Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Affentarzan saß am Fuße eines großen Baumes und flocht ein neues Grasseil. Neben ihm lagen die zerfransten Reste des alten, welches Sheeta, der Leopard, mit Zähnen und Krallen zerfetzt hatte. Nur die Hälfte davon war noch da, die andere Hälfte hatte die wütende Katze mit fortgeschleppt, als sie immer noch mit der Schlinge um den wilden Hals, das lose Ende durch die Dschungel nachschleifend, im Unterholz verschwand.
Tarzan lächelte, als er an Sheetas große Wut dachte, wie er sich krampfhaft bemühte, die hindernden Stränge loszuwerden, wie er teils vor Haß, teils vor Wut, teils vor Angst kreischte. Er dachte mit Lächeln an die unbehaglichen Gefühle seines Gegners und fügte in Vorahnung einer anderen Gelegenheit zur Verstärkung seinem neuen Seil noch eine Faser mehr zu.
Dies würde das stärkste und schwerste Seil werden, das Affentarzan je fertigte. Ihn erfüllten bereits Vorgefühle, als ob Numa, der Löwe, sich bereits erfolglos anstrengte, die Schlinge zu brechen. Er war ganz zufrieden, denn Hirn wie Hand waren tätig. Nicht weniger zufrieden fühlten sich seine Genossen von Kerschaks Horde auf ihrer Futtersuche in der Lichtung und den Bäumen ringsum.
Kein verwirrender Gedanke an die Zukunft belastete ihr Gemüt, und nur gelegentlich erinnerten sie sich ganz nebelhaft an die allernächste Vergangenheit. Das ergötzliche Geschäft, den Bauch zu füllen, versetzte sie in eine Art grober Genügsamkeit und Zufriedenheit. Nachher legten sie sich schlafen – das war so ihre Lebensweise. Sie freuten sich darüber, wie wir alle über die unsrige – und wie auch Tarzan sich über die seinige freute. Möglicherweise hatten sie sogar mehr Freude am Leben als wir, denn wer kann sagen, ob die Geschöpfe der Dschungel den Zweck ihres Daseins, zu dem sie erschaffen wurden, nicht vielleicht besser erfüllen als der Mensch mit seinem vielen Sichzersplittern in fremden Gebieten und seinen Verkehrungen der Naturgesetze. Und was könnte größere Zufriedenheit und höheres Glück gewähren als der Gedanke, daß man seine Bestimmung erfüllt?
Tarzan arbeitete und Gazan, Teekas kleines Balu, spielte um ihn herum, während Teeka auf der anderen Seite der Lichtung Futter suchte. Weder Teeka als Mutter, noch der mürrische Familienvater Taug nährten Argwohn hinsichtlich der Absichten Tarzans gegenüber ihrem Erstgeborenen. Hatte er nicht dem Tode getrotzt, um Gazan vor den Fängen und Krallen Sheetas zu retten? Hätschelte und streichelte er das Kleine nicht mit ebensoviel offensichtlicher Liebe wie Teeka selbst? Ihre Furcht war beseitigt und Tarzan fand sich nun oft genug in der Rolle eines Kindermädchens für einen winzigen Menschenaffen – einem Beruf, den er keineswegs langweilig fand, da Gazan eine unerschöpfliche Quelle der Überraschung und Unterhaltung war.
Eben jetzt entwickelte das Äfflein bereits jenes nach den Bäumen zielende Streben, das ihm während der Jugendjahre, wo rasche Flucht in die unteren Zweige der Bäume weit wichtiger und wertvoller ist, als die noch unentwickelten Muskeln und unerprobten Reißzähne, so gute Dienste leisten mußte. Fünfzehn oder zwanzig Schritt von dem Baum, unter dessen Ästen Tarzan an seinem Seil flocht, trappelte es zum Anlauf zurück, huschte wieder vorwärts und kletterte gewandt zu den unteren Ästen hinauf. Dort blieb es dann ein oder zwei Sekunden voll Stolz über seine Leistung sitzen, um wieder zur Erde herunterzuklettern und von vorne anzufangen. Manchmal, richtiger oft genug, denn es war ein Affe, lenkte etwas anderes seine Aufmerksamkeit ab – ein Käfer, eine Raupe, eine Feldmaus – und husch war es dahinter her. Die Raupen fing es wohl und manchmal auch die Käfer, aber die Feldmäuse lachten es aus. Jetzt hatte Gazan das Ende des Seils entdeckt, an dem Tarzan arbeitete. Er packte es mit seiner kleinen Hand, riß – einem lebenden Gummiball zum Verwechseln ähnlich – damit aus, zog es dem Affenmenschen aus der Hand und lief über die Lichtung. Tarzan sprang auf und hinter her, aber es zeigte sich keine Spur von Ärger in seinem Gesicht oder in seiner Stimme, während er dem spitzbübischen, kleinen Balu zurief, das Seil liegen zu lassen.
Geradewegs zu seiner Mutter raste Gazan und Tarzan kam hinterdrein. Teeka sah vom Futter auf und bemerkte erst nur, daß Gazan zu ihr geflohen kam und daß ihn ein anderer verfolgte. Sie sträubte die Haare und zeigte die Zähne. Aber als sie sah, daß der Verfolger Tarzan war, wendete sie sich wieder der Angelegenheit zu, die sie eben beschäftigt hatte. Gerade vor ihren Füßen überholte der Affenmensch das Balu und obgleich der Kleine quiekte und sich wehrte, als ihn Tarzan packte, sah Teeka doch nur gelegentlich hin. Von Tarzans Händen fürchtete sie für ihren Erstgeborenen keinerlei Harm mehr. Hatte er nicht bei zwei Gelegenheiten Gazan gerettet?
Tarzan holte sich sein Seil wieder und hockte sich wieder mit seiner Arbeit unter den Baum, aber er mußte von nun an gut auf das spielende Balu achtgeben, denn dieses war jetzt ganz darauf versessen, das Seil zu stehlen, sobald sein großer, glatthaariger Vetter für einen Augenblick nicht auf der Hut war.
Aber selbst unter dieser Behinderung bekam Tarzan endlich sein Seil fertig; eine lange, geschmeidige Waffe war es geworden, stärker als je eine, die er gefertigt. Das zerrissene Ende seines früheren gab er Gazan als Spielzeug, denn er hatte die Absicht, Gazan in seine eigene Schule zu nehmen, sobald der Kleine alt und kräftig genug war, um aus seinen Lehren Nutzen zu ziehen.
Vorläufig war der dem Äfflein angeborene Nachahmungstrieb genügend, um ihn mit Tarzans Waffen und Wegen vertraut zu machen, und während der Affenmensch sich mit dem neuen Seil um die Schulter in die Dschungel davonschwang, hüpfte klein Gazan in kindlichem Entzücken mit dem alten Seil als Schleppe über die Lichtung.
Während Tarzan auf seinem Wege sowohl Beute zur Nahrung wie ein genügend edles Opfer suchte, um seine neue Waffe daran zu erproben, war sein Geist häufig mit Gazan beschäftigt. Der Affenmensch hatte von Anbeginn eine starke Vorliebe für Gazan gefaßt, teils um des kleinen Affen selbst willen, teils weil das Balu Teeka gehörte, die seine erste Flamme gewesen war. Außerdem sehnte sich Tarzans Menschenherz nach einem fühlenden Geschöpf, dem er jene natürliche Zuneigung erweisen konnte, die jedem normal empfindenden Mitglied des genus homo innewohnt. Tarzan beneidete Teeka. Allerdings erwiderte Gazan offenbar Tarzans Zuneigung in hohem Grade, er zog ihn sogar seinem sauertöpfischen Erzeuger vor. Aber wenn der Kleine Schmerzen oder Angst hatte, wenn er müde oder hungrig war, dann rettete er sich zu Teeka. In solchen Augenblicken fühlte sich Tarzan schrecklich allein auf der Welt und sehnte sich verzweifelt nach jemand, der sich an ihn um Hilfe und Schutz wenden würde.
