmeister, soll ich Ihnen sagen, von wem die ist?«
»I, wozu soll ich denn das wissen wollen, ich weiß das ja doch so schon.«
»Und doch sag ich's Ihnen«, und er nannte wieder den gleichen Namen wie vorher: Himmelweit.
»Ich sag nicht ja und ich sag nicht nein«, erklärte Michalak und zog mit derselben Entschiedenheit das Glas zu sich heran, mit der er es vorhin zurückgeschoben hatte.
»Na, und du?« sagte er zu dem Schäferhund, der beide Vordertatzen auf seinen Schenkel gestellt hatte.
Am Abend waren die Wirtschaften in der Gasse stark besucht, besonders die von Teich neben dem Gasthof. Sie war sehr schmal, kaum drei konnten in dem Schankraum hintereinander stehen; auch die Wohnräume der Familie waren besetzt, das Stübchen, der Alkoven, die Küche. In dem Alkoven arbeitete Frau Teich, eine sehr umfangreiche Frau mit einem schwammigen Gesicht, in der Küche ihre längst nicht ebenso üppige aber auch schon wohlversehene Tochter. Die Mutter trug ein locker fallendes Kleid, die Bluse der Tochter spannte sich umso fester, und ihr Gesicht war feuerrot wie ihre Bluse. Frau Teich schälte Kartoffeln, die Tochter rührte Erbsen und versetzte sie mit Pfeffer und Salz.
Frau Teich wurden Offenbarungen des Fleischers Schach zuteil. Er schrie seine Worte, obwohl Frau Teich Offenbarungen auch geflüstert verstand. Jetzt käme ihre große Zeit, verhieß er, der Gasthof würde abgerissen, schon lange fiele er auseinander, da scheffelten sie dann das ganze Geld. Für die Voraussage wollte er Erbsen und Kartoffeln umsonst, aber umsonst gab es nichts, der Kellner, ein rascher junger Mann, auf dem weißen Jackett die Spuren der letzten Tage, ein schwarzes Käppchen auf dem Kopf, ein großes rosiges Pflaster im Gesicht, setzte 116 die Gerichte hin, aber er kassierte auch sogleich, zehn Pfennig die Portion Erbsen, fünf die Portion Kartoffeln.
Den Schankraum beherrschte von der Theke Herr Schmarja Teich. Er war hochgewachsen, mit breiten Schultern, und steckte in einem grauen Schoßrock. Ein blonder, reicher Vollbart verkleidete das Gesicht, eine goldene Brille gab ihm Würde, und die Kleidung vollendete, nach hinten gerückt auf das volle Haar, eine graue, wohlerhaltene Kappe. Der einzig Nüchterne, bediente er lauter ausgelassene Gäste. Keiner brachte einen Scherz zu Ende, immer wurde er unterbrochen und ein anderer erzählte weiter. Bei einem gar zu alten Scherz fiel die ganze Rotte ein und rief den Schluß im Chor. Ein Witz fing an: ein Mann war sechzig und kam zum Rabbiner, um sich scheiden zu lassen. Was wollt Ihr Euch scheiden lassen? Zweiundvierzig Jahre seid ihr zusammen, und jetzt – die ganze Menge rief: vorher ging's nicht vor der Welt, die Kinder mußten erst verheiratet sein – aber das hatte Adam schon seiner Frau erzählt! Oder: ein Heiratsvermittler sagte einem jungen Mann: ich hab ein Mädchen für Sie – pscht! Den Fehler hat sie, muß ich Ihnen sagen . . . Macht nischt! . . . Und dann hat sie den Fehler . . . Macht nischt! – Zehn schrien: »Wirst du still sein! Anständigen Juden so was zu erzählen!«
»Das hat man schon gekannt, als Schalom Waal für einen Tag König von Polen war.«
»Stammst du auch von ihm?«
»Denkst du nein?«
»Also lauter Prinzen und Prinzessinnen!«
»Warum nicht! Sollen bloß jene welche haben?«
»Was für ein Unterschied ist zwischen Lenin und Stalin?« fragte jemand.
