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Lord Greystoke jagte, oder genauer gesagt, er schoß in Chamston Hedding Fasanen. Er war durchaus einwandfrei und sportmäßig angezogen – bis auf die letzte Kleinigkeit nach der neuesten Mode. Er war sicher einer der Hauptschützen, zwar nicht gerade beim Schießen, aber was ihm etwa an Geschicklichkeit fehlte, ersetzte er weitaus an Erscheinung. Am Ende des Tages würde er zweifelsohne eine Menge Vögel auf der Strecke haben, denn er hatte zwei Vogelflinten und einen geschickten Büchsenspanner – bedeutend mehr Vögel als er in einem Jahre hätte essen können, selbst wenn er sehr hungrig gewesen wäre, was aber nicht der Fall war, denn er war eben erst vom Frühstückstisch aufgestanden.
Die Treiber – es waren ihrer dreiundzwanzig in weißen Leinenkitteln – hatten die Vögel gerade in eine ginsterbewachsene Stelle getrieben und schlossen nun von der anderen Seite einen Halbkreis, um sie vor die Schützen zu bringen. Lord Greystoke war so aufgeräumt, als er sich je zu werden gestattete. Als sich die Treiber den Vögeln mehr und mehr näherten, fühlte er das Blut in den Adern pulsieren. Wie immer bei solchen Gelegenheiten hatte Lord Greystoke das etwas unklare, ihm töricht erscheinende