Taug hatte Teeka, Teeka hatte Gazan. Und beinahe jeder andere Bulle und jedes Weibchen Kerschaks hatte jemand zum lieben und wurde wiedergeliebt. Tarzan konnte natürlich seine Gedanken nicht in dieser bestimmten Form fassen – er wußte nur, daß er sich nach etwas sehnte, das ihm versagt blieb, etwas, das ihm durch das Verhältnis von Teeka zu ihrem Balu verdeutlicht war. Darum beneidete er Teeka und sehnte sich nach einem eigenen Balu.
Er sah Sheeta und sein Weibchen mit ihrer Familie von drei Kleinen, und tiefer drin im Lande bei den Felshügeln, wo man während der Tageshitze im dichten Schatten des Dickichts unter der Kühle der überhängenden Felsen ausruhen konnte, hatte Tarzan das Lager Numas, des Löwen, und der Löwin Sabor entdeckt. Dort hatte er sie beobachtet, sie und ihre kleinen Balus – leopardenartig gefleckte, lustig spielende Geschöpfchen. Und Bara, den Hirsch, hatte er mit seinem Kälbchen gesehen und Buto, das Nashorn, mit seinen plumpen Kleinen. Alle Geschöpfe in der Dschungel hatten ihre Familie, alle – außer Tarzan. Wenn der Affenmensch daran dachte, fühlte er Trauer; Trauer und Einsamkeit.
Aber jetzt verjagte die Witterung eines Wildes jeden anderen Gedanken aus seinem jugendlichen Gemüt und katzenartig kroch er auf dem sich biegenden Ast weit hinaus bis über die Wildfährte, welche zu der alten Wasserstelle der wilden Tiere dieser wilden Welt führte.
Wie viele tausendmal hatte sich wohl der große alte Ast schon unter dem Gewichte eines blutdürstigen Jägers in den langen Jahren gebogen, seit er seine belaubten Zweige über den ausgetretenen Dschungelpfad streckte! Tarzan, der Affenmensch, Sheeta, der Leopard, und Histah, die Schlange, kannten ihn wohl; sie hatten die Rinde seiner Oberfläche schon ganz glatt geschabt.
Heute war es Horta, der Eber, der zu dem Aufpasser droben auf dem alten Baume die Fährte herabkam – Horta, der Eber, dessen furchtbare Hauer und dessen teuflische Wut ihn selbst vor den wildesten und ausgehungertsten der großen Fleischfresser schützte.
Aber für Tarzan war Fleisch Fleisch. Wenn er Hunger hatte, ließ er nichts, das eßbar war und gut schmeckte, ungeschoren und unangegriffen. Im Hunger wie im Kampfe war der Affenmensch wilder als der gefürchtetste Bewohner der Dschungel. Er kannte weder Furcht noch Gnade, ausgenommen jene seltenen Fälle, bei denen ihm eine fremde, unerklärliche Gewalt die Hand festhielt – für ihn vielleicht darum unerklärlich, weil er von seiner Abstammung nichts wußte und deshalb auch seinen Anteil und sein Erbrecht an Humanität und Zivilisation nicht kannte.
Anstatt also zu warten, bis sich ein weniger gefahrvolles Mahl bot, warf Tarzan auch heute wieder seine neue Schlinge um den Hals Hortas, des Ebers. Für die ungeprüften Stränge des Seils war das eine vorzügliche Festigkeitsprobe. Der wütende Eber schoß hierhin und dorthin, aber jedesmal hielt ihn das neue Seil über dem Aste am Baumstamm fest, um welchen es Tarzan nach dem Wurf geschlungen hatte.
Horta grunzte und tobte und schlug seine mächtigen Hauer in den Stamm des alten Dschungelpatriarchen, daß die Rinde nach allen Richtungen flog, als Tarzan hinter ihm auf den Boden sprang. Der Affenmensch hielt sein langes, scharfes Messer, seinen ständigen Begleiter, seit vor langer Zeit durch Zufall die Spitze in den Leib von Volgani, dem Gorilla, gedrungen war und dadurch das blutende, zerrissene Menschenkind vor dem sicheren Tode bewahrt hatte.
Tarzan ging auf Horta zu, der sich jetzt herumwarf, um seinem Feinde zu begegnen. So mächtig und muskulös auch der junge Riese war, so schien es doch die reinste Narrheit, nur mit einem schwachen Jagdmesser bewaffnet ein so furchtbares Geschöpf wie den Eber Horta anzugreifen. So mußte der denken, der Horta nur wenig und Tarzan gar nicht kannte.
Einen Augenblick stierte Horta den Affenmenschen regungslos an. Seine boshaften, tiefliegenden Augen blitzten wild; dann schüttelte er den gesenkten Kopf.
Schlammfresser! höhnte der Affenmensch. Schmutzwälzer! Selbst dein Fleisch stinkt, aber es ist saftig und gibt Tarzan Kraft. Heute werde ich dein Herz essen, du Herr mit den großen Hauern! Dadurch will ich das, welches gegen meine eigenen Rippen schlägt, wild erhalten.
Obgleich Horta nichts von dem verstand, was Tarzan sagte, war er doch nicht weniger erbost darüber. Er sah nur einen nackten Menschen, haarlos und nichtig, der seine armseligen Zähne und schwachen Muskeln gegen seine eigene unbezähmbare Wildheit einsetzte, und fuhr darauf los.
Affentarzan wartete, bis das Hochschlagen eines bösen Hauers eben seinen Oberschenkel aufreißen wollte, dann rührte er sich – nur eine Kleinigkeit wich er zur Seite, aber es ging so schnell, daß ein Blitz im Vergleich damit ein Faulpelz war – mit der Bewegung bückte er sich leicht und trieb mit der ganzen Kraft seines rechten Armes seines Vaters langes Jagdmesser gerade in Hortas Herz. Ein rascher Sprung brachte ihn aus dem Bereich der Todeszuckungen und einen Augenblick später hatte er dem Eber das heiße, triefende Herz entrissen.
Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit suchte Tarzan heute nach Stillung seines Hungers keinen Ruheplatz zum Schlafen, sondern setzte seinen Weg durch die Dschungel mehr auf der Suche nach Erlebnissen als nach Nahrung fort, weil er heute keine Ruhe hatte. So kam es, daß er wieder einmal seine Schritte zum Dorfe des Negerhäuptlings Mbonga lenkte, dessen Stamm er ohne Gewissensbisse seit dem Tage peinigte, an welchem Kulonga, der Sohn des Häuptlings, ihm Kala erschlagen hatte.
Ein Flußlauf wand sich dicht neben dem Dorfe der Schwarzen vorbei. Ein wenig unterhalb der Lichtung, auf welcher die strohgedeckten Hütten der Neger lagen, erreichte Tarzan das Ufer. Das Leben dort hatte stets eine große Anziehungskraft für ihn. Er hatte seine Freude an dem plumpen Wesen von Duro, dem Flußpferd, und fand ein reizvolles Vergnügen darin, das faule Krokodil, Gimla, das sich im Sande von der Sonne braten ließ, zu ärgern. Dann sah er dort auch die Weibchen und die Balus der schwarzen Männer, der Gomangani, um sie zu schrecken, wenn sie – die Weibchen mit ihrem bißchen Wäsche, die Balus mit ihren einfachen Spielsachen – am Ufer hockten.
Heute traf er auf ein Weib und ein Kind, die weiter unten als gewöhnlich an den Fluß gekommen waren. Das Weib suchte eine besondere Art von Schaltieren, die sich nur weiter unten im Uferschlamm fanden. Sie war eine junge Schwarze von etwa dreißig Jahren. Ihre Zähne waren spitz gefeilt, denn ihr Stamm aß Menschenfleisch. Ihre Unterlippe war geschlitzt, um ein mächtiges Gehänge aus Kupfer aufzunehmen, welches sie schon soviele Jahre darin getragen hatte, daß die Unterlippe zu einer wunderbaren Länge gezogen herabhing und Zähne und Gaumen des Unterkiefers sehen ließ. Dazu war ihre Nase durchbohrt und ein Holzstab durchgezogen. Schmuck aus Metall baumelte an ihren Ohren, an der Stirne und den Wangen. Auf dem Kinn und der Nase befanden sich farbige Tätowierungen. Außer einem Lendenschurz aus Gras war sie nackt. Aber sie hielt sich selbst für sehr hübsch und war es auch nach Ansicht der Männer aus Mbongas Stamm, obgleich sie von einem anderen Stamme kam – sie war als Mädchen von Mbongas Kriegern als Kriegsbeute weggeschleppt worden.
