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14. November 1876.
Akademischer Vortrag, gehalten in der Aula des Museums. Manuskript im Jac. Burckhardt-Archiv, Nr. 171, bestehend aus 17 Blättern in Quart und einem Uebersichtsblatt.
Der Herausgeber der »Helvetia«, Monatsschrift für Literatur, Kunst und Leben, Robert Weber, hat in den Basler Nachrichten 1876, Nr. 274 und 275 über diesen Vortrag referiert und das Referat wieder abgedruckt im I. Jahrgang (1878) S. 87 ff. jener Zeitschrift. Da jenes Referat am Eingange mit R. gezeichnet ist und Weber das wörtlich entsprechende Referat in der »Helvetia« »nach den Aufzeichnungen des Herausgebers« publiziert, so ist wohl die Identifikation von R. mit R(obert Weber) zweifellos. – Da die Einleitung, SS. 116–118, im Manuskript weder in der Disposition abgeklärt noch stilistisch ausgeführt ist, mußte hier der Eingang auf Grund des Manuskriptes und des Referates rekonstruiert, bezw. das Manuskript durch das Referat ergänzt werden.
Weit über die Jahrtausende hinaus schimmert zu uns das Bild einer wunderbaren Insel herüber, die Homer mit allem Glanze seiner unsterblichen Poesie verklärt hat, – es ist die Insel Scheria. Wo liegt dieses wunderbare Eiland? Man hat geglaubt, es in der Insel Korkyra oder Korfu entdeckt zu haben; allein Scheria gehört dem Traumleben des Mythos, gehört einer und derselben wunderbaren Traumgeographie an, in der die Phantasie aller Zeiten von jeher stark zu Hause war. In solchen Regionen weilt ja die Phantasie so gerne, und darum entstehen auch diese Fabelländer sozusagen von selber.
Wir sollen den Göttern danken, wenn eine große alte Dichtung uns einen solchen Zustand vorempfindet; denn aus eigenen Mitteln vermöchte es die jetzige Poesie nicht mehr.
Was das Bild des Phäakenlebens bei Homer so zauberhaft macht, ist, daß der Dichter von einem solchen Zustand noch gar nicht so ferne ist und ihn in vollem Ernst als einen möglichen, denkbaren und vielleicht ganz nahen behandelt.
Daher die untrügliche Sicherheit seiner Phantasie vor aller Phantastik, die große Gewißheit, womit seine Formen und Farben auftreten und die Kraft, womit sie sich uns einprägen.
Die Unzulänglichkeiten des Erdenlebens haben von alten Zeiten her die Phantasie der Völker angeregt, Bilder zu entwerfen, Schilderungen eines Zustandes, wie man ihn gerne gehabt hätte. Eine kindlich schöne und wehmütige und tiefsinnige Phantasie bringt es zum Bilde eines goldenen Zeitalters, eine kindlich possenhafte zum Bilde eines Schlaraffenlandes, wie dies schon die attischen Komiker getan haben; dann kommen Denker, Philosophen und Politiker wie Plato und Thomas Morus, und entwerfen, vom ethisch, politisch und ökonomisch Wünschbaren ausgehend, das Gemälde ihres Nirgendheim, ihrer Utopie.
Die Fabelländer der Poeten schildern nicht immer einen Zustand den man wünscht, einen Idealzustand, sondern eben so oft ein Dasein, welches die Kritik und selbst die Karikatur des wirklichen Erdenlebens einer bestimmten Zeit und Gegend bildet. So bei Rabelais.
Von der Seite der Satire ergreift Rabelais die Gelegenheit, eine ganze Anzahl von Fabelländern, zumal Inseln, zu schildern, welche der Reihe nach von der Gesellschaft des Pantagruel besucht werden. Das französische und gesamtabendländische Leben des XVI. Jahrhunderts nach gewissen einzelnen Beziehungen wird dem Leser in einer Anzahl von Hohlspiegelbildern karikiert gezeigt.
Später ist sowohl die Satire Englands als die allgemeine Satire der Menschheit in den weltberühmten Reisen Gullivers niedergelegt. Von seinen Fabelländern sind Lilliput und Brobdignac sprichwörtlich geworden.
Die Insel Scheria nun und alles, was mit ihr zusammenhängt, ist noch um ein gutes Teil fabelhafter als alle die genannten phantastischen Gebilde.
Das Phäakenleben ist auch nicht bloß ein Rahmen um die Irrfahrten des Odysseus herum, sondern eine höchst notwendige und wohltuende Zwischenzeit zwischen diesen Irrfahrten und seinem Auftreten in der Heimat. Er muß irgendwo wieder aufleben, sich erholen, seine Fittiche entfalten, seiner selbst und seiner vollen Kräfte wieder bewußt werden, bevor er Ithaka betritt.
Wahrscheinlich hatten die frühern Dichter der Sage sich damit begnügt, ihn durch die Phäaken erquicken, mit Geschenken ausstatten und nach Ithaka führen zu lassen. Erst Homer ließ den gewaltigen Mann auf Scheria wie in einer Art Vorheimat wieder aufleben und hat den Helden noch einmal im Glanze der heroischen Welt verklärt.
