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Frau Spanier ertrug es in der Kammer nicht, es zog sie auf die Gasse. Die Häuserzeile hinab war es noch hell. Noch ließ sich die stumpfe, von Güssen abgewaschene Farbe sehen, noch in dem abgeblätterten Verputz ein Teil der tausend Risse, ein Teil der kahlgefressenen Stellen. Schwere Stiefel stampften krachend auf dem Pflaster und zertraten die harten Mörtelteilchen, die täglich auf die Simse wehten und die der Wind dann rasch hinunterblies.
Frau Spanier stieß nicht das graue bedrückende Gemäuer ab, nicht die Regelmäßigkeit der ohne Gefühl geformten Fenster. Sie sah nicht – nicht zu sehen, das war ein Mittel, das Elend dieser Häuser zu ertragen. Aber wie das Abstoßende, bemerkte sie auch nicht die Farbe, die vor der Dämmerung in die Gasse wischte, den zarten Schein, mit dem der Tag durch den Spalt der Dächer fiel, bevor er unterging. Gleich wird's dunkel sein, das war das einzige, was sie dachte. Sput dich, dachten andere, daß die feine Arbeit fertig wird; ist es duster, kannst du bloß die grobe anfassen. Von einigen Wohnungen im ersten Stock rühmten die Vermieter die Laterne vor dem Haus, in deren Licht sich länger am Fenster häkeln und nähen ließ. Für die Juden brachte die Dämmerung noch eine ernste Pflicht: wer nicht früher sein unirdisches Teil bedacht hatte, ließ nunmehr alles stehen und liegen und stellte sich zum zweiten Gebet an die Wand – dem dritten widmete er sich erst nach Einbruch der Nacht, mit der für ihn der neue Tag begann.
Ein Trödler schleppte sich an einem Packen ab: »Nennt sich Leben«, hauchte er mit letzter Kraft. Ein 124 Handwerker trug auf seiner Schulter eine Blechwanne und rief über die freie Schulter weg Frau Spanier zu: »Komische Leute gibt's bei euch!«
»Wieso?«
»Stoßen mit einer Schere durch die Wanne, bis sie aufreißt!«
»Was reißt nicht heutzutage?« mischte sich ein Alter ein, »alles reißt. Wolle reißt, Eisen reißt, morgen reißt man hier das Pflaster auf!«
»Und übermorgen reißt man die Häuser ab«, rief ein dritter.
»Nicht immer klüger sein wollen wie die anderen! Abwarten! Abwarten!« mahnte ein Mann, der sein Gleichgewicht bewahrt hatte.
Plötzlich stand Monasch vor ihr. »Sie sehen einen?« fragte er, als sie nicht auswich.
»Seh ich Sie nicht immer?«
»Das mein ich gerade.«
»Nein, nicht so, wie Sie denken.«
»Lassen Sie nur, ich weiß, Sie mögen mich nicht leiden.«
»Darum steh ich hier?«
»Heint stehen Sie, morgen . . .«
»Aber, wie geht's Ihnen denn?« wandte sie sich zu einer Frau, die mit einem Korb voll Wäsche vorüberkam.
»Wie soll's gehen? Halbwegs.«
»Ganz schönes Portiönchen Arbeit da.«
»Wenn man bloß immer soviel hätte!«
Frau Spanier ging voll Unruhe weiter. Vor ihr schritten Eisenberg und Schach. Hartnäckig redete Eisenberg auf den Fleischer ein: »Ziehen Sie in das Haus, hören Sie darauf, was ich Ihnen sage, nehm' Sie es, ich rat Ihnen gut.«
»Wie, sagten Sie, hieß die Straße?«
»Zu den Terebinthen.«
»Und wo soll sie liegen?«
»Zwischen der Straße Tubal Kajin und der Straße zu der Witwe von Jehuda.« 125
»Gute Gegend?«
»Würde ich sie Ihnen sonst empfehlen?« Ein Bethaus ganz nah, von den Lwows gestiftet; die Leiche Jonas, des Propheten, vorläufig flüchtig neben den Trümmern von Ninive beigesetzt, würde demnächst nicht weit davon bestattet werden. Bekam Jona einen Walfisch auf das Grab? Eisenberg überhörte die Frage und schilderte den Park, der sich an die Straße schloß, alles Lorbeerbüsche und Olivenbäume. »Also nochmals, wo lag die Straße?« Geduldig wiederholte Eisenberg: zwischen der Straße zur Witwe von Jehuda und . . .