Ihr Kind war ein zehnjähriger Knabe, schlank, gerade gewachsen und für einen Schwarzen leidlich hübsch. Tarzan sah aus den ihn verdeckenden Blättern eines nahen Busches auf die beiden. Er wollte schon mit einem schreckenerregenden Schrei zu ihnen herunterspringen, um sich am Anblick ihrer Angst und haltlosen Flucht zu ergötzen, als ihm ein neuer Gedanke kam. Hier war ein Balu, das so wie er selbst gebaut war. Seine Haut war zwar schwarz, aber was schadete das? Tarzan hatte noch nie einen Weißen gesehen. So weit er wußte, war er der einzige Vertreter dieser merkwürdigen Daseinsform auf der ganzen Erde. Da Tarzan kein eigenes Balu hatte, würde der schwarze Knabe als Balu sich vorzüglich für ihn eignen. Er würde ihn sorgfältig erziehen, ihn gut füttern und so gut beschützen, wie es eben nur Affentarzan konnte, und er würde ihm aus seiner halb menschlichen, halb tierischen Weisheit alle Geheimnisse der Dschungel von den modernden Pflanzen auf dem Boden bis zu den luftigen Wipfeln der höchsten Bäume beibringen.
Tarzan nahm das Seil ab und legte die Schlinge zurecht. Die beiden vor ihm hatten von seiner schreckenerregenden Gegenwart keine Ahnung, suchten eifrig nach Schalentieren und stocherten mit kurzen Stöcken im Schlamm.
Tarzan trat hinter ihnen aus der Dschungel. Die Schlinge lag vor ihm auf dem Boden. Von einem kurzen Ruck seines rechten Armes stieg sie geschmeidig in die Höhe, schwebte einen Augenblick über dem Haupte des ahnungslosen Jungen und fiel dann über ihn. Als sie an seinen Schultern herabglitt, zog sie Tarzan mit einem schnellen Zug fest und fesselte dadurch dem Knaben die Arme an der Seite. Als sich seine Mutter auf seinen Angstschrei nach ihm umwandte, sah sie gerade noch, wie er von einem weißen Riesen kaum ein Dutzend Schritte entfernt in den Schatten eines nahen Baumes gezogen wurde.
Mit einem wilden Angst- und Wutschrei lief das Weib furchtlos auf den Affenmenschen zu. Tarzan sah in ihrem Gesicht einen Mut und eine Entschlossenheit, die selbst vor dem Tode nicht zurückschreckte. Auch wenn sie ruhig war, war ihr Gesicht schon sehr häßlich, aber von der Leidenschaft verzerrt wurde ihr Ausdruck geradezu teuflisch. Selbst der Affenmensch wich zurück, aber mehr aus Abscheu als aus Furcht – Furcht kannte er nicht.
Das Balu des schwarzen Weibchens biß und kratzte, als es Tarzan unter den Arm nahm und damit in den überhängenden Zweigen verschwand, gerade als die ergrimmte Mutter vorwärtsstürzte, um Tarzan zu packen und mit ihm zu kämpfen. Während er mit seiner immer noch strampelnden Beute in der Tiefe des Waldes verschwand, überlegte er sich, welche Entwicklungsmöglichkeiten für die Tüchtigkeit der Gomangani gegeben wären, wenn deren Männchen ebenso furchtbar wären wie die Weibchen.
In sicherer Entfernung von der beraubten Mutter und außer Hörweite ihrer Schreie und Drohungen hielt Tarzan an, um seine Beute zu besichtigen, die nunmehr derart verängstigt war, daß sie Gegenwehr und Schreien aufgab.
Das erschreckte Kind rollte angstvoll die Augen und blickte seinen Entführer mit Augen an, die rund um die Pupille das Weiße zeigten.
Ich bin Tarzan, sagte der Affenmensch in der Sprache der Menschenaffen. Ich werde dir nichts tun. Du bist jetzt Tarzans Balu. Tarzan wird dich beschützen und ernähren. Das Beste aus der Dschungel soll Tarzans Balu bekommen, denn Tarzan ist ein gewaltiger Jäger. Du brauchst dich vor keinem, nicht einmal vor Numa, dem Löwen, zu fürchten, denn Tarzan ist ein mächtiger Kämpfer. Keiner ist so groß wie Tarzan, der Sohn der Kala. Habe also keine Furcht.
Aber das Kind wimmerte nur zitternd, denn es verstand die Sprüche der Riesenaffen nicht, und die Stimme Tarzans klang ihm wie das Bellen und Knurren eines Tieres. Außerdem hatte er schon über den bösen, weißen Waldgott Geschichten gehört. Dieser hatte Kulonga und andere Krieger des Häuptlings Mbonga getötet. Er war es, der durch Zauberei immer lautlos im Dunkel der Nacht in das Dorf kam, um Pfeile und Gift zu stehlen und Weiber und Kinder, ja sogar die großen Krieger zu ängstigen. Zweifellos fraß dieser böse Gott kleine Kinder. Hatte ihm seine Mutter das nicht gesagt, wenn er unartig gewesen war? Hatte sie dann nicht immer gedroht, ihn dem weißen Dschungelgott zu geben, wenn er nicht artig wäre? Der kleine schwarze Tibo zitterte wie im Fieber.
Frierst du, Go-bu-balu? fragte Tarzan, und gab ihm an Stelle eines besseren Namens die Bezeichnung der Affen für »schwarzes Kind«. Die Sonne ist doch warm, warum fröstelt es dich?
Tibo verstand das nicht, es schrie nach seiner Mama, bat den großen, weißen Gott, ihn laufen zu lassen und versprach, von nun an immer ein guter Junge sein zu wollen, wenn sein Flehen erhört würde. Tarzan schüttelte den Kopf. Nicht ein Wort konnte er verstehen. So ging das nicht weiter! Er mußte Go-bu-balu erst einmal eine Sprache beibringen, die sich wie Reden anhörte. Tarzan war ganz sicher, daß Go-bu-balus Laute überhaupt keine Sprache waren. Sie klangen genau so sinnlos wie das Geschnatter der dummen Vögel. Der Affenmensch dachte sich, es sei wohl am besten, ihn so schnell wie möglich zu Kerschaks Horde zu bringen, wo er die Mangani miteinander reden hörte. Auf diese Art konnte er bald eine vernünftige Sprache lernen.
Tarzan erhob sich auf seinem schwanken Zweig hoch über dem Boden und winkte dem Kind, zu folgen; aber Tibo klammerte sich nur an den Baumstamm an und weinte. Als Junge und geborener Afrikaner, der er war, war er natürlich schon oft auf Bäume geklettert, aber der Gedanke, durch die Bäume zu eilen und sich von Zweig zu Zweig zu schwingen, wie es sein Entführer zu seinem Entsetzen getan hatte, als er Tibo seiner Mutter entriß, erfüllte sein Kinderherz mit Schauder.
Tarzan seufzte. Sein neu erworbenes Balu hatte noch viel, viel zu lernen. Es war ein Jammer, daß ein Balu von seiner Größe und Stärke noch so weit zurück sein sollte. Er suchte Tibo durch Liebkosungen zum Folgen zu bringen, aber das Kind traute sich nicht, und so nahm ihn Tarzan auf und trug ihn auf dem Rücken. Tibo kratzte und biß nicht länger. Ein Entkommen war unmöglich. Schon jetzt wußte er, daß er kaum noch seinen Weg nach Mbongas Dorf zurückgefunden hätte, wenn er wieder auf den Boden gesetzt worden wäre. Und selbst vorausgesetzt, er hätte es gekonnt, dann waren auch noch die Löwen, die Leoparden und die Hyänen, und Tibo wußte, daß sie alle gern kleine schwarze Jungen fraßen.
Vorläufig hatte ihm der weiße Dschungelgott nichts zuleid getan. Von den schrecklichen, grünäugigen Menschenfressern hatte er noch nicht einmal soviel Schonung zu erwarten. Es war also immer noch das kleinere von zwei Übeln, wenn er sich von dem weißen Gott wegbringen ließ, ohne zu kratzen und zu beißen, wie er erst getan hatte.