Wahrscheinlich auch hatten die frühern Dichter die bisherigen Fahrten des Odysseus in einer Reihe von Gesängen erzählt, und zwar hatten sie selber ohne Zweifel das Wort geführt; erst Homer legte die Erzählung dem Odysseus selber in den Mund, wählte dabei vielleicht aus einer großen und bunten Reihe von Sagen die lebensfähigsten aus und verherrlicht damit seinen Helden auf die wunderbarste Weise. So wird das Phäakenleben der Rahmen, welchen Homer sich auserkor, um das Bild, nämlich Odysseus und die Erzählung seiner Irrfahrten, darin zu fassen; das prachtvolle Fabelgemälde verlangte eine Einfassung, wie diese Existenz von Scheria ist, gerade außerweltlich und halb übermenschlich genug.
So ward durch Homer die Erzählung der Irrfahrten kondensiert und in die Phäakenwelt eingerahmt, das Bewegte eingefaßt in das Dauernde, das Geschehene in einen Zustand übergeführt Es folgt die Notiz: »Die Schlaraffenländer des Telekleides und Pherekrates, Zeitgenossen des Aristophanes, bei Athenäus VI, 95, 96, lauten schon ziemlich gefräßig.« Es folgt weiter eine stichwortweise Uebersicht der Odyssee IX–XII..
Es ist gut, daß vergangene Zeiten uns die Mühe abgenommen haben, eine erhöhte Welt poetisch zu schildern. Wir würden tausendmal dabei über die Beine unseres »Gefühls« stolpern und unter einander Händel bekommen wegen politischer, religiöser und sozialer sogenannter »Ideale«. Homer wußte noch eine Welt des relativen Glückes zu schildern. Vergangene Zeiten waren auch zu etwas gut.
Homer verfährt wie ein großer Landschaftsmaler. Er prätendiert nicht das Schönste und Glänzendste auf Erden zu geben, sondern nur Einen aus tausend Aspekten des Lebens, aber freilich eines erhöhten Lebens. Er hätte noch viel dergleichen vorrätig gehabt.
Das heroische Leben ist schon im allgemeinen ein ideales, das phäakische aber noch um einen starken Ton erhöht.
Den Rahmen um die Erlebnisse und Irrfahrten des Odysseus, um die Erzählungen vom neunten zum zwölften Gesang der Odyssee, bildet die Schilderung der genannten fabelhaften, schönen, wohligen Existenz der Phäaken. Und da es, so bisweilen in der Kunst des XV. Jahrhunderts, vorkommt, daß der Rahmen mit ebenso großem ästhetischem Sinne gearbeitet ist wie das Gemälde selber, so sei es uns jetzt vergönnt, den herrlichen Rahmen unseres großartigen Heldenbildes für sich abgesondert zu betrachten und zu bewundern.
Odysseus treibt von der Insel der Kalypso her in die Gegend von Scheria. Der Meerbeherrscher Poseidon haßt den König von Ithaka, weil dieser ihm seinen Sohn Polyphem geblendet hat, aber er weiß auch mit der Meergöttin Ino oder Leukothea, daß Odysseus am Phäakenstrand mit dem Leben davon kommen soll.
Der erste Anblick von Scheria, am achtzehnten Tag von Odysseus' zuletzt höchst schrecklicher Fahrt, waren die waldigen Gebirge desjenigen Teils, der ihm am nächsten lag; gleich einem Lederschilde lags im dämmrigen Meer.
Nachdem er schon »Erde und Waldung« nahe gesehen, wirft ihn eine plötzliche Brandung wieder an eine Küstengegend, wo nur Vorgebirgsstirnen, Klippen und glatte Felswände zu sehen sind. Erst nach schrecklichem Kampf mit den Wogen gerät er an eine Flußmündung und beschwört den Flußgott, welcher nun sein Strömen stille stellt. Odysseus wirft Ino's Schleier, den sie ihm zum Schutze verliehen, von sich und küßt die Erde. Er bettet sich im Waldhügel unter den Doppelölbaum.
Nun wird die Herkunft der Phäaken hübsch aus der geographischen Traumwelt berichtet. Einst wohnten sie im weitflurigen Oberland, nahe bei den übermütigen Cyklopen, welche sie ausraubten und die stärkern waren.
Sie sind Ausgewanderte, wie so mancher griechische Stamm; sie haben eine noch sehr nahe Erinnerung an ihre neue Gründung; erst der Vater des Alkinoos, Nausithoos, hat sie nach Scheria geführt, um die Stadt eine Mauer gezogen, Häuser und Tempel gebaut und die Fluren verteilt, wie ein rechter Stadtgründer zu tun hat.