Abgelehnt – Schach zog nicht in die Nähe einer Straße, die zu Ehren einer zweifelhaften Witwe hieß. War Jehuda nicht Jakobs Sohn? War sie nicht die Frau, die nach seinem Tode am Kreuzweg wartete auf ihren Schwiegervater und von ihm empfing? Waren diese Juden in Jerusalem ohne Verstand, eine Straße nach einer solchen Frau zu benennen? Eisenberg ergrimmte: wenn noch er die Frau getadelt hätte, er war ein alter Mann, aber Schach? ein Mann in den besten Jahren? ein gesunder, ein lediger Mann? Hatte er nie über die Not einer Witwe nachgedacht? Wenn unser Erzvater eins mit ihr wurde, hatte er dann nicht seine Tat zuvor erwogen? Offenbar war er doch der Meinung, seine Schwiegertochter war gut beraten in ihrer Einfalt, als sie sich an ihn wandte; in ihrer Bedrängnis hätte sie gehen können zu wem sie wollte, jeder hätte sich bereit gefunden, denn wie schön muß sie gewesen sein, hätte Juda sie sonst zur Frau genommen, Juda, von dem es hieß, Juda ist wie ein Löwe? Wenn sie nicht zu einem Fremden ging, sondern zu ihm, einem alten Mann, lange schon gebrechlich, gewiß alles andere als begehrenswert, so doch offenbar, um den Verstorbenen vor der Schande zu bewahren, daß sie sich einem Fremden hingab. Wie heißt es, wenn der Vater dem Sohne schenkt, lachen, wenn der Sohn dem Vater schenkt, weinen beide. Eisenbergs Worte verwirrten sich, wer weinte, wer lachte hier, denn wer beschenkte, Vater oder Sohn? 126
Frau Spanier ging an den Männern vorbei, für sie waren das heute keine Gespräche. Auch verdroß sie die Unart Schachs, des ehrwürdigen Mannes und seiner Einbildungen zu spotten. Noch weiter der alten Unruhe voll, lief sie durch die Gasse und stieg schließlich wieder in ihre Kammer. Hier machte sie sich zu schaffen, sah auf den Uhrzeiger, und bald schwamm auf einer feinen Ölschicht in einem Glas ein schmales Licht. Sie hatte es zu Ehren ihres Vaters angezündet, dessen Todestag mit Eintritt der Dunkelheit wiederkehrte. Das kleine Licht knisterte, und ab und zu sprühte es ein Fünkchen in den nur knapp erhellten Raum.
Sie – ja, aber warum waren ihre Töchter ebenso erregt? Mit einer Leidenschaft, die nicht bloß Tochterliebe war, umschlangen sie die Mutter, als sie nach Hause kamen.
Auf dem verschlissenen Sofa, das aufseufzte unter ihrer Fülle, bettete sie die eine Tochter rechts, die andere links an ihre Brust.
»Gleich so aufgeregt?« tadelte sie die jüngere.
»Ich fürcht mich so«, stöhnte Franja.
»Aber du brauchst dich nicht zu fürchten.«
»Ich hab einen Buckligen gesehen.«
»Siehst du ihn nicht täglich, den Kleiderhändler Schaum? Wie kannst du vor ihm erschrecken?«
»Es war nicht Schaum, Mutter, ein anderer Buckliger, ich hatt ihn nie gesehen.«
»Ein zweiter Buckliger? Da fürcht sich jeder das erste Mal – bloß einer nicht, der freut sich: ein anderer Buckliger.«
»Kann ein Buckliger seinen Buckel abschneiden?« erkundigte sich Franja.
»Nein, mein Kind, dabei würde er zugrunde gehen.«
Bei ihnen zu Hause kannte man ein Mittel: Eichenblätter kaufen, sie in einem alten Krug mit Bier zerkochen, zwei Monate jeden Abend den Buckel damit abreiben. Aber sie zweifelte, ob es half; übrigens wollten viele Bucklige ihren Buckel gar nicht loswerden. 127
»Mutter«, sagte die ältere, Liebe, »immerzu denkt sich Franja häßliche Geschichten aus. Sag ihr, sie soll das nicht.«
Franja widersprach heftig: »Ich hab mir nichts ausgedacht, ich hab den Mann gesehen!«
»Ich bleib dabei, sie hat nicht. Wenn ich mir was ausdenke, muß es was Schönes sein. Ich denk immer zuerst an eine Geschichte, die ich kenne.«
»Woher hast du sie?«
»Von Frau Warszawski.«
»Und wie geht sie?«
»Soll ich dir erzählen? Vor der Geburt eines großen Rabbis ging seine Mutter durch eine schmale Gasse. Da kamen ihr zwei Reiter entgegen. Sie dachte: sie reiten mich nieder und preßte sich an die Mauer; aber gerade als das eine Pferd sie schon berührte, gab die Mauer nach und bildete eine Nische. Schön, Mutter, nicht? Ob sie auch wahr ist?«
»Natürlich ist sie wahr, warum erzählt man sie sonst?«
»Glaubst du, Mutter, wenn ich einmal so weit sein werde und es kommen Reiter, glaubst du, die Mauer wird auch zurückgehen?«
»Wenn du fromm bist und einen großen Mann zur Welt bringst.«
»Und wenn es eine Tochter ist?« fragte Franja dazwischen.
»Wenn ein Mädchen geboren wird«, erwiderte die Mutter, aber der Ausdruck ihrer Augen war ungewiß, »dann weinen die Wände.«
»Haben sie auch geweint, als ich geboren wurde«, fragte die ältere, Liebe.