»Ich weiß nicht«, sagte ein junger Mensch.
»Er wird nicht mal wissen, wer Stalin ist!«
»Nun, und –?«
»Also gar kein Unterschied ist. Der ist kein Jude und jener ist kein Jude.« 117
»Wenn du so willst, kannst du so auch von Hindenburg und Ludendorff sagen.«
»Nein, das kann ich nicht. Zwischen den beiden ist ein Unterschied. Hat nicht Ludendorff im Weltkrieg seinen Aufruf erlassen: An meine liebe Jiden in Paulen! und Hindenburg nicht?«
»Aber dafür denken jetzt beide umgekehrt, Hindenburg für, Ludendorff gegen die Juden . . .«
Den Kasten mit Kram um den Nacken, schob sich Tauber zwischen sie. »Josef«, sagte er einem Tischler, »hier hast du eine Nadel und einen feinen schwarzen Faden, nimm, laß dir von der Frau das Loch im Ärmel zunähen.«
Der Tabakhändler Macholl sprach über ihn hinweg: »Wenn nicht Joel, sondern ein Christ den Gasthof gehabt hätt – was meint ihr? gar keiner wär gekommen«, und er ballte die Faust. Tauber lächelte.
»Was ist zu lachen? Ist lächerlich, was ich sag?«
»Wie werd ich sagen, es ist was lächerlich, was Ihr sagt? Ich maß nur Eiere Hand! Ihr machtet gerade eine Faust und ich wollte sehen, vielleicht hab ich ein Paar Socken da für Eiere Füß.«
»Und wenn Ihr hättet, ich kaufte doch nischt.«
»Wer sagt, Ihr sollt kaufen? Aber ich kann doch immer messen.«
Schließlich setzte er ein Paar Socken ab, drei Rollen Garn, ein Heft Nadeln – ein Kaufmann aus der Klosterstraße ließ sie ihm zu einem Vorzugspreis; hiervon und von Pfennigen, die aus einer Stiftung tröpfelten, lebte er – denn was konnten die beiden Schwägerinnen geben? In der Küche bekam er von Fräulein Teich eine Schüssel Erbsen, ach, wenn er doch vergaß, zu zahlen! Aber, nein, umgekehrt, er steckte ihr noch ein feuriges Tüchlein in den Gürtel und tätschelte ihre Wange, die sie zurückzog – sie hatte auf ihren Ruf zu achten.
Ein armer Teufel, noch nie im Besitz einer ganzen Flasche Sprit, nahm eine Literflasche in die Hand und ließ 118 sie fallen. Mit Hallo sprangen alle zurück, so spritzte der Schnaps und sprühte das Glas nach allen Seiten. Ohne sich zu besinnen, hob der Mann den Flaschenboden auf und leckte den Rest aus, wenn auch vorsichtig, daß er sich nicht schnitt. Wer zahlte? Die Menge schrie: Teich! Ein einziger rief: »Die Hälfte Teich, die Hälfte wir!«
Teich ergab sich: wenn ein ganzes Heer gegen ein Städtel anrückt, was will das Städtel machen?
Auch bei Salomon war der Raum gefüllt von aufgeregten und dampfenden Gestalten. Sämtliche Neigen Schnaps wurden geleert, und Frau Salomon brach auf, um neuen Schnaps mit Geld und guten Worten aufzutreiben. »Geh langsam, Blümchen«, sagte Salomon. »Streng dich nicht an, mein Leben, nimm dir einen Jungen, laß ihn die Flasche tragen!«
Vor ihr ging unter der wimmernden Schelle ein bärtiger Mann hinaus.
»Was geht er schon?« fragt einer.
»Sie wissen nicht, sein Vater ist ihm doch gestorben.«
»Ja, vor einem und einem halben Jahr und mit zweiundneunzig!«
»Machen Sie was mit ihm! Er grämt sich.«
Frau Salomon sprach ihn draußen an: »Und wenn Eltern hundert werden – wenn sie weggehen, ist es, als ob sie dreißig sind.«
»Müssen sie überhaupt weggehen? Es gab eine Stadt, Luss hieß sie, da lebten sie ewig. Aber es ist lange her.«
Er seufzte.