Die Szene beginnt mit dem Morgentraum der den Unsterblichen ähnlichen Königstochter Nausikaa, neben welcher zwei den Chariten ähnliche Dienerinnen schlafen. Athene erscheint ihr als eine ihrer vertrauten Gespielinnen: Sie sei lässig, raunt sie ihr zu, und solle zu ihrer bevorstehenden Vermählung für sich und für die Leute des Brautgeleites die Gewande rüsten; denn die Edelsten im Volk werben um sie, die edle; also auf mit dem Frührot! Sie will Nausikaa begleiten; Alkinoos soll um Wagen und Maultiere gebeten werden. Eigentümlich und festlich ist der Ton, welchen Homer hier anschlägt. Während Athene zum Olymp eilt, wird in heiterer rascher Weise geschildert, wie Nausikaa erwacht und den Vater um das Gespann bittet; statt ihrer bevorstehenden Verlobung gibt sie Scheingründe an: unter andern, daß die Brüder zum Reigentanz stets neugewaschene Gewänder begehren, eine kleine, niedliche Schlauheit, die das Gedicht sehr ziert. Dann wird ihr Wagen aufs Vollständigste versehen und Nausikaa selber ergreift Geißel und Zügel.
Treibend schwang sie die Geißel und laut nun trabten die Mäuler,
Strengten sich ohne Verzug und trugen die Wäsch' und sie selber;
Nicht sie allein; es gingen zugleich auch dienende Jungfraun.
Am Fluß angelangt, spannt man die Maultiere los und läßt sie einfach auf die Weide laufen. Dann tragen Nausikaa und die Dienerinnen die Gewänder in die Waschbehälter und stampfen, wie eine Art von Tanz, ohne Bücken, sie schnell um die Wette und lassen sie – Homer macht hier sehr schnell fertig – auf dem reinen Kies trocknen. Dann baden sie und salben sich. Kein Wort verliert Homer, wie sie sich dabei ausnahmen; dann essen sie und unverschleiert spielen sie Ball; sie sind ja nicht überanstrengt; Nausikaa aber singt dazu. Sie ragt unter den Dienerinnen hervor wie Artemis unter den Nymphen, ein prachtvoll durchgeführtes Bild.
Beim Ballwerfen nach einer Dienerin verfehlt sie dieselbe; Pallas Athene fügt es, daß der Ball in den Fluß fliegt; vom lauten Schrei der Mädchen erwacht Odysseus; sein erster Gedanke ist, es seien Nymphen. Dann erscheint er vor jenen »wie ein Berglöwe«; sie fliehen; nur Nausikaa, von Athene ermutigt, bleibt; Odysseus redet sie von ferne an:
»Flehend nah' ich dir, Hohe, der Göttinnen oder der Jungfraun!
Bist du der Göttinnen eine, die hoch obwalten im Himmel,
Artemis gleich dann acht' ich, der Tochter Zeus des Erhabnen,
Dich an schöner Gestalt, an Größ' und jeglicher Bildung.
Bist du der Sterblichen eine, die rings umwohnen das Erdreich,
Dreimal selig dein Vater fürwahr und die würdige Mutter,
Dreimal selig die Brüder zugleich! Muß ihnen das Herz doch
Stets von entzückender Wonn' ob deiner Schöne durchglüht sein,
Wenn sie schaun, wie ein solches Gewächs hinschwebt zum Reihntanz!
Aber wie ragt doch jener in Seligkeit hoch vor den andern,
Der, mit Geschenk obsiegend, als Braut zu Hause dich führet!
Denn noch nie so einen der Sterblichen sah ich mit Augen,
Weder Mann noch Weib; mit Staunen erfüllt mich der Anblick!«
Es ist das große Kompliment der heroisch-idealen Welt: Du bist eine Gottheit, oder wenn eine Sterbliche, dann dreimal selig die Deinigen und der seligste der, welcher dich heimführt! Und alsdann berichtet Odysseus kurz über seine letzten Leiden und wünscht ihr eine glückliche, einträchtige Ehe an.
Tröstlich ist die Antwort der Nausikaa: »Das Schicksal teilt Zeus Guten und Bösen aus, wie er will; trage das deinige! Jetzt aber, da du zu uns gelangt, soll dir nichts mangeln.« Dann ruft sie die geflohenen Mägde herbei; der Fremde sei kein Feind; noch nie ja sei einer zum Kriege nach Phäakenland gekommen, »denn geliebt von den Göttern wohnen wir ferne im wogenden Meer, die letzten, die kein Sterblicher aufsucht. Dieser hier kommt nur als verirrter Fremdling; pflegen wir ihn, denn dem Zeus gehören alle Fremden und Dürftigen und auch eine kleine Gabe kann wert sein.«
Sie gewähren ihm Erquickung und frische Kleider. Athene aber leiht ihm jene Verklärung, welche die homerischen Götter ihren Lieblingen gewähren können:
»Also umgoß die Göttin ihm Haupt und Schulter mit Anmut.
Jetzo saß er, zur Seite gewandt, am Gestade des Meeres,
Strahlend in Schönheit und Reiz ...«,
und nun spricht Nausikaa zu den Mägden gewandt den naiven Wunsch aus:
»Anfangs zwar erschien er mir unansehnlicher Bildung,
Doch nun gleicht er den Göttern, die hoch den Himmel bewohnen.
Wäre mir doch ein solcher Gemahl erkoren vom Schicksal,
Wohnend in unserem Volk, und gefiel es ihm selber, zu bleiben«.