»Aber selbstverständlich haben sie geweint, und als Franja geboren wurde, noch viel mehr, aber am allermeisten geweint hat Franja selbst, offenbar hat sie ein Junge werden wollen.«
»Ich fürcht mich noch immer«, wimmerte Franja in einem Ton, der die Wahrheit ihrer Erzählung bestätigen 128 und ihr das Recht verschaffen sollte, sich näher als die Schwester in die Mutter einzuschmiegen.
»So, du fürchtest dich noch immer«, sagte die Mutter. »Nun, dann zeig einmal her, sicher muß man dir die Nägel schneiden, das beruhigt!« und bei dem Schein des Lichtchens schnitt sie der dauernd Fortstrebenden die furchterregenden Nägel. Die Finger waren noch ganz zart, kein Finger hatte eine Falte, bloß der Daumen eine einzige. Sie schnitt in der vorgeschriebenen Folge: erst kam der Daumen, dann der Mittel-, dann der kleine Finger, alsdann sein Nachbar, zuletzt der Zeigefinger – links so, rechts so.
Vorher war ein Zeitungsblatt ausgebreitet worden. »Franja, falt zusammen, nimm ein Streichholz, verbrenn das schön im Ofen!« Aber der Bogen fiel Franja aus der Hand und sie war nicht zu bewegen, die Abfälle wieder auf den Bogen zu sammeln, so daß die Mutter zornig wurde. Da gehorchte sie endlich, aber nun wollte die Mutter, aus der Ruhe gebracht, die Töchter nicht länger um sich haben. »Geht hinunter! Tummelt euch!«
»Und du?«
»Mich laßt, ich hab zu denken.«
Sie folgten unwillig, sie hatten sich etwas früher bei ihren Herrinnen freigemacht, um die Mutter an diesem Abend nicht allein zu lassen.
Aber Frau Spanier wollte ohne sie die Welt von früher beschwören, die Welt ihres Vaters. »Ich will sie ganz stark beschwören, um nicht an das andere zu denken, das mir seit einiger Zeit immer den Kopf benimmt.«
Die Welt von früher . . . Jetzt lächelte man darüber, aber einmal, da war das alles, ach, so schwer, ach, so traurig. An was erinnere ich mich am besten, daß ich mich gut erinnere, um ganz mit meinem armen Vater eins zu werden, so als säße ich noch in der Ecke, als stünde er am Fenster, als sähe er hinaus, trällerte oder spräche vor sich hin und wüßte gar nicht, daß ich im Zimmer bin? Ja, ich werde an die Kämpfe mit dem Rabbiner denken, 129 mein armer Vater litt so unter ihnen, jede Partei wollte ihn für sich gewinnen, und am Ende ging das alles so bitter aus.
Ihrer Heimat hatten die Gänse einen großen Ruf verschafft. Sie wurden vorzüglich gemästet, und der Handel ging sehr weit. Auch die Juden mästeten, vor allem aber kauften sie Gänse von den Bauern. Der Rabbiner hatte die Zweifel zu entscheiden, die die Religion erhob: durfte man diese Gans genießen, obwohl ein Steinchen in ihrem Schlunde steckte? Einer anderen Gans hatte der Schächter die Speiseröhre mit der Luftröhre zugleich durchschnitten – war ihr Genuß erlaubt? Einer Gemeinde, die von der Aufzucht von Gänsen lebte, hätte ein kluger Rabbiner die Gesetze mit Selbstbeschränkung ausgelegt, in unsicheren Fällen zugunsten der Genießbarkeit entschieden, denn eine beanstandete Gans konnte kein Jude einem anderen abnehmen, der Andersgläubige aber zahlte wenig, er erkannte den Notverkauf. Der Rabbiner Chiskija Ploczower hatte lange Jahre die hier gebotene Vernunft geübt, gerade unter seiner Herrschaft hatte sich der Handel kräftig ausgebreitet, man war mit seinem Regiment zufrieden, als ihn eines Tages die Sehnsucht überkam nach einem Traum, eine Sehnsucht, die bei Naturen mit starker Hinneigung zu unirdischen Dingen geradezu leidenschaftlich werden kann. Er hatte eine finstere Stube mit wenig Sonne – nun wollte er einen Traum haben, in dem es nicht von einer, sondern von vielen Sonnen glänzte, das Paradies selber sollte ihm im Traum erscheinen. Er besuchte die Gräber frommer Männer, insbesondere die seiner gelehrten und verdienten Vorgänger, ein Mittel, das man häufig anwandte, um gute Träume zu bekommen, und eines Nachts erschien ihm wirklich im Traum das Paradies. Er sah alle Wunder der sieben Himmel, ein Himmel wollte einstürzen, aber ein frommer Rabbi machte die Hand auf und hielt den sinkenden Himmel fest. Rabbi Chiskija Ploczower lustwandelte auf schönen Wegen, in stolzen Hainen, aber wie er sich erging, 130 fand er unversehens eine offene Halle, rings umstanden von hohen Nußbäumen, und vor vielen Hunderten von Schülern, lauter bartlosen jungen Leuten, seinen Lehrer. Er trug gerade die Speisegesetze vor und bemerkte nicht, daß sein alter Schüler sich unter die jungen mischte und ziemlich vorne Platz nahm, in der Hoffnung, erkannt zu werden. Aber er wurde nicht erkannt. Der Lehrer ermahnte vielmehr die Jünger, streng zu sein, unnachsichtig zu entscheiden, unabhängig, nicht wie Rabbi Chiskija Ploczower, der sogar in seiner Gemeinde das zu essen erlaubte, was nicht zu verbieten ein Verbrechen sei.