Während sich Tarzan rasch durch die Bäume schwang, hielt der kleine Tibo vor Angst lieber die Augen geschlossen, als daß er in den fürchterlichen Abgrund hinuntergeblickt hätte. In seinem ganzen Leben war Tibo noch nicht so erschrocken gewesen, als jetzt, da der weiße Riese mit ihm durch den Wald flog und trotzdem stahl sich ein unerklärliches Gefühl der Sicherheit in die Seele des Knaben, als er sah, wie wohlberechnet die Sprünge des Affenmenschen waren, wie untrüglich sicher seine Hände die Griffe der schwankenden Zweige faßten. Und dann merkte er, wie sicher er auf halber Höhe der Bäume so außer dem Bereiche der gefürchteten Löwen war.
Inzwischen kam Tarzan zu seiner Horde auf die Lichtung und ließ sich mit seinem neuen Balu auf den Schultern zu ihnen hinab. Er war schon mitten unter ihnen, ehe Tibo eine der großen behaarten Gestalten erblickte oder ehe die Affen merkten, daß Tarzan nicht allein war. Als sie den kleinen Gomangani auf seinem Rücken sich anklammern sahen, kamen einige von ihnen neugierig knurrend mit zurückgezogenen Lippen herbei.
Eine Stunde zuvor hatte der kleine Tibo geglaubt, er habe die allerschlimmste Angst kennen gelernt, aber als er jetzt diese fürchterlichen Bestien um sich sah, war ihm alles bisher durchgemachte nichts im Vergleich damit. Warum blieb der große, weiße Riese so unbekümmert stehen? Weshalb entfloh er nicht, ehe diese schrecklichen, behaarten Baummenschen über sie beide herfielen und sie in Stücke rissen? Aber auf einmal erinnerte sich Tibo an eine andere schreckliche Geschichte, die in Mbongas Dorf von Mund zu Mund ging, nämlich daß dieser große weiße Teufel der Dschungel nur ein unbehaarter Affe war, denn man hatte ihn doch in deren Gesellschaft gesehen.
Tibo konnte nur mit weitaufgerissenen Augen auf die sich nahenden Affen starren. Er sah ihre dicken Brauen, die riesigen Fangzähne, die bösen Augen, die mächtigen Muskeln unter den zottigen Fellen. Jede Haltung, jeder Ausdruck war eine Drohung. Tarzan sah das auch und zog Tibo vor sich.
Das ist Tarzans Go-bu-balu, sagte er. Rührt ihn nicht an, sonst tötet euch Tarzan. Dabei zeigte er dem nächststehenden Affen seine Reißzähne.
Das ist ein Gomangani, erwiderte der Affe. Lasse mich ihn töten. Es ist ein Gomangani, die Gomangani sind unsere Feinde. Laß mich ihn töten.
Geh' weg, knurrte Tarzan. Gunto, ich sage dir, das hier ist Tarzans Balu. Geh' weg, oder Tarzan wird dich töten. Mit diesen Worten tat der Affenmensch einen Schritt auf den vorrückenden Affen zu.
Steif und hochmütig schob sich der andere zur Seite, wie ein Hund, der einem anderen begegnet und zu furchtsam zum Kämpfen ist, aber aus Stolz sich nicht herumdrehen und davonrennen will.
Hinter ihm kam, von Neugierde getrieben, Teeka. Der kleine Gazan trippelte an ihrer Seite. Sie waren voller Erstaunen wie die anderen, aber Teeka zeigte keine Zähne. Tarzan bemerkte dies und winkte ihr, näher zu kommen.
Jetzt hat Tarzan ein Balu, sagte er. Seines und Teekas Balu können zusammen spielen.
Es ist ein Gomangani, entgegnete Teeka. Er wird mein Balu töten. Nimm ihn fort, Tarzan.
Tarzan lachte: Er kann ja nicht einmal Pamba, der Ratte, etwas tun. Er ist noch ein kleines Balu und hat schreckliche Angst. Laß Gazan mit ihm spielen.
Teeka hegte immer noch Befürchtungen, denn trotz ihrer großen Wildheit sind die großen Menschenaffen scheu; aber schließlich vertraute sie auf Tarzan und schob Gazan dem kleinen schwarzen Jungen entgegen. Der kleine Affe zog sich, vom Instinkt geleitet, zu seiner Mutter zurück, entblößte seine kleinen Fänge und schrie halb furchtsam, halb zornig.
Da auch Tibo keinen Wunsch bezeugte, mit Gazan nähere Bekanntschaft zu machen, gab Tarzan seine Bemühungen für diesmal auf.
Während der folgenden Tage fand Tarzan seine Zeit stark in Anspruch genommen. Sein Balu erwies sich als größere Verantwortlichkeit als er gedacht hatte. Nicht einen Augenblick durfte er es allein lassen, da vom ganzen Stamm höchstens Teeka sich enthalten haben würde, den unglücklichen Schwarzen zu töten, sobald Tarzan nicht aufgepaßt hätte. Wenn der Affenmensch jagte, mußte er Go-bu-balu immer mit sich tragen. Das war lästig und dann schien Tarzan der kleine Schwarze so dumm und furchtsam zu sein. Selbst den kleinen Dschungeltieren gegenüber war er völlig hilflos. Tarzan wunderte sich, daß er überhaupt noch am Leben war. Er suchte ihn zu unterrichten und fand einen Hoffnungsschimmer darin, daß Go-bu-balu ein paar Worte der Affensprache gelernt hatte und schon an einem hohen Ast hängen konnte, ohne vor Angst zu schreien; aber irgend etwas an dem Kind beunruhigte Tarzan. Er hatte oft die Schwarzen in ihrem Dorfe belauscht, hatte ihre Kinder spielen sehen und immer hatten sie viel gelacht. Aber Klein-Go-bu-balu lachte niemals. Ab und zu lächelte er verstört, aber richtiges Lachen war ihm fremd. Tarzan sagte sich, daß der Schwarze eigentlich lachen müsse. Das war doch die Art der Gomangani.
Er sah auch, daß der kleine Bursche oft nicht essen wollte und von Tag zu Tag dünner wurde. Manchmal überraschte er den Knaben dabei, wie er leise in sich hineinweinte. Tarzan suchte ihn dann zu trösten, wie es Kala mit dem Affenmenschen gemacht hatte, als er noch ein Balu war, aber es nützte nichts. Go-bu-balu fürchtete sich nur nicht mehr vor Tarzan – aber das war auch alles. Jedes andere Lebewesen in der Dschungel fürchtete er. Er fürchtete die Dschungeltage mit ihren weiten Wegen durch die schwindeligen Baumwipfel und die Dschungelnächte mit ihren gefährlichen, schwanken Nachtquartieren hoch über dem Boden, während die großen Raubtiere unter ihm auf ihren Raubzügen knurrten und fauchten.
Tarzan wußte nicht mehr, was er anfangen sollte. Sein englisches Blut machte es für ihn schwer, einen angefangenen Plan wieder zu verlassen, obgleich er selbst zugeben mußte, daß sein Balu keineswegs seine Hoffnungen erfüllte. Obwohl er seiner selbsterwählten Aufgabe treu blieb und Go-bu-balu auch lieb zu haben begann, konnte er sich doch nicht darüber täuschen, daß er für ihn nicht die feurige Wärme und leidenschaftliche Zuneigung fühlte, welche Teeka für Gazan zeigte und die die schwarze Mutter Go-bu-balu erwiesen hatte.
Die würgende Angst des kleinen schwarzen Knaben ging allmählich in Vertrauen zu Tarzan und in Bewunderung über. Er hatte bisher von dem großen weißen Teufelsgott nur Gutes erwiesen bekommen, aber er hatte gesehen, mit welcher Wildheit sein gütiger Entführer mit anderen umgehen konnte. Er hatte gesehen, wie er auf einen männlichen Affen gesprungen war, der hartnäckig Go-bu-balu packen und töten wollte. Er hatte gesehen, wie sich der Affenmensch in den Nacken seines Gegners verbiß und seine mächtigen Muskeln im Kampfe spannte. Er hatte das wilde tierische Knurren und Kampfgebrüll vernommen und mit Schauer gefunden, daß er seinen Beschützer und den behaarten Affen dabei nicht unterscheiden konnte.