Dann weist sie den Odysseus an, wie er sich zu verhalten habe. Sie will das Gerede vermeiden und erzählt nun, wie dasselbe bei den Uebermütigen im Volke laut würde. Es ist Gerede, aber ebenfalls aus einer idealen Welt, Klatsch der Urzeit: »Ein künftiger Gemahl, aus ferner Männer Schiffe hierher verirrt, oder ein Gott, den sie erfleht hat? gut, daß sie von draußen einen Gemahl gewinnt, da sie die vielen und edeln Phäaken verschmäht.« Daher möge Odysseus sie nach der Stadt begleiten, aber draußen bei Athenes Pappelhain, Wiese und Quell, wo Alkinoos sein Gut mit Garten hat, möge er warten bis sie zu Hause sein könnten; dann möge auch er nach der Stadt kommen.
Dann beschreibt sie ihm die Stadt; diese ist hochummauert; der Doppelhafen hat eine enge Einfahrt; zu beiden Seiten auf Stützen ruhend, liegen die aufs Trockene gezogenen Schiffe; der Poseidontempel steht auf dem Hauptplatz am Ufer, und dieser beherbergt die Geräte und Arbeiten eines ganzen Arsenals. Denn den Phäaken liegt nichts an Köcher und Bogen, sondern Maste und Ruder und »gleichhinschwebende« Schiffe sind ihre Freude, darauf sie das graue Meer durchfahren. Dieses alles wird geschildert von dem lieblichen Mund der Nausikaa, die den Odysseus auch noch anweist, wie er dem Königspaar, ihren Eltern, im Palast nahen solle: »Geh zwischen den Vorbauten durch den Hof, dann schnell durch den großen Saal, bis du zu meiner Mutter gelangest; sie sitzet, vom Herdfeuer bestrahlt, an einen Pfeiler gelehnt, drehend der Wolle Gespinnst, von Meerpurpur, herrlich zu sehen; hinter ihr sitzen die Dienerinnen; dort, bei ihr, steht auch der Thron, auf welchem mein Vater sitzt und trinkt wie ein Unsterblicher; geh an ihm vorüber und umfasse die Knie der Mutter; wenn sie dir hold wird, dann wirst du auch den frohen Tag deiner Heimkehr schauen.«
Zunächst folgt nun die Schilderung der Ankunft der Nausikaa und genau ihr Empfang; der Dichter trägt förmlich Sorge für sie und führt uns auch die Sklavin vor, die ihr in ihrem Gemach Feuer anzündet; es ist Eurymedusa, die einst, offenbar mit andern Sklavinnen, von Epirus hergebracht und als vorzüglichste dem König als Ehrengeschenk ist überlassen worden; sie hat die weißarmige Nausikaa erzogen.
Odysseus aber, beim Eintritt in die Stadt, frägt ein Mädchen mit Wassergefäß um den Weg; es ist aber Athene, die ihn bereits mit einem unsichtbarmachenden Dunkel umgeben hat, und ihn nun zum Palast des Königs weist. Er soll nicht den Verdacht der Phäaken erwecken, welche gegen Fremde mißtrauisch sind. »Denn sie vertrauen nur ihren schnellen Schiffen, womit sie das weite Meer durcheilen; denn das verlieh ihnen der Erderschütterer: ihre Schiffe sind schnell wie ein Fittich oder ein Gedanke.«
Am Eingang in den Palast erzählt ihm Athene noch mit der größten griechisch-genealogischen Behendigkeit die gemeinsame Herkunft des Königspaares, wobei Poseidon als Großvater und eine Tochter des untergegangenen Gigantenkönigshauses als Großmutter nicht fehlen; so nahe ist man noch der Urzeit. Die Königin Arete genießt im Palast und im Volk Ehre wie keine andere Frau der Welt; man schaut ihr nach wie einer Göttin, wenn sie durch die Stadt schreitet; ihr edler Geist vermag auch Zwist der Männer zu sühnen. – Damit verschwindet Pallas und eilt weit übers Meer Marathon und Athen zu, ins feste Haus des Erechtheus.
Und nun folgt der Palast des Alkinoos, wirkliche Baukunst der alten Zeit, aber in schönfabelhafter Verklärung; die goldnen Hunde des Hephästos sind offenbar zugleich als lebend gedacht, ja vielleicht ebenso auch die fackelhaltenden goldnen Jünglinge im Festsaal. Man weiß nicht, ob es Statuen oder lebendige Gestalten sind – ein untrügliches Zeichen des mythischen Charakters der ganzen Erzählung.
Dann wird geschildert der ummauerte Garten mit den herrlichsten Früchten aller Art, auch Feigen und Granaten und Oliven; – das ideale Klima, offenbar ohne Wechsel der Jahreszeit gedacht; – die reife Frucht, sie geht nie aus, denn während die eine Traube zum Beispiel erst abgeblüht hat, reift die andere, und anderswo wird schon gekeltert; – der ewige Zephyr, der an Azoren und Canarien erinnert; – die beiden Quellen, die eine durch den ganzen Garten sich zerteilend, die andere nach dem Palast hin, wo sie als Stadtbrunnen dient, eine Darstellung der poetischen Wünsche des Menschengemütes, Bilder aus einer andern Welt.