Ohne Laut stahl sich Rabbi Chiskija aus der Halle und von nun an ging eine Veränderung mit ihm vor. Er holte einer Gans die Eingeweide aus der Höhle, spreitete sie langsam auf den Tisch, ließ prüfend die blutigen Schnüre durch die Hand gehen, schlug in einem großen Buche nach; aber kaum hatte die Frau, die ihn befragt, auf sein Geheiß die Eingeweide zurückgepackt, als ihn Gewissensnot befiel, abermals nahm er die Eingeweide heraus, wieder untersuchte er, und nunmehr fand er eine aufgetriebene Stelle – unrein! An einem einzigen Tag wurden nicht weniger als zwölf Gänse von ihm wertlos gemacht. Die gesamte Judenschaft empörte sich, nicht die Handelswelt allein, auch die Hausfrauen, denn jede nudelte auf dem Boden, im Keller oder auf dem Hofe zum wenigsten eine, wenn nicht zwei Gänse.
Zu Rabbi Chiskija hielten die Stark- und Starrgläubigen, auch ihr Vater – Rabbi Chiskija erschuf ja nicht die Gänse, er sagte nur, was Gott von den Gänsen dachte und was er von ihrer Eignung für den jüdischen Magen hielt. Aber nachdem die Juden des Städtchens einmal in Aufruhr gebracht und in zwei Lager zerfallen waren, kam es zu dauernden Fehden, zu Anschuldigungen, zu Briefen, unterschrieben: ›Einer für viele‹ oder ›Jemand für Recht‹, zu einem schleichenden, zähen giftigen Kampf. Rabbi Chiskija selbst wurde nicht geschont, er bekam Briefe in Fülle, die ihn verletzten, erregten. Ging er zu 131 weit? Noch einmal ließ er sich seinen Lehrer im Traum erscheinen. Dieses Mal unterhielt sich der Lehrer offen mit dem geläuterten Rabbi Chiskija Ploczower. Aber er fand ihn auch jetzt noch nachgiebig und nicht eines Platzes im Paradies würdig neben den großen und frommen Männern der Vergangenheit. Chiskija wurde nochmals strenger und verschärfte dadurch den schon vorher so schweren Kampf. Boshaftigkeit, Gemeinheit, Niedertracht, ein übles Gehabe und Gemächte überwucherte nun alles und zermürbte selbst die einfachste menschliche Beziehung. In einer zuvor friedlichen, hinten, weitab in der Welt gelegenen Gemeinde spann man Ränke, stellte nach, beschlich – Banden in einem Kleinkrieg gleich, der die Geschlechter überdauern und länger als ein Jahrhundert währen soll. Mein armer Vater, dachte Frau Spanier, sagte sich damals von dem Rabbiner los, aber so berühmt er war wegen seiner Stimme, verleumderische Briefe langten auch bei ihm ein, verdächtigen lassen mußte er sich täglich.
Einige Jahre später verließ Rabbi Chiskija abgemagert, zermürbt, verfiebert das Städtchen, einer der wenigen, die sich je von seinem Zauber losgemacht. Er glaubte, Zusagen einer anderen Gemeinde zu besitzen, aber die Hausväter von Zamosze dachten nicht daran, an die Spitze ihrer Gemeinde einen Rabbiner zu setzen, der schon eine Gemeinde unglücklich gemacht. So wurde die Niederlassung in Zamosze eine Enttäuschung, und am Leben erhielten Rabbi Chiskija spärliche Zuwendungen einiger Anhänger und etwas Unterricht. Er lebte wie in der Verbannung. Was ihn besonders leiden machte, waren Zweifel: hatte ihn im Traum sein Lehrer richtig unterwiesen?