Er hatte zugesehen, wie Tarzan gerade so wie Numa, der Löwe, einen Bock niederwarf, indem er ihm auf den Rücken sprang und sein Gebiß in des Tieres Nacken schlug. Tibo hatte es bei dem Anblick geschaudert, aber trotzdem hatte er sich nicht erregt gefühlt, und zum ersten Male entstand in seinem schwerfälligen Negerhirn der unklare Wunsch, es seinem grimmen Pflegevater gleichzutun. Aber der göttliche Funke, welcher Tarzan zu seiner Beherrschung des wilden Dschungellebens gebracht hatte, fehlte bei dem kleinen schwarzen Knaben Tibo. Es fehlte ihm die Einbildungskraft, und Einbildungskraft ist nur ein anderer Ausdruck für höhere Intelligenz.
Die Einbildungskraft ist es, welche Brücken und Städte baut und Reiche gründet. Den Tieren unbekannt, bei den Schwarzen nur wenig zu finden, ist sie einem unter Hunderttausenden aus der herrschenden Rasse der Erde als Himmelsgabe verliehen, damit der Mensch nicht von der Erde verschwinde.
Während sich Tarzan über die Zukunft seines Balus Gedanken machte, nahm ihm das Geschick die Angelegenheit aus den Händen. Momaya, die durch des Knaben Verlust tiefbetrübte Mutter Tibos, hatte erfolglos den Zauberer ihres Stammes zu Rate gezogen. Die von ihm gemachte Medizin war keine gute Medizin, denn obgleich ihm Momaya zwei Ziegen dafür bezahlt hatte, brachte sie Tibo nicht wieder und gab noch nicht einmal an, wo man mit einiger Aussicht, ihn zu finden, nach dem Knaben suchen solle. Momaya hatte wenig Geduld, und da sie aus einem anderen Stamme war, hatte sie wenig Achtung vor dem Zauberer des Stammes, zu dem ihr Ehemann gehörte. Als er ihr daher bedeutete, daß er für zwei weitere fette Ziegen zweifellos eine noch stärkere Medizin liefern könne, ließ sie ihre scharfe Zunge gegen ihn mit so gutem Erfolge los, daß er froh war, sich mit seinem Zebraschweif und dem Zaubertopf in Sicherheit zu bringen.
Nach seinem Verschwinden unterdrückte Momaya ihren Ärger und überlegte, wie so oft seit Tibos Entführung, ob sie nicht doch seinen Aufenthaltsort ausfindig machen könne oder ob sie nicht wenigstens feststellen könne, ob er noch lebe oder ob er tot sei.
Die Schwarzen wußten, daß Tarzan kein Menschenfleisch aß, denn obgleich er mehr als einen von ihnen getötet hatte, hatte er doch dessen Fleisch nicht angerührt. Außerdem waren die Leichen stets wie aus dem Himmel herab mitten in das Dorf gefallen. Da Tibos Leiche nicht gefunden wurde, nahm Momaya dies als Grund, daß er noch lebte. Aber wo?
Da erinnerte sie sich plötzlich an Bukawai, den Unreinen, der in einer Höhle an den Hügeln im Norden lebte und, wie allen bekannt war, in seiner üblen Behausung Teufel beherbergte. Nur wenige, wenn sich überhaupt solche fanden, hatten die Tollkühnheit, den alten Bukawai zu besuchen: erstens aus Furcht vor seiner schwarzen Magie und den zwei bei ihm lebenden Hyänen, die nach allgemeinem Glauben verkleidete Teufel waren, und zweitens aus Furcht vor der bösen Krankheit, die ihn zum Ausgestoßenen gemacht hatte und ihm langsam das ganze Gesicht zerfraß. Nun schloß Momaya mit ziemlicher Schlauheit, daß, wenn irgend jemand, Bukawai, der zu Göttern und Teufeln in freundlicher Beziehung stand, wissen mußte, wo ihr Tibo weilte, denn ein Gott oder ein Teufel hatte ihren Tibo entführt. Aber selbst ihre große Mutterliebe wurde hart durch die Notwendigkeit, durch die dunkle Dschungel zu den fernen Hügeln und dem unheimlichen Sitze Bukawais, des Unreinen, und seiner Teufel zu wandern, auf die Probe gestellt.
Indessen ist Mutterliebe eine jener menschlichen Leidenschaften, die nahe an den Begriff unüberwindlich kommen. Sie bringt die selbst gebrechlichen Kräfte eines schwachen Weibes zu heldenhaften Taten. Momaya war zwar weder gebrechlich noch körperlich schwach, aber sie war ein Weib, eine unwissende, abergläubische, afrikanische Wilde. Für Momaya war die Dschungel von noch viel schrecklicheren Dingen als Löwen und Leoparden bewohnt – es gab da schauervolle, namenlose Wesen, die die Macht besaßen, unter verschiedenen, harmlosen Verkleidungen entsetzliches Unheil anzurichten.
Einer der Krieger des Dorfes, welcher einst zufällig auf Bukawais Wohnort gestoßen war, gab Tibos Mutter an, wo sie ihn finden könne. An einer Quelle in einer kleinen Felsenschlucht zwischen zwei Hügeln befand sich der Ort. Der östliche der zwei Hügel war an einem riesigen Granitfelsen auf seiner Kuppe leicht kenntlich. Der westliche Hügel war etwas niedriger als sein Gefährte und trug außer einem einzigen Mimosenbaum etwas unterhalb des Gipfels keinerlei Vegetation.
Der Mann versicherte ihr, man könne schon aus ziemlicher Entfernung die beiden Berge sehen, welche einen vorzüglichen Wegweiser bildeten. Er riet ihr aber, ein so närrisches und gefährliches Abenteuer zu unterlassen und betonte nachdrücklich, was sie ohnehin schon gut genug wußte, daß, falls sie Bukawai und seinen Dämonen ohne Unglück entkäme, sie bei den großen Raubtieren der Dschungel, durch welche sie auf dem Hin- und Rückweg mußte, wohl nicht so glatt durchkommen werde.
Der Krieger ging sogar soweit, Momayas Ehemann zu warnen, der sich seinerseits wieder an den Häuptling Mbonga wendete, weil er bei der zänkischen Frau seiner Wahl nicht viel zu sagen hatte. Dieser lud Momaya vor sich und drohte ihr mit den unangenehmsten Strafen, wenn sie wagen sollte, eine so gottlose Fahrt anzutreten. Das besondere Interesse des alten Häuptlings lag einzig und allein in dem seit Urzeiten bestehenden Zusammengehen von Kirche und Staat. Der ortsansässige Zauberer kannte natürlich seine eigene Medizin besser als andere sie kannten und eiferte gegen alle, die mit Verbesserungen in der schwarzen Kunst zu kommen behaupteten. Er hatte längst von Bukawais Kräften gehört und fürchtete für den Fall einer Wiedergewinnung von Momayas verlorenem Kinde viel für seine Stammespfründe und deren Einkünfte, die dann natürlich dem »Unreinen« zufließen würden. Da Mbonga als Häuptling von des Zauberers Einkünften einen bestimmten Teil bekam, von Bukawai aber nichts zu erwarten hatte, so hing er natürlich mit Herz und Seele an der »orthodoxen Kirche«.
Doch wenn Momaya unerschrockenen Herzens einen Weg durch die Dschungel und einen Besuch in dem furchtbehexten Heim Bukawais erwog, ließ sie sich jedenfalls nicht durch Mbongas Drohungen mit künftigen Strafen abhalten, zumal sie diesen insgeheim verachtete. Aber sie schien sich seinem Verbot zu fügen und ging schweigend zu ihrer Hütte zurück.
Am liebsten wäre sie bei Tageslicht aufgebrochen, aber das ging jetzt nicht, weil sie sich Nahrung und irgend eine Waffe mitnehmen mußte; und bei Tage hätte sie diese Dinge nie ohne neugierige Fragen aus dem Dorfe bekommen und Mbonga wäre sofort davon unterrichtet worden.