Von seiner Luft umhüllt, schreitet Odysseus durch den Saal, wo die Fürsten der Phäaken eben dem Hermes die letzte Spende bringen. Erst wie er beim Königspaar angelangt ist und die Knie der Königin Arete umfaßt, verschwindet der heilige Nebel. Alle schweigen und staunen; Odysseus bringt seine Bitte um Entsendung vor und setzt sich in die Asche am Herdfeuer. Auf das Fürwort eines greisen Helden, Echeneos, wird das Gelage erneuert und Odysseus darein aufgenommen. Alkinoos führt ihn an der Hand zum Sitz seines geliebtesten Sohnes Laodamas, welcher dem Fremden Platz macht. Er empfiehlt ihn den phäakischen Edeln zur Heimgeleitung; wenn diese Phäakenpflicht an dem Fremdling erfüllt sein wird, dann, dort in der Heimat dulde er dann weiter, was ihm die Schicksalsgöttinnen gesponnen, als ihn die Mutter gebar. »Ist er aber etwa ein Unsterblicher, der vom Himmel gekommen, dann haben die Götter etwas anderes vor. Denn von alten Zeiten her erscheinen die Götter sichtbar bei uns, wenn wir ihnen die herrlichen Hekatomben opfern, sitzen an unserem Mahl und essen mit uns, wie wir andern. Und wenn ein Wanderer auf einsamem Pfade ihnen begegnet, so verbergen sie sich nicht, denn wir sind ihnen ja nahe wie die Cyklopen und die wilden Geschlechter der Giganten.« Selten liegt bei einem Dichter ein so überwältigender Duft des Mythus über so wenige Zeilen ausgegossen!
Nun muß Odysseus sich zunächst dagegen wehren, daß man ihn für einen Gott halte; weder an Wuchs noch Gestalt gleiche er Unsterblichen; er sei nur der Unglücklichste der Menschen. Und nachdem das Gelage aufgehoben und er mit dem Königspaar allein geblieben, wird er befragt: wer und woher? Einstweilen erzählt er nur von Ogygia und Kalypso und seiner zuletzt so schrecklichen Fahrt nach Scheria und von dem edeln Empfang durch Nausikaa. Und ohne alle prosaische Scheu gibt Alkinoos ihm selber zu erkennen: »Wenn doch Zeus und Athene und Apollon es fügten, daß ein Mann wie du, mir so gleich an Gesinnung, mein Eidam würde und hier bliebe! Doch mit Zwang soll dich niemand halten! morgen schon können wir dich entsenden; während du in tiefem Schlafe liegst, fahren jene (die Unsrigen) mit dir durch das heitere Meer bis zu deiner Heimat und deinem Hause oder wo du sonst hin begehrst.« – Und hier erinnert dann Alkinoos an die weiteste Fahrt der Phäaken: an Einem Tag nach Euböa und zurück, als sie den Rhadamanthys zum Besuch des Tityos dorthin führten.
Am folgenden Morgen – es ist der große Tag, an welchem Odysseus sich offenbaren wird – führt Alkinoos den Odysseus auf die Agora der Phäaken, während Athene als Königsherold die einzelnen zur Versammlung ruft und den Odysseus verklärt. Alkinoos empfiehlt ihn den Phäaken zur Entsendung, »denn nie hat jemand, der in mein Haus gekommen, lange und in Herzeleid auf Entsendung warten müssen. Rüsten wir ein Schiff, und zweiundfünfzig junge Ruderer sollen im Volk gewählt werden.« Dann will er sie alle noch bewirten.
Zum Mahle singt der blinde Demodokos den Streit zwischen Odysseus und Achill, wobei Odysseus mit dem Purpurgewand sein Antlitz verhüllt und seufzt, was aber nur Alkinoos bemerkt. Daher ladet er seine Gäste hinaus zu Kampfspielen, auf die Agora.
Hier, bei den Vorbereitungen zu den Kämpfen, vernimmt man eine Anzahl von Eigennamen meist mit Seebedeutung; es kommt darin vor: die Flut, der Schiffsschnabel, der Tannenmast, das Gestade, das Ruder, das Einsteigen, die Schiffahrt, der Zimmerer, der Schifferruhm. Alsdann ergehen sich die Phäaken im Wettlauf, Ringen, Sprung, Diskos und Faustkampf.