Sein gänzlicher Verfall kam rasch. Einem fremden Rabbiner werden in jeder Gemeinde die vollen Ehren erwiesen. Aber seine Gegner griffen nach Zamosze hinüber, und so fiel ein Ehrenbeweis nach dem anderen fort. Zu den Vorlesungen aus den Büchern der Heiligen Schrift 132 wurde er bald nur als fünfter oder sechster aufgerufen statt als dritter oder vierter, dann nur noch in größeren Abständen, und das letzte Mal rief man ihn überhaupt nicht mehr zur Vorlesung selbst, sondern, eine Herausforderung sondergleichen, zu dem geringeren Geschäft, die heiligen Pergamentrollen aufzuheben und zu halten, während ein zweiter ein Leintuch herumschlägt, ihnen das Samtkleid überzieht und dabei silberne, klingelnde Aufputze ansteckt. Als man ihn aufrief, nahm er sich vor: ich folge nicht; wenn ich nicht vor Schande vergehen soll, darf ich nicht folgen. Aber da ein Stillstand durch ihn eintrat, da sich alles in der Synagoge nach ihm umblickte, da der Diener auf ihn zutrat und ihn erinnerte, stieg er in das abgeteilte Viereck, in dem dieses heilige Geschäft zu erfüllen war; er wollte das Ansehen des Gottesdienstes nicht herabwürdigen. Mit kraftlosen Armen hob er die Rollen auf, sie wankten in seiner Hand, er mußte gestützt werden. Nach einigen Schritten zurück, setzte er sich ohnmächtig auf die Bank im Viereck. Der mit ihm zusammen aufgerufene, den man aus Bosheit gewählt hatte – er war von besonders niedrigem Stand – hantierte nach der Vorschrift; da, in dem unwürdigsten Augenblick seines Lebens, kam Rabbi Chiskija ein Wort in den Sinn, das er in seinen Kämpfen nie, aber auch nicht hinterher im Exil bedacht hatte, ein Wort von Rabbi Moische Chefez, eines Rabbiners aus Zawusch, eines armseligen Menschen, Gegenstand des allgemeinen Spottes. Wie hatte Moische Chefez gerechnet, als er vorhatte, aus seiner Gemeinde Zawusch fortzugehen und Rabbiner der viel größeren, berühmteren, aber auch reicheren Gemeinde Pinsk zu werden? Wenn die Zawuscher, sagte Rabbi Chefez in seiner Einfalt, mich nicht gerne sehen in Zawusch, aber doch nach Pinsk wünschen, um wieviel mehr müssen mich erst die Pinsker hinwünschen, die mich doch wohl in Zawusch sehr gern sehen! Ja, ein Moische Chefez, das war er, nichts anderes, und fast tonlos stieß er, zusammenbrechend, ein einziges Wort hervor, ein Wort, das 133 noch den gleichen Vormittag überall durch die Stadt lief und ihn bei allen Leuten verächtlich machte: Zawusch . . . Jeder verstand, worauf er anspielte. Mit diesem Wort, mit dieser öffentlichen Selbstverhöhnung gab er sich auf.
Er wartete das Ende des Sabbats ab, sang die Zwielichtgesänge mit großer Inbrunst, verschmolz sich mit seinem Gott, mit der Gestalt seines Lehrers und der aller heiligen und frommen Männer, dann, wenige Minuten nach dem Sabbat, sprang er in völliger Verwirrung in den Fluß. Die Überlieferung, die den Freitod verbietet, versagte, denn hier war ein großer Verstand zerstört. Mondlicht stand am Himmel, Rabbi Chiskija bewegte kaum die Arme und, wie erzählt wird, hielt er den Blick nach oben, als schritte er, erhaben über die Gesetze von Wurf und Fall, im Lichtbogen gen Himmel. Einem jungen Anhänger, fast dem letzten aus einer einstmals unübersehbaren Schar, hatte er vor Wochen versprochen, ein Zeichen aus dem Jenseits zu geben, falls ihn der Tod ereile, damit der Jünger seinen Glauben an das Fortleben der Seele nach dem Tode befestige, aber der Schüler wartete vergeblich auf das Zeichen.
Die Erinnerung an dieses ihr unendlich oft erzählte Haupterlebnis ihrer Jugend tat ihr gut. Sie weinte ein wenig, man sah, auch die früheren Zeiten hatten es nicht leicht gehabt, jede trägt für sich – nun, schwer ums Herz, so war auch ihr. Sie dachte zuviel an Seraphim, viel mehr als er an sie. Sie wollte dem Gefühl entsagen, es schickte sich nicht, eine ältere Frau, ein jüngerer Mann, – konnte sie sich nicht bezwingen, dann wollte sie ihn entfernen aus der Gasse, mehr konnte sich ein Mensch nicht abringen, und sie weinte über ihre eigene Anständigkeit.
Sie tat das noch, als gegen die Tür geklopft wurde, und auf ihre Frage, wer da sei, sich ein Sohn des Herrn Monasch meldete und im Auftrag seines Vaters Feigen überbrachte. 134
Aber wenn sie ihr Gefühl bezwungen oder Seraphim weggeschickt hatte nach Palästina – was dann?
Lange leben wollte sie nicht. Ihre Kinder? Das ging nicht anders: wenn Eltern sterben, verwaisen eben Kinder, sie machte sich auch nichts daraus, daß sie allein zurückblieben. Der Rabbiner kam zu ihnen, sie saßen auf dem Fußbänkchen, Liebe und Franja, die Kleider eingerissen, und weinten, der Rabbiner Jurkin gab ihnen die Hand und sprach: »Gott tröste euch mit den anderen Leidtragenden Israels in Jerusalem!« Dann kam er auf ihre verstorbene Mutter zu sprechen: ihr Verdienst soll uns angerechnet werden. Nein, sie wollte lieber kein Verdienst haben, es sollte keines angerechnet werden, und sie schluchzte, stark, verzweifelt . . .