Vor dem Einbruch der Nacht verließ Himmelweit das Haus. Die Magd war hinaufgelaufen und wieder geflohen, nachdem sie atemlos hervorgestoßen hatte: »Immer habe ich gewußt, so weit wird es mit Ihnen kommen.«
Er stürzte ihr nach: »Wie weit kommen?«
»Bis zu der Anzeige!« sagte sie mit einem warmen Blick.
Himmelweit fühlte sofort: dieses Gerücht war für ihn verderblich. Vielleicht hatte Joel selbst es aufgebracht, Joel 119 wollte ihm nicht wohl. Er galt nichts in der Gasse. Erst dieser Tage sprachen Männer von ihm verächtlich, er stand zwei Schritte ab. Einer sagte aus einem langen Bart: »Wissen Sie, wo Sie diesen Himmelweit finden können? Am Alexanderplatz.«
»Was tut er am Alexanderplatz?« fragte der andere aus einem Bart, ebenso lang, nur stand der Bart schräg nach vorn. »Was er da tut? Nichts tut er.«
»Also wozu steht er da?«
»Wozu? Weil er meint, auf eine Weise, ich weiß nicht welche, werden von einem Geschäft ein paar Pfennige für ihn abfallen. Ich werde Ihnen sagen, was man sollte: den Burschen nehmen und ihn rausschmeißen! Das sind die Leute, die man uns vorwirft und für die man uns dann Schwierigkeiten macht!«
»Die Schwierigkeiten hätten wir auch so, Schlechte gibt es hier wie dort – nur, wer spricht bei jenen von den Schlechten?«
Schlecht fand ihn also der eine wie der andere. Er hätte hervortreten sollen und rufen: »Warum reden Sie? Was habe ich Ihnen getan? Ich seh nicht gut aus? Darüber kann man verschiedener Meinung sein. Meine Manieren sind nicht besonders? Mir gefallen Ihre nicht. Vielleicht habe ich einige nicht ganz saubere Geschäfte gemacht, als ich nichts zu beißen hatte. Aber ich habe aufgehört damit, es liegt mir nicht, es bringt auch nichts ein, man wird bloß von anderen, die geriebener sind, hochgenommen. Warum gefallen andere, und ich kann anstellen, was ich will, ich mißfalle immer?« Er hätte das sagen können, wenn er zwei Schritte vorgetreten wäre, aber er tat es nicht.
Zwei Mark auf den Tisch für Joel und dann Adieu! Welcher Irrsinn, in einer Kammer zu schlafen zwischen uralten Juden, die sämtlich verrückt waren, man wußte bloß nicht, wer am meisten: Fischmann, London oder Eisenberg. Gestern verriet ein einziges Wort das ganze Modrige dieser Leichen. 120
»Bin ich unlustig«, quäkte London mit einem Rest von Stimme, »tu ich ein Bein zum Bett raus, frier ich, dann zieh ich's zurück.«
»Wozu stecken Sie es dann erst heraus?«
»Wozu? Weil ich mir dann sag, wieviel besser hast du's doch, daß du hier liegen kannst, wo du's warm hast, als daß du auf bist, wo es kalt ist.«
Was mußten solche alten Leute noch auf der Welt sein? dachte Himmelweit. Ein Stück Brot nahm jeder Alte täglich einem Jungen weg.
Als beste Antwort für Joel erschien ihm ein Quartier gegenüber. Kein Jude wohnte dort; jeder mied das gelbe Haus, mied es wie die Pest; nur im Torgang saßen die armen Tierchen, die beiden Schwägerinnen, und machten sozusagen ihr Geschäft. Ja, er zog hinein, nun erst recht, aber er zog zu keiner Dirne, das nicht; der feinsten Frau im Haus, Frau Dippe, gestattete er, ihn in ihre freigewordene Kammer aufzunehmen.