Bei Anlaß der Aufforderung an Odysseus, ebenfalls um die Wette zu kämpfen – Alkinoos selbst gibt zu: nach seiner Meinung gebe es nichts Schlimmeres als das Meer, um einen Mann zu erschüttern, wie kräftig er auch sei – höhnt ihn Euryalos: er sehe freilich eher einem solchen ähnlich, der in seinem Schiffe beständig herumfahre als Anführer von Schiffern, welche zugleich Geldeinforderer sind, der die Gedanken bei seiner Ladung hat und sein Kaufmannsgut und seinen gierigen Gewinn nicht aus den Augen läßt. Was besagen will, daß die Phäaken eben keine Kaufleute sind. Nachdem sich dann Odysseus durch mächtigen Diskuswurf legitimiert hat, verfügt Alkinoos den Tanz; seine Einleitungsworte lauten also: »Höre mich nun an, damit du einst andern Helden erzählen kannst, wenn du in deinem Palast am Mahle sitzest mit Gattin und Kindern, eingedenk dessen, was wir können und was für ein Tun Zeus uns verliehen hat schon von den Ahnen her. Wir sind nämlich nicht tadellos im Faustkämpfen und Ringen, aber im Wettlauf fliegen wir rasch und in der Seefahrt sind wir die besten; uns erfreuen stets das Mahl, die Kithar, der Reigentanz und oft wechselnde Gewänder und warme Bäder und das Ruhebett.« Dies sind die berühmten Worte, um derenwillen die Phäaken sprichwörtlich geworden sind. Und nun ruft Alkinoos die besten Tänzer auf, damit einst der Fremde seinen Leuten daheim melden möge, »wie sehr wir andere übertreffen an Seefahrt, Wettlauf, Tanz und Gesang«. Und nun beginnt der große Tanz der Jünglinge, und Demodokos, in ihrer Mitte, singt dazu den Mythus von Aphrodite und Ares. Dann folgt das Duo des Laodamas und Halios, ein Tanz mit kunstreichem Wurf des purpurnen Balles verbunden.
Auf Alkinoos' Rede hin wird Odysseus von den phäakischen Fürsten reich beschenkt mit Gewändern und Gold und Euryalos angewiesen, ihm für die unfreundliche Rede Sühnung anzubieten; Euryalos schenkt ihm ein prächtiges Schwert. Auch Alkinoos beschenkt ihn herrlich.
Dann, nach dem Bade, begibt sich Odysseus zum Gelage.
Am Eingang in den Saal steht Nausikaa – es ist ihre letzte Erwähnung – in göttlicher Schönheit und bewundert den Odysseus mit langem Blick und spricht zu ihm:
»Freude dir, Fremdling! wenn du wieder in der Heimat bist, gedenke auch meiner, denn mir zuerst verdankst du das Leben!«
Und Odysseus: »Nausikaa! so gewiß mir Zeus Heimkehr gewährt, so gewiß werde ich einst dort zu dir wie zu einer Göttin beten mein Lebtag, denn du rettetest mir das Leben.«
Es beginnt das Gelage; nach dem Essen bittet sich Odysseus von Demodokos die Geschichte von der Einnahme von Ilion durch das hölzerne Pferd aus; wenn Demodokos dies nach der Ordnung könne, werde er, Odysseus, allen Menschen verkünden, daß wirklich ein Gott dem Demodokos seine Kunst eingegeben. Demodokos singt die Geschichte; Odysseus weint; Alkinoos bemerkt es wieder allein und gebietet dem Sänger Halt. Und nun endlich soll Odysseus seinen Namen und seine Heimat verkünden, »damit unsere Schiffe, in ihren Gedanken dorthin zielend, dich dorthin bringen. Denn die Phäaken haben keine Steuerleute noch Steuerruder, sondern ihre Schiffe wissen von selbst die Gedanken und den Willen der Männer und kennen nahe und ferne die Städte und fetten Fluren aller Menschen und fliegen rasch über die Meerflut, eingehüllt in Nebel und Wolken, und nie fürchten sie Schädigung oder Untergang. Das freilich hörte ich einst meinen Vater Nausithoos sagen: uns zürne Poseidon, weil wir jeden gefahrlos zur Heimat geleiten; deshalb werde er einst ein gutgearbeitetes Phäakenschiff, das von einem solchen Geleit heimkehre, im dunkelwogenden Meer zernichten und um unsere Stadt ein großes Gebirg wie eine Hülle legen. So berichtete der Greis; das mag nun die Gottheit in Erfüllung gehen lassen oder nicht, wie es ihr in ihren Gedanken genehm ist.« Es liegt in dieser Erzählung die hellenische Taxation des Glückes ausgesprochen, jene Ahnung vom Neide der Götter, die den dunklen Hintergrund ihrer heitern Lebensanschauung ausmacht.
Und endlich, auf das Verlangen des Alkinoos, Odysseus möge sich offenbaren, nennt dieser seinen Namen und erzählt seine Irrfahrten und Leiden.