Durch die Tür wurde ein Zettelchen geschoben mit einigen Zeilen von Frau Weichselbaum: ›Haben Sie Zeit für mich? Lust für mich?‹ Frau Spanier schüttelte den Kopf: sie schluchzte.
Aber einen gerade gewachsenen Menschen gibt der Schmerz auch wieder frei, er rafft sich zusammen, sucht die Menschen – die oft geschmähten sind doch das Heilmittel. Frau Spanier schleppte sich ans Fenster und sah hinaus. So spät es war, zog noch ein Mann mit seinem Karren durch die Gasse. Vergeblich rief er Südfrüchte aus. Kein Käufer – niemand kaufte hier noch um diese Jahreszeit Orangen; die kleinen vertrockneten Dinger auf dem Karren sahen auch den großen Orangen Jaffas wenig ähnlich, die die Juden zärtlich liebten als Früchte der Arbeit ihrer Brüder. Also bloß gleichgültige Gesichter, gehässige der Händler, ein enttäuschtes des Mannes selbst. Er hätte sich die Fahrt sparen können. Aber als sei ihm die Lehre noch nicht unvergeßlich eingehämmert, riß eine Händlerin einen Mohnkopf von der Schnur und ließ wütend die Körner hinter dem Manne herrasseln, mit dem Lärm seine Rufe übertönend. Haß, Kampf – so war man dem Leben nicht zurückgegeben.
Etwas anderes schenkte sie dem Leben wieder. 135 Gegenüber ging eine Frau, an der, was in dieser Gasse etwas hieß, ihre Armut auffiel. Unbegreiflicherweise schritt sie, den Korb überm Arm, auf einen Laden zu, wußte sie nicht, daß sie dort kein Fleisch bekam? Frau Spanier gab ihr Zeichen, doch die Frau schob das bereits vorgeschobene Gitter zurück und trat ein. Wie vorauszusehen, tappte sie bald, noch geduckter, heraus. Mit beiden Händen winkte Frau Spanier, aber die Ärmste sah nicht, sie horchte abwesend. Aus einem Bäckerladen, dessen Tür noch geöffnet war, scholl Gesang. Es war der Laden der menschlichen Frau Heinzelmann. Sie folgte der Stimme und kam mit keinem leeren Korb zurück, das verriet der Ausdruck ihres Gesichts. Frau Spanier winkte wieder, aber ihre Zeichen wurden nicht bemerkt. »Liebe!« rief sie endlich ihrer Tochter unten vor dem Hause zu, »bring die Frau herauf! Aber mach, sie vergeht sonst, hast du kein Herz?«
Die Frau bekam kaltes Fleisch. Zum Dank erzählte sie ihre Geschichte. Frau Spanier schauderte, wehrte sich jedoch nur schwach, stärker wäre mißverstanden worden. Also, zwei Söhne gefallen, Mann und Tochter erfaßt von einer Krankheit, sie selbst – nichts weiter! Frau Spanier betete zu ihrem Schöpfer, ihr das übrige zu ersparen, sie wollte auch selber demütig sein und sich niemals wieder beklagen. »Ich soll nicht mehr erzählen?« fragte die Arme. »Ich hab so viel zu tragen«, erwiderte Frau Spanier. Das rührte: »Eine so schöne Frau und auch zu tragen?« Frau Spanier bekam die Hand gestreichelt: »Es wird schon gut werden, glauben Sie nur!«
Es war nicht freundlich von Frau Spanier, die Tür war kaum geschlossen, am Waschbecken die Hand mit Seife und Bürste abzureiben. Gleich danach nahm sie einen Shawl um die Schultern und ging weg. Menschen! Auf der Treppe kam ihr eine Frau entgegen, Oliven in der Hand. Frau Spanier dachte an das Öl, das man Esther gegeben, von Oliven, die gerade erst ein Drittel gereift waren, das Öl sollte den Körper dick machen, hieß es, und den häßlichen Haarwuchs an ihm entfernen. Überflüssig 136 für sie, aber wie überflüssig erst der Gedanke! Sie trat aus dem Haus, glücklicherweise waren die Töchter nicht zu sehen, denn sie leugnete nicht mehr vor sich, warum sie auf die Gasse lief. Gleich ihr gingen Hunderte von Juden auf und ab, andere standen sinn- und grundlos, hier ein Dutzend, dort ein Dutzend, Gehsteige und Fahrdamm überflutend. Alte Männer schauten aus den Fenstern und rauchten Pfeife, einzelne ganz alte schnupften Tabak, die Nasenlöcher groß wie Pfefferbohnen, größer als Nasenlöcher sonst. Trotz der Wärme hatten die Männer dicke Mäntel an und Hüte auf dem Kopf von Filz und Plüsch, die Frauen Schultertücher um und natürlich über dem Haar Perücken. Lebhaft und unter reichlichen Bewegungen sprachen alle durcheinander, mancher, der allein war, mit sich selbst. Man mußte achthaben, nicht angestoßen, oder wie Frau Spanier, beinahe umgerannt zu werden. So ein ungeschickter Mensch, dieser David Wachsmann, sich nicht einmal zu entschuldigen, wenn er einen fast auf die Gasse warf: »Ärgern Sie sich nicht!