So wartete Momaya eben bis zum Abend und schlüpfte, gerade als die Tore geschlossen wurden, aus dem Dorfe in das Dunkel der Dschungel. Sie war voller Furcht, aber gleichwohl nahm sie entschlossen ihren Weg nach Norden, und obgleich sie oft genug anhielt, um atemlos auf die großen Katzen zu lauschen, die ihr größter Schrecken waren, setzte sie doch mehrere Stunden lang unentwegt ihren Weg fort, bis sie rechts von sich ein leises Stöhnen hörte, das sie zu einem plötzlichen Halt brachte.
Mit klopfendem Herzen stand das Weib und wagte kaum zu atmen, und dann kam leise, aber untrüglich das verstohlene Knacken von Zweigen und das Grasrascheln unter weichen Tatzen an ihr scharfes Ohr.
Rings um Momaya wuchsen die riesigen Bäume der Tropendschungel mit ihren Girlanden aus Weinranken und Moosen. Sie packte den nächsten und kletterte mit affenartiger Geschwindigkeit zu den Zweigen hinauf. Während sie noch dabei war, stürzte ein großer Körper hinter ihr her, ein drohendes Brüllen ließ die Erde erzittern und etwas flog krachend gegen die nämlichen Schlinggewächse, an denen sie hing – aber tiefer unten.
Momaya zog sich vollends in die sicheren Zweige hinauf und dankte ihrer Vorsicht, daß sie das an einem Faden um den Hals gehängte, getrocknete Menschenohr mitgenommen hatte. Sie hatte immer gewußt, daß dieses Ohr eine gute Medizin war. Als sie noch ein Mädchen war, hatte sie es von dem Zauberer ihres eigenen Stammes bekommen, und es war etwas ganz anderes als die armselige, schwache Medizin von Mbongas Zauberer.
Momaya blieb die ganze Nacht auf ihrem Sitz, denn obgleich der Löwe nach kurzer Zeit nach anderer Beute suchte, wagte sie sich aus Furcht vor einer neuen Begegnung nicht in die Dunkelheit hinab. Aber bei Tagesanbruch kletterte sie herunter und machte sich wieder auf den Weg.
Affentarzan hatte festgestellt, daß sein Balu in Gegenwart der Affen seiner Horde nie die Angst verlor, und fand auch, daß die Mehrzahl der erwachsenen Affen dauernd Go-bu-balus Leben bedrohte. Tarzan konnte den kleinen schwarzen Knaben aus diesem Grunde nicht bei ihnen allein lassen und nahm ihn auf die Jagd mit, die ihn weiter und weiter von dem Lieblingsaufenthalt der Menschenaffen fortbrachte.
Ganz allmählich wuchsen solche Ausflüge in der Länge, und er wanderte in weiten Entfernungen, bis er sich schließlich weiter als je zuvor im Norden befand und inmitten eines Überflusses an Wasser, Wild und Früchten nicht die geringste Lust verspürte, wieder zu seiner Horde zurückzukehren.
Der kleine Go-bu-balu gab bald Zeichen größerer Lebenslust, die im direkten Verhältnis mit der Entfernung von Kerschaks Affen zunahm. Wenn Tarzan auf dem Boden ging, trabte er hinter dem Affenmenschen her, und selbst in den Bäumen oben tat er sein Möglichstes, seinem gewaltigen Pflegevater zu folgen. Der Knabe war traurig und einsilbig. Sein schlanker, kleiner Körper war immer magerer geworden, seit er unter die Affen kam, denn obgleich er als junger Kannibale nicht übermäßig wählerisch beim Essen war, fand doch sein Magen nicht immer an den unheimlichen Dingen Gefallen, welche den Gaumen eines Affenepikureers kitzelten.
Seine großen Augen waren jetzt noch größer, seine Wangen hohl, und wer wollte, konnte jede Rippe an seinem abgezehrten Körper zählen. Vielleicht hatte die dauernde Angst mit seinem körperlichen Zustand ebensoviel zu tun als die oft ungewohnte Ernährung. Tarzan bemerkte diese Veränderung wohl und war besorgt. Er hatte gehofft, sein Balu werde dick und stark werden, und nun war er sehr enttäuscht. Nur in einer Beziehung schien Go-bu-balu Fortschritte zu machen – er beherrschte die Affensprache bereits ganz gut. Ab und zu konnte sich Tarzan mit ihm in ganz zufriedenstellender Weise unterhalten, wobei sie die wortarme Affensprache durch Zeichen ergänzten. Aber meistenteils schwieg Go-bu-balu, wenn ihm keine Fragen vorgelegt wurden. Sein großer Kummer war noch zu neu und zu heftig, als daß er ihn auch nur für Augenblicke hätte vergessen können. Er verging vor dauernder Sehnsucht nach Momaya – für andere mochte sie vielleicht zänkisch, häßlich und abstoßend sein, aber für Tibo war sie »Mama«, die Verkörperung der einzigen großen Liebe, welche keine Selbstsucht kennt und sich nicht im eigenen Feuer verzehrt.
Während die beiden jagten, oder richtiger, während Tarzan jagte und Go-bu-balu ihm sozusagen am Rockschoß hing, sah der Affenmensch vieles und machte sich seine Gedanken. So trafen sie einst Sabor, die im hohen Grase jammerte. Um sie herum tollten spielend zwei kleine pelzbekleidete Bälle, aber sie hatte ihre großen Augen nur auf dem einen, das zwischen ihren großen Vordertatzen lag und sich nicht rührte, das sich nie wieder rühren würde.
Tarzan konnte den Jammer und das Leid der großen Katzenmutter richtig sehen. Er hatte sie erst quälen wollen. Deshalb hatte er sich wie eine Schlange durch die Bäume bis über sie geschlichen, aber als er sah, wie sich die Löwin um ihr totes Junges grämte, hielt ihn etwas davon ab. Mit dem Erwerb von Go-bu-balu war sich Tarzan über die Verantwortlichkeiten und Sorgen des Vaterseins klar geworden, ohne deren Glück zu empfinden. Er konnte mit Sabor fühlen, was er vor wenigen Wochen nicht getan hätte. Und während er so auf Sabor herabsah, erstand plötzlich ungerufen vor seinem geistigen Auge Momaya mit dem Stab durch die Nasenscheidewand und der von dem niederziehenden Gesicht wackelnden Unterlippe. Tarzan sah nicht ihr abstoßendes Aussehen, er sah nur denselben Kummer wie bei Sabor und zuckte zusammen. Jenes merkwürdige Arbeiten des Gehirns, das man gelegentlich Gedankenverbindung nennt, führte ihm plötzlich Teeka und Gazan vor Augen. Wie nun, wenn einer käme und nähme Gazan von Teeka? Tarzan stieß ein leises, unheilverkündendes Knurren aus, als ob Gazan sein eigen wäre. Go-bu-balu sah gespannt und ängstlich dahin und dorthin, weil er dachte, Tarzan habe einen Feind erblickt. Sabor sprang plötzlich auf ihre Füße, ihre gelbgrünen Augen funkelten, der Schweif schlug, während sie die Ohren spitzte und mit erhobener Schnauze nach womöglicher Gefahr in der Luft witterte. Die zwei kleinen Jungen flüchteten rasch zu ihr, stellten sich zwischen ihre Vorderbeine und sahen mit hochgestellten Ohren unter ihr heraus, während sie die kleinen Köpfe bald nach der einen, bald nach der anderen Seite neigten.
Mit einem Schütteln seines schwarzen Schopfes wandte sich Tarzan ab und nahm seine Jagd in anderer Richtung wieder auf, aber den ganzen Tag über sah er vor sich abwechselnd die Bilder von Sabor, von Momaya und von Teeka, eine Löwin, ein Kannibalenweib und eine Äffin, doch für den Affenmenschen bedeuteten sie in ihrer Mutterschaft ein und dasselbe.