Frau Turkeltaub hatte um seinetwillen einen Streit mit ihrer Nichte. Wären nicht drei zu ihnen gezogen, dann konnte jetzt Himmelweit hier schlafen. Aber nach Frajim, nach Noah mußte Seraphim kommen, dieses Nichts, dieses Menschchen. Was tat er? Mit der einen Hand faßte er die Leute an den Knopf, bis er ihn abgedreht, mit der anderen schwätzte er die Wolken vom Himmel. Es gab gar nicht soviel, wie sie falsch machten, das durften sie nicht und jen's nicht, aber er würde ihnen sagen, und wenn sie erst anfingen, es so zu machen, wie er meinte, dann – »Nun sag mir aber bloß, wovon lebt der Schwätzer? Zahlt er dir Miete? Zahlt er das Essen? Siehst du, ich denk mir schon lange, da ist ein Häkchen . . . Aber Himmelweit, den ganzen Tag auf den Beinen, wo muß er hinziehen? Zu jenem Weib! Gott behüte, was er sich für Krankheiten holen kann in dem Haus! Und zu dieser übergeschnappten Person. Ich hab ihr neulich nachgesehen auf der Straße – willst du wissen, wie sie geht? Nimm dir eine Ziege und hack ihr ab die Vorderbeine, dann 121 weißt du, was dieses Stück von einem Frauenzimmer gehen nennt. Aber erst kommen dir die beiden Jungen, dann kommt dir Seraphim, und für Himmelweit, da ist das Herz steinhart!«
Als der Tante der Atem ausgegangen war, sagte Frau Warszawski: »Laß mich auch ein bißchen leben.«
Sofort bekam die Tante frischen Atem: »Ich laß dir nischt?« sagte sie empört. »Ich laß jeden leben, und ich soll dir nischt lassen? Aber der Junge tut mir leid«, und sie dachte an Geschichten, die er ihr erzählte. Ja, er kam oft zu ihr und berichtete. Einem mußte er erzählen, und sie entzündete sich an den Berichten. Nicht immer hatte er Erzählenswertes, aber dann erfand er. Die Tante war für Streiche, war für Niederträchtigkeiten eingenommen; denn sie war eine böse Frau, der es an Gelegenheit fehlte, ihr Gift zu verspritzen. Also erfand er Streiche, erfand er Niederträchtigkeiten und machte die alte Frau auf ihre Weise glücklich. Sie hatte bald nur noch einen Wunsch, ach, wäre doch Himmelweit ihr Sohn! Sie wäre eine weit bessere Mutter für ihn gewesen als seine eigene, die Schlampe, die seinem Vater davongelaufen war – ein Verbrechen!
»Er braucht dir nicht gar so leid zu tun«, sagte Frau Warszawski.
»Was braucht er mir nicht? Ein Äpfelchen von einem Jungen! Und du sagst, er braucht mir nicht? Jenny, was ist mit dir, du bist mir doch gar nicht mehr dieselbe!«
»Ich bin es schon«, sagte Frau Warszawski bescheiden.
»Du willst sagen, du ja, ich nein? Nun ja, wenn einem alles weggestorben ist, wenn man gar nischt mehr hat, kein Kind, keinen Schwiegersohn, kein Nischt – was muß man mit achtundsiebenzig überhaupt noch auf der Welt sein? Ich will mich nischt versündigen, aber Gott, sein Name sei gepriesen, wahrhaftig, er hat mich vergessen auf der Welt. Was heißt, eine Mutter soll leben länger als wie ihre Kinder?« 122
Und nachdem sie das gesagt hatte, wogegen es keinen Widerspruch gab, zog sie ein Tuch vor die Augen und ging ab. Ihr Weg führte in die Küche, wo sie etwas zur Stärkung zu sich nahm, ein Stückchen Apfel. Sehr bald fühlte sie: unberufen, was für eine Kraft ist doch in so einer Frucht! 123