« sagte wohlgelaunt ein frommer Mann, Herr Osias Katzenstein, »wie sagte neulich einer von ihm? Wenn Frühling ist, denkt der Wachsmann nicht an Frühling, sondern: Warum ruft man am Sabbat sieben zur Vorlesung auf, am Versöhnungsfest sechs, es gibt doch zweiundfünfzig Sabbate im Jahr und nur ein Versöhnungsfest, also warum nicht umgekehrt, am Versöhnungsfest acht, wenn schon am Sabbat sieben? Eine gewiß sehr berechtigte Frage, aber gleich nach Ostern und auf einer Straße voller Menschen hatte er eigentlich Zeit, sie später zu bedenken. Bis zum Versöhnungsfest war es wieviel? Immerhin ein halbes Jahr!«
»Nun«, bemerkte unaufgefordert Herr Leo Schachian, »ich bin sein Freund nicht, aber ich finde nichts dabei. Er hätte an viel Entlegeneres denken können, und er würde auch noch nicht zu tadeln sein. Beispielsweise, sagen wir, was König David für ein außerordentliches Leben hatte, was Männer wie Amasa, Scheba, Isch Boschet, Abner, 137 Amnon in diesem Leben bedeuteten, nicht zu reden von den beiden einzigen Männern, die jeder kennt, von Jonathan und . . .«
»Was erzählen Sie uns von diesen alten Sachen!« unterbrach ihn Katzenstein.
»Lang her ist das wohl, aber es hat nur einmal einen König David gegeben, und wenn noch dreitausend Jahre sein werden, wird es nicht noch einmal einen zweiten König David geben. Aber an so etwas denkt man nicht, von der Geschichte seines Volkes weiß man nichts, die Bräuche nimmt man wichtig, ja, ja, verkehrte Welt!«
»Es fragt sich bloß, wer verkehrt denkt!«
»Vielleicht haben Sie recht! Was weiß einer überhaupt?«
Seraphim begegnete ihr und löste sich sofort von seinem Begleiter, Frajim. »Sie wollten mir noch Ihren Traum erzählen«, sagte sie mit einem unsagbar liebenswerten Lächeln.
»Bestimmt werden Sie ihn mir übel nehmen und mich unverschämt finden!«
»Ich nehme Ihnen nichts übel und finde nichts von Ihnen unverschämt!«
»Also ich träumte, ich betete vor, in der Synagoge, ich stand in der Mitte, erhöht, und sang sehr schön, dabei kann ich gar nicht singen, und je schöner ich sang, um so mehr preßten Sie ihr Gesicht durch das Gitter der Frauenabteilung, daß die Gitterstäbe fest in Ihr Gesicht schnitten.«
»Wie konnten Sie das sehen? Sie sahen doch nach vorn?«
»Ja, ich sah nach vorn, aber ich konnte zugleich zurücksehen.«
»Und das ist alles?«
»Ja«, sagte er, »das ist alles.« Mit einer unvermittelten Wendung ging sie davon. Er wollte ihr nachstürmen, blieb aber – wohin waren sie beide im Begriff, sich zu verlieren?
Bei dem Auftauchen Seraphims und seines Begleiters 138 Frajim fielen dem Schuhhändler Lippmann seine Sünden ein. Frau Warszawski hatte sie ihm soeben vorgehalten: »Haben Sie was für ihn?«
»Für wen?«
»Für wen? Zehnmal habe ich Sie gebeten, Sie sollten sich bemühen für ihn, und Sie fragen, für wen!« Er nahm sich sofort den Lumpenhändler Lewkowitz vor, der ihm entgegenkam; das war ein bedeutender Kaufmann, viel bedeutender als er. »Können Sie nicht einen jungen Mann beschäftigen . . .«
»Sie wissen doch«, sagte Lewkowitz, »wohin meine Ware geht – nach England, und der Absatz nach England hat heute seine Schwierigkeiten.«
»Schön, ich weiß, aber wenn man will, kann man dann nicht immer?«
»Um wen handelt es sich?« Er berichtete, ein gewisser Frajim Feingold . . .
»Und damit kommen Sie mir?«
»Wie meinen Sie das?«
»Was ist da zu meinen? Der junge Mann ist zwei Wochen bei mir gewesen und ist dann weggelaufen.«
»Und da muß ich Schlemihl gerade Sie fragen! Aber wenn er weggelaufen ist, werde ich mich überhaupt nicht mehr bemühen.«
»Das können Sie trotzdem«, erwiderte Lewkowitz.