Am Nachmittag des dritten Tages kam Momaya in Sicht von Bukawais, des Unreinen, Höhle. Der alte Zauberer hatte aus verflochtenen Zweigen ein Gitterwerk gebaut, um den Eingang seiner Höhle vor Raubtieren zu schützen. Dies Gitter war nun zur Seite geschoben, so daß man die geheimnisvolle, abstoßende, schwarze Höhlung dahinter gähnen sah. Momaya schauderte wie unter dem kalten Wind der Regenzeit. Kein Anzeichen eines Lebewesens verriet sich in der Höhle, aber Momaya hatte das unheimliche Gefühl, daß unsichtbare Augen übelwollend auf ihr ruhten. Sie schauderte wieder. Sie suchte mit ihren unwilligen Füßen das Innere der Höhle zu betreten, als aus deren Tiefen ein grausiger Klang scholl, der weder menschlich noch tierisch war – ein Klang wie ein freudeloses Lachen.
Mit halbersticktem Schrei kehrte Momaya um und floh in die Dschungel zurück. Hundert Schritte rannte sie, ehe sie ihren Schrecken meistern konnte, dann hielt sie lauschend an. Sollten all ihre Bemühungen, all die Schrecken und Gefahren, denen sie getrotzt hatte, umsonst sein? Sie suchte sich von neuem für die Rückkehr zur Höhle zu stählen, aber die Furcht überwältigte sie abermals.
Betrübt und niedergeschlagen machte sie sich auf den Rückweg nach Mbongas Dorf. Ihre jungen Schultern ließ sie nun hängen wie ein altes Weib, das die schwere Bürde des Alters mit seinen mannigfachen Leiden und Kümmernissen trägt, und sie ging mit müden Füßen und in schleppendem Schritt. Die Federkraft der Jugend war von Momaya gewichen.
Weitere hundert Schritte schleppte sie sich auf ihrem traurigen Wege und ihr Hirn war von dumpfem Schrecken und Leiden halb gelähmt, da erinnerte sie sich wieder des kleinen Kindes, das ihre Brust gesäugt hatte, und des schlanken Knaben, der sie lachend umtollt hatte, und beides war Tibo gewesen – ihr Tibo!
Ihre Schultern streckten sich wieder, sie schüttelte den wilden Kopf, wandte sich um und ging kühn zum Eingang von Bukawais, des Unreinen, Höhle zurück – zur Höhle des Zauberers.
Wieder scholl aus der Höhle das schauerliche Lachen, das doch kein Lachen war. Diesmal hatte Momaya erkannt, was es war, es war der fremdartige Schrei einer Hyäne. Sie schauderte nicht mehr, sondern hielt ihren Speer vor sich und rief laut, Bukawai solle herauskommen.
Statt Bukawais kam der häßliche Kopf einer Hyäne. Momaya stach mit dem Speer nach ihm und das ekle, mürrische Tier zog sich mit zornigem Knurren zurück. Wieder rief Momaya Bukawai beim Namen, und diesmal bekam sie in gemurmelten Tönen, die kaum menschenähnlicher waren als die seines Tieres, Antwort.
Wer kommt zu Bukawai? fragte die Stimme.
Ich bin Momaya, erwiderte das Weib. Momaya vom Dorfe des Häuptlings Mbonga.
Was willst du?
Ich brauche gute Medizin, bessere als Mbongas Zauberer vollbringen kann, erwiderte Momaya. Der große, weiße Dschungelgott hat mir meinen Tibo gestohlen und ich brauche Medizin, die ihn wiederbringt, oder mir sagt, wo er verborgen ist, damit ich hingehen und ihn holen kann.
Wer ist Tibo, fragte Bukawai.
Momaya sagte es ihm.
Bukawais Medizin ist sehr stark, sprach die Stimme. Fünf Ziegen und eine neue Schlafmatte sind für Bukawais Medizin kaum genug.
Zwei Ziegen sind genug, sagte Momaya, denn der Geist zum Handeln ist in der Brust der Schwarzen sehr rege.
Das Vergnügen, um den Preis zu schachern, war eine genügende Verlockung, um Bukawai an den Ausgang der Höhle zu bringen. Als sie ihn sah, bedauerte Momaya, daß er nicht drin geblieben war. Es gibt Dinge, die für eine Beschreibung zu fürchterlich, zu häßlich, zu abstoßend sind. Bukawais Gesicht war von dieser Art. Als Momaya ihn sah, verstand sie, warum seine Sprache fast unverständlich war.
Neben ihm standen seine zwei Hyänen, dem Gerücht nach seine einzigen und ständigen Genossen. Sie waren ein herrliches Kleeblatt – die widerlichsten der Tiere mit dem widerlichsten der Menschen.
Fünf Ziegen und eine neue Schlafmatte, murmelte Bukawai.
Zwei fette Ziegen und eine Schlafmatte, erhöhte Momaya ihr Angebot, aber Bukawai war hartnäckig. Er blieb eine halbe Stunde lang, während der die zwei Hyänen schnüffelten und knurrten und schauerlich lachten, bei fünf Ziegen und einer Schlafmatte. Momaya war schon entschlossen, schlimmstenfalls alles zu geben, was Bukawai verlangte, aber das Feilschen ist den Schwarzen zweite Natur und zum Schlusse fand sie sich teilweise belohnt dafür, denn die endliche Vereinbarung lautete auf drei fette Ziegen, eine neue Schlafmatte und ein Stück Kupferdraht.
Komme nachts zurück, wenn der Mond zwei Stunden am Himmel steht. Dann werde ich die starke Medizin machen, welche dir Tibo zurückbringen soll. Bringe die drei fetten Ziegen, die neue Schlafmatte und das Ende Kupferdraht von Unterarmlänge mit.
Ich kann sie nicht bringen, sagte Momaya, du mußt sie holen. Wenn du mir Tibo zurückgegeben hast, sollst du im Dorfe Mbongas alles haben.
Ehe ich nicht die Ziegen und die Matte und den Kupferdraht habe, mache ich keine Medizin.
Momaya flehte und drohte, aber es nützte ihr alles nichts. Schließlich ging sie fort und machte sich auf den Heimweg durch die Dschungel nach Mbongas Dorf. Wie sie die drei fetten Ziegen und die Schlafmatte bis zu Bukawais Höhle bringen sollte, war ihr unklar, aber daß sie es vollbringen würde, dessen war sie vollkommen sicher – sie würde es tun oder beim Versuch umkommen. Ihren Tibo mußte sie wiederhaben.
Tarzan kam gelassen mit Klein-Go-bu-balu durch die Dschungel, als er die Witterung des Hirsches Bara fand. Es hungerte Tarzan nach Baras Fleisch, denn keines mundete seinem Gaumen so sehr. Aber es war ausgeschlossen, Bara mit Go-bu-balu bei sich zu beschleichen, deshalb barg er das Kind in der Gabel eines Baumes, wo ihn das dichte Laub gegen Sicht deckte und machte sich schnell und geräuschlos auf Baras Spuren.
Der alleingelassene Tibo fürchtete sich noch mehr als selbst Tibo unter den Affen. Wirkliche, sichtbare Gefahren sind nicht so schlimm wie eingebildete, und nur die Götter seiner Rasse wissen, wieviel sich Tibo einbildete.
Er war noch nicht lange an seinem Versteckplatz, als er etwas durch die Dschungel kommen hörte. Er schmiegte sich enger an den Ast, auf dem er lag und betete ein Stoßgebet für Tarzans baldige Rückkehr. Seine großen Augen durchspähten die Dschungel in der Richtung der sich bewegenden Gestalt.
Wenn nun ein Leopard von ihm Witterung bekommen hatte? In einer Minute würde der ihn haben. Heiße Tränen entströmten den großen Augen des kleinen Tibo. Der Vorhang aus Dschungellaub raschelte in nächster Nähe. Jetzt war das Ding nur noch einige Schritte von seinem Baume entfernt. Fast fielen ihm die Augen aus dem Kopfe, während er das Erscheinen der gefürchteten Kreatur erwartete, die gleich ihr knurrendes Haupt zwischen dem Weinlaub und den Schlingpflanzen durchstecken mußte.
Die Zweige teilten sich und ein Weib kam voll in Sicht. Mit einem keuchenden Schrei purzelte Tibo von seinem Sitz und rannte auf sie zu. Momaya fuhr zurück und hob ihren Speer, aber eine Sekunde später ließ sie ihn fallen und umfing den mageren Körper mit ihren starken Armen.