Die Hörer aber sitzen in stummer Bezauberung im schattigen Saal, und als Odysseus geendet, verfügt Alkinoos: »Die Fürsten, die den Odysseus bereits beschenkt, sollen ihm noch jeder einen großen Dreifuß und ein Becken geben; durch die Volksversammlung möge man sichs wieder ersetzen lassen.« Dann geht man zur Ruhe. Am folgenden Tag von frühe an findet das große Opfer und Festmahl im Palast und die Beladung des Schiffes statt. Odysseus kann kaum den Abend erwarten; unter Segenssprüchen wird abends der letzte Wein herumgereicht und den Göttern gespendet. Odysseus nimmt seinen letzten Abschied nicht von Alkinoos, sondern von Arete: »Lebewohl und sei glücklich, o Königin, auf immer, bis das Alter naht und der Tod, wie er den Menschen bevorsteht. Ich ziehe von dannen, du aber freue dich in diesem Hause deiner Kinder, deines Volkes und deines Gemahls Alkinoos.«
Dann schreitet er über die Schwelle, geleitet von einem Herold und drei Dienerinnen nach dem Meer hinab. Dort empfangen ihn behende die Ruderer und bereiten ihm sein Lager; lautlos legt er sich nieder und entschlummert sanft und tief; er, der so viel Leiden, Schlachten und Stürme erduldet, vergißt jetzt dies alles. Das Beste geben uns die Götter im Schlaf! Es ist dies ein uralter Zug und psychologisch tief begründet.
Das Schiff fliegt über die nächtliche Flut schneller als ein Habicht. Beim Aufsteigen des Morgensternes ist man schon bei Ithaka angelangt; in die Nähe der Nymphengrotte tragen sie auf seiner Decke den schlummernden Helden hinaus und legen leise die Geschenke neben ihn unter den Oelbaum und eilen von dannen.
Nun klagt Poseidon bei Zeus über die Phäaken, wenn sie gleich von seinem Stamme seien. Wohl habe er gewußt, daß Odysseus einst heimgelangen werde, da Zeus selbst es ihm versprochen; aber eine Mißachtung gegen ihn sei es, daß diese Heimfahrt geschehen dürfe in sanftem Schlaf und mit Beigabe so vieler herrlicher Geschenke, daß selbst ein volles Beutelos aus dem Raube von Ilion nicht so viel ausmachen würde.
Zeus erlaubt ihm die Rache an den Phäaken und Poseidon spricht darauf seinen Vorsatz aus, das Schiff zu versteinern und ein Gebirge um die Stadt zu ziehen. Zeus stimmt auf die niederträchtigste Weise ein, indem er es noch ausmalt, wie sich die Phäaken wundern werden, wenn sie von der Stadt aus das Schiff ganz nahe daherfahren und dann plötzlich zum schiffähnlichen Fels werden sehen; dann möge Poseidon auch noch den Berg um die Stadt ziehen.
Poseidon eilt nach Scheria und schlägt das rasch daherfahrende Schiff mit der Hand, daß es Stein wird und in dem Boden wurzelt. Dann eilt er fort.
Die schiffskundigen Phäaken am Ufer redeten zu einander: »Wehe, wer hemmt so plötzlich den Lauf des Schiffes?«
Alkinoos aber versammelte sie und sprach: »Wehe, es trifft die alte Weissagung ein, die ich von meinem Vater weiß, daß Poseidon, zürnend über uns, weil wir jeden gefahrlos zur Heimat geleiten, einst ein schönes, vom Geleit heimkehrendes Phäakenschiff im dunkeln Meer schlagen und ein hohes Gebirg um die Stadt herum ziehen werde. So weissagte der Greis, und dies erfüllt sich nun alles. Wohlan, nun folgt mir alle! Geleiten wir keinen Sterblichen mehr, wenn einer in unsere Stadt gelangt! Dem Poseidon aber laßt uns zwölf auserwählte Stiere opfern, ob er sich unser erbarme und nicht auch noch unsere Stadt mit einem weiten Gebirge einhülle.«
Er sprach es; sie entsetzten sich und rüsteten die Stiere. Und nun flehten die Fürsten und Anführer des Volkes der Phäaken zum Herrscher Poseidon, stehend rings um den Altar.
In diesem Augenblick läßt der Dichter den Vorhang fallen, und wir wissen nicht, ob die Weissagung sich ganz erfüllte oder nicht. Noch jetzt zeigt man bei Korfu den Fels, der einst das Meerschiff der Phäaken gewesen sein soll. –
Aus dem Erzählten geht der unzweifelhaft mythische Charakter der Sage von den Phäaken hervor, und wir bewundern dabei nur den Geist des Dichters, der mit einer so visionären Elementarkraft der Phantasie seinen Stoff verewigt hat.
In späterer Zeit hat sich die Kunst öfters mit der herrlichen Gestalt der Nausikaa beschäftigt. So gab es schon eine Nausikaa von Sophokles; es ist ferner an antike Vasenbilder und Malereien zu erinnern, an Rubens' wundervolle Fels- und Meerlandschaft im Palazzo Pitti und schließlich an Goethe. Bekanntlich schwärmte dieser in den Tagen vom 7. April bis zum Mai 1787 in den Gärten von Palermo für eine Bearbeitung der Nausikaa als Tragödie: Nausikaa liebt Odysseus, nachdem sie bisher alle Freier abgewiesen. Indem sie sich voreilig verrät, wird die Situation tragisch.