»Was? Einen unzuverlässigen Menschen empfehlen?«
»Erinnern Sie sich nicht? Es steht geschrieben: hat jemand eine Strafe für seine Tat erhalten, selbst wenn er sie noch nicht angetreten, geschweige sie verbüßt hat, so soll er dir wieder sein wie dein Bruder, und er, er hat sie abgebüßt, er sucht schon, Gott weiß wie lange.«
»Nun, dann können Sie ihn doch auch wieder nehmen!«
»Ja, schön, und Sie nicht?«
Eisenberg kam wieder vorüber, jetzt im Gespräch mit Tauber. Er berichtete aufgeregt von seiner vergangenen Unterhaltung über Jehudas Witwe. Tauber suchte ihn 139 zu beruhigen: »Sie wissen doch: ist jemand unzufrieden, so hat er, und ist er selbst wer weiß was für ein Nörgler, immer ein Körnchen zur Unzufriedenheit. Es gibt doch in der Tat in der Heiligen Schrift eine Anzahl Stellen, die machen einem in der Jugend zu schaffen.«
»Wieso?« fragte Eisenberg verständnislos.
»Nun, ist es so einfach, daß Abraham seine Frau mit nach Ägypten nahm und sie vor Pharao als seine Schwester ausgab und daß Jakob es nachher mit Rebekka ebenso machte?«
»Unsere Weisen erklären das doch.«
»Aber bis man weiß, wie sie es erklären, und wenn man jung ist, kommt es auch vor, daß man sich sagt, die Weisen erklären es so, aber gesetzt, wie wäre es, wenn sie es nicht so erklären würden . . .«
»Ist Schach jung?«
»Nein, gewiß ist Schach nicht jung.«
»Also was sagen Sie? Ich habe doch recht, er ist unrein, es gibt unreine Menschen jung und unreine alt.«
»Was wollen Sie? Sollen wir so reden? Wohin führt das?« sagte Tauber, bemüht, den Alten möglichst nicht in Wallung zu bringen.
Lippmann stieß unter den auf und ab Wandelnden erneut auf Lewkowitz und benützte die Gelegenheit, sein Versehen gut zu machen. »Was erwarten solche jungen Leute heute eigentlich? Sofort eine Stellung? Aber wieviele von uns haben heute selber nichts zu beißen! Jeden Tag mehr, man erschrickt, wenn man die Zahlen der Arbeitslosen liest: Millionen.«
»Gut, aber stellen Sie sich vor: wohin sollen die Jungens zurück? In Polen ist es noch schlechter, Ungarn ist ganz tot, in Rumänien können sie sich lebendig begraben lassen.«
»Wirklich«, pflichtete Lippmann bei, »es ist schwer, dort schwer, hier schwer, man weiß wirklich nicht, was soll man tun.«
»Ich höre: tun. Warum muß man immer tun? Ich 140 denke manchmal, war es nicht ganz gut, was unsere Altvordern so wunderbar verstanden: abwarten, stillhalten, dasitzen, zusehen?«
Frau Spanier wandelte weiter über die Gasse. Sie merkte jetzt, wodurch ihr die Traumgesichte Rabbi Chiskijas eingefallen waren, nicht durch den Todestag ihres Vaters, sondern weil sich Seraphim gestern geweigert hatte, ihr seinen Traum zu erzählen. Heute hatte er ihn erzählt, aber man quälte sie: hatte er ihn zu Ende erzählt?
Vor der Schankwirtschaft von Teich erkundigte sie sich bei der Tochter: »Heute ist es nicht so voll?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Wäre es jeden Tag so voll, könntest du dir keinen Bräutigam aussuchen, der gar nichts tut und bloß schön aussieht.«
»Ein bißchen früh.«
»Recht hast du! Nachher find man immer, man hätt warten können.«
»Allzu spät ist auch nicht richtig.«
»Nun, jeder auf seine Weise, der eine so, der andere anders. Was lachst du, Zore?«
»Ich dacht bloß, was für mich ist, ob so, ob anders.«
»Zore, Zore«, drohte Frau Spanier, »ich weiß nicht, du sprichst so . . .«
Der Vorbeter Monasch sprang ihr nach: »Auf ein Wort!«
Sie hob die Hand zum Gesicht: »Ich hab Kopfweh!« Kopfweh, das tat ihm aufrichtig leid, konnte er nicht ein paar Schritte mitgehen? »Nein, bitte nicht, ich muß hinauf, mich legen.«
Monasch seufzte: nie traf er es richtig! Einmal hatte sie nicht die rechte Stimmung, ein andermal hatte sie Kopfweh. Er hatte heute schon aus Wut über sie mit der Schere eine Blechwanne durchstoßen; es war das beste, er schlug sich diese Frau aus dem Kopf, zugleich aber alle anderen Frauen auch, dann brauchte er um keine zu betteln. Freilich, Alleinsein war auch nicht leicht. Wie man es machte, machte man es falsch.
»Noch ein bißchen unterwegs?« wurde er angesprochen. 141
»Nun, es ist doch nicht spät . . .«
»Spät nicht, aber wenn man aufstehen soll, ehe die Hähne krähen.«
»Wer red't hier von krähen?« fragte Monasch ärgerlich, »ich habe hier noch keine Hähne krähen hören.«
»Also nicht krähen, schön, singen . . .« 142