Sie preßte ihn an sich, bald lachend, bald weinend und heiße Freudentränen mischten sich mit denen Tibos und tropften ihr auf die Brust.
Von dem Geräusch aus nächster Nähe gestört, erhob sich Numa, der Löwe, in einem Dickicht nebenan. Er blickte durch das verwachsene Unterholz und sah ein schwarzes Weib mit einem Jungen. Er leckte seine Lefzen und maß die Entfernung bis zu ihnen. Ein kurzes Vorbrechen und ein langer Sprung würde ihn bis zu ihnen bringen. Er zuckte mit dem Schwanzende und seufzte.
Ein leichtes Lüftchen, das plötzlich in der falschen Richtung wehte, trug die Witterung Tarzans an die empfindlichen Nüstern von Bara, dem Hirsch. Ein jähes Spannen der Muskeln, ein Ohrenspitzen, ein kurzer Husch, und Tarzans Beute war davon. Der Affenmensch schüttelte ärgerlich den Kopf und ging nach dem Fleck zurück, an dem er Go-bu-balu gelassen hatte. Nach seiner Art ging er leise. Noch ehe er den Fleck erreichte, hörte er merkwürdige Töne – ein Weib lachte, ein Weib weinte, beides schien aus einem Hals zu kommen, und jetzt mischte es sich mit dem krampfhaften Schluchzen eines Kindes. Tarzan eilte sich, und wenn er das tat, waren nur die Vögel und der Wind rascher.
Beim Näherkommen hörte Tarzan noch einen anderen Ton, ein tiefes Seufzen. Momaya und Tibo hörten ihn nicht, aber Tarzan hatte Ohren so scharf wie Bara, der Hirsch. Er hörte den Seufzer und wußte Bescheid, darum nahm er den schweren Speer vom Rücken. Mit derselben Leichtigkeit, mit welcher wir beim lässigen Spaziergang auf einem Landweg das Taschenmesser ziehen, nahm Tarzan beim Schwingen durch die Bäume den Speer aus seiner Schlinge, um ihn für alle Fälle bereit zu haben.
Numa, der Löwe, sprang nicht wie toll zum Angriff vor. Er überlegte erst, und Überlegung sagte ihm, daß ihm diese Beute sicher war. Daher schob er seinen mächtigen Rumpf durch das Laubwerk und besah sein Mahl mit haßerfüllten, leuchtenden Augen.
Momaya sah ihn und riß mit einem Schrei Tibo enger an ihre Brust. Sollte sie ihr Kind in einem Atemzug wiederfinden und verlieren? Sie hob den Speer und schwang ihn mit der Hand weit über die Schulter zurück. Numa brüllte und schritt langsam vorwärts, während Momaya ihren Speer warf. Er streifte die braune Schulter, nur eine Fleischwunde zufügend, die aber die ganze schreckliche Wildheit des Raubtiers entfesselte, und der Löwe griff nun an.
Momaya suchte die Augen zu schließen, aber sie konnte es nicht. Sie sah den fürchterlichen Tod blitzschnell kommen und dann sah sie noch etwas anderes: Ein mächtiger, nackter, weißer Mann fiel wie vom Himmel auf den Pfad des anspringenden Löwen. In dem durch das Laubdach dringenden Licht der Äquatorsonne sah sie die Muskeln eines großen Armes leuchten und einen schweren Jagdspeer durch die Luft sausen, um dem Löwen auf halbem Sprunge zu begegnen.
Numa stellte sich auf die Hinterbeine und schlug mit schrecklichem Brüllen nach dem aus seiner Brust herausstehenden Speerschaft. Seine mächtigen Schläge verbogen und zersplitterten die Waffe. Tarzan schlich gebückt mit dem Messer in der Hand vorsichtig im Kreise um die tobende Katze. Momaya stand wie angewurzelt und sah mit großen Augen wie verzaubert zu.
In plötzlicher Wut warf sich Numa auf den Affenmenschen, aber das flinke Geschöpf wich dem tölpelhaften Angriff aus, und trat rasch zur Seite, um sich dann selbst auf den Feind zu stürzen. Zweimal blitzte die Klinge in der Luft, zweimal stieß sie in den Rücken Numas, der von der nahe dem Herzen sitzenden Speerwunde bereits schwächer wurde. Der zweite Stoß der Klinge fuhr in des Tieres Rückgrat, Numa machte mit einem letzten, krampfhaften Schlag der Vorderpranken einen vergeblichen Versuch, seinen Bezwinger zu erreichen, dann streckte er sich gelähmt auf dem Boden aus und starb.
Bukawai war in der Sorge, er könnte seine Belohnung verlieren, Momaya nachgegangen in der Absicht, sie zur Verpfändung ihrer Schmucksachen aus Kupfer und Eisen zu überreden, bis sie mit der Zahlung für die Medizin zurückkäme – sozusagen als Vorschuß, wie man ihn einem Anwalt auf Rückverrechnung zahlt, denn Bukawai wußte so gut wie ein Anwalt, wieviel seine Medizin wert war und daß es besser war, sich soviel Vorschuß als möglich geben zu lassen.
Eben als Tarzan dem Löwen entgegensprang, kam der Zauberer an, sah alles mit Verwunderung und vermutete sofort, daß dies der merkwürdige, weiße Dämon sein müsse, über den er schon vor Momayas Kommen unbestimmte Gerüchte gehört hatte.
Als der Löwe Momaya nichts mehr tun konnte, starrte sie mit neuem Schrecken auf Tarzan. Er war es, der ihren Tibo gestohlen hatte. Zweifellos würde er ihn ihr von neuem zu nehmen suchen. Momaya schlang ihre Arme enger um den Knaben. Sie war entschlossen, diesmal lieber zu sterben, als sich Tibo noch einmal nehmen zu lassen.
Tarzan besah schweigend das Paar. Der Anblick des schluchzend sich an seine Mutter klammernden Knaben schuf in seiner wilden Brust ein melancholisches Gefühl der Einsamkeit. Keiner war da, um sich so an Tarzan zu klammern, der sich doch so sehr nach der Liebe von einem oder von etwas sehnte.
Schließlich blickte Tibo auf, weil es in der Dschungel so still geworden war und sah Tarzan an. Er fühlte keine Angst.
Tarzan, sprach er in der Sprache der großen Affen von Kerschaks Horde, reiße mich nicht wieder von Momaya, meiner Mutter, nimm mich nicht wieder mit zu dem Orte der behaarten Baummenschen, denn ich fürchte mich vor Taug und Gunto und den anderen. Lasse mich bei Momaya bleiben, o Tarzan, du Dschungelgott. Lasse mich bei Momaya, meiner Mutter, und bis ans Ende unserer Tage wollen wir dich segnen und dir Nahrung als Opfer vor die Tore von Mbongas Dorf setzen, daß dich nie hungere.
Tarzan seufzte.
Geht zu Mbongas Dorf zurück, sagte er dann, Tarzan wird euch folgen und zusehen, daß euch kein Leid geschieht.
Tibo übersetzte seiner Mutter die Worte und die zwei gingen vor dem Affenmenschen her ihren Weg nach Hause. In Momayas Herz saß große Scheu und große Freude, denn nie zuvor war sie mit Gott gegangen, aber auch noch nie war sie so glücklich gewesen. Sie zog ihren kleinen Tibo an sich und streichelte seine dünngewordenen Backen. Tarzan sah es und seufzte wieder.
Für Teeka ist Teekas Balu, war sein Selbstgespräch, Sabor hat ihre Balus, wie das Gomanganiweibchen, wie Bara und Manu und selbst Pamba, die Ratte. Aber für Tarzan gibt es nichts, weder ein Weibchen noch ein Balu. Affentarzan ist ein Mensch, und die Menschen müssen wohl allein ihren Weg gehen.
Bukawai sah sie bei sich murmelnd davonziehen und schwor sich mit einem Fluche einen fürchterlichen Eid, daß er die drei fetten Ziegen, die neue Schlafmatte und das Ende Kupferdraht trotzdem schon noch kriegen wolle.