Was Goethe nun vom Gang der Handlung sagt, stimmt nicht völlig mit dem erhaltenen, freilich sehr dürftigen Scenarium. Er selber hatte nicht nötig, sich künstlich in die Gestalt des Odysseus hinein zu versetzen; ganz von selbst empfand er sich als den, welcher auf der Reise schon hie und da schmerzliche Neigungen rege gemacht, und zugleich als den wundervollen Fabulanten, der bei unerfahrenen Hörern als ein Halbgott, bei gesetztem Leuten etwa als ein Aufschneider galt. Eine Sage des spätern Altertums, erhalten in einem Fragment des Aristoteles über die Politie der Ithakesier, bot einen möglicherweise ganz herrlichen, nicht tragischen, sondern glücklichen Ausgang dar: Odysseus gibt der Nausikaa statt seiner den Sohn Telemachos zum Gemahl, sein zweites, aber jugendliches Ich, das sie in dem Vater geliebt. Goethe kannte die Sage und läßt den scheidenden Odysseus wirklich den Sohn anbieten, und Alkinoos und Arete sind schon gewonnen; da heißt es aber im Scenarium nur kurz: »Die Leiche«. Und in der Aufzeichnung des Tagebuches: da Odysseus sich als einen scheidenden erkläre, bleibe dem guten Mädchen nichts übrig, als im fünften Akte den Tod zu suchen. Nausikaa hatte ihn geliebt und den dargebotenen Ersatz verworfen.
Goethe erklärt, daß er über dem Vorhaben seinen Aufenthalt zu Palermo, ja den größten Teil seiner übrigen sizilianischen Reise verträumt habe. Von deren Unbequemlichkeiten er denn auch wenig empfunden, indem er sich auf dem überklassischen Boden in einer poetischen Stimmung fühlte; in dieses wunderbare Medium tauchte für ihn jeder Anblick, jede Wahrnehmung von selber sich ein.
Aufgeschrieben habe er wenig oder nichts, wohl aber den größten Teil bis aufs letzte Detail im Geiste durchgearbeitet. Durch »nachfolgende Zerstreuungen zurückgedrängt«, sei der Plan bis zu einer »flüchtigen Erinnerung« verblaßt.
Mit Goethe ist nicht zu rechten. Schmerzlich wäre es, denken zu müssen, daß botanische Präokkupationen wegen der Urpflanzen auf Kosten der Tragödie jene weihevollste und vielleicht entscheidende Stunde im Garten von Palermo (17. April 1787) möchten vorweggenommen haben; denn die botanische Wissenschaft würde auch ohne Goethe, so wie zum Beispiel die Wasserbaukunst und Mechanik auch ohne Lionardo da Vinci, auf alle ihre wirklichen Wahrheiten und Entdeckungen geraten sein, während die großen Schöpfungen der Poesie und Kunst nur an ganz bestimmte große Meister gebunden sind und ungeboren bleiben, wenn diese ihre Kräfte anderweitig verwenden. Vielleicht aber fand Goethe in seinem Entwurf einen tiefern, das Leben der Tragödie in Frage stellenden Mangel und ließ sie deshalb liegen.
Und doch wäre in jener Zeit seiner hohen, geläuterten Kraft auch bei einer nicht tadelfreien Anlage immer noch ein herrliches Werk entstanden
Das Referat der »Helvetia« läßt auf einen vom Manuskript abweichenden, vielleicht wegen vorgerückter Zeit improvisierten Schluß des Vortrags schließen. Danach müßte er entsprechend dem Referat ungefähr gelautet haben:
Bekanntlich schwärmte Goethe vom 7. April bis Mai 1787 in den Gärten von Palermo für eine Bearbeitung der »Nausikaa«. Aber mitten unter dem exotischen Pflanzenwuchs Italiens forschte er auch wieder nach der »Urpflanze«, und wahrscheinlich haben uns seine botanischen Präokkupationen um eine dichterische Schöpfung gebracht, der er ohne Zweifel den ganzen zauberischen Duft des Südens eingehaucht hätte. Halten wir uns darum an die alte, liebliche Nausikaa Homers und erfreuen wir uns an der schönen Menschlichkeit, welche seine Dichtung erfüllt. Von den Göttern geliebt, lebte Nausikaa mit ihrem Volke glücklich, weit ab von den Menschen, am Ende des Meeres, Gastfreundschaft übend gegen den armen, im Unglück irrenden, geliebten Fremdling, »denn dem Zeus gehört ja ein jeder Fremdling und Darbender an!«
Damit erscheint aber ein Nebenmotiv des Vortrages – das Fremdlingsmotiv – als Schluß, der der ursprünglichen Absicht nicht entspricht: der Schilderung der Phäakenwelt. Der Herausgeber hat daher vorgezogen, es bei dem von Burckhardt selbst aufgezeichneten Abschluß bewenden zu lassen., und in den hingeworfenen Fragmenten aus den Reden und dem Dialog der Tragödie finden sich einzelne Zeilen, die zum wunderbarsten und lieblichsten gehören, was Goethe gesagt hat. Vollends der südliche Ton und Klang, welcher das Ganze würde durchdrungen haben, ist durch keine andere Dichtung Goethe's zu ersetzen:
Ein weißer Glanz ruht über Land und Meer
Und duftend schwebt der Aether ohne Wolken.
Acht Jahre später (1795) läßt er Mignon singen:
Kennst du das Land, wo die Citronen blühn,
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?
Kennst du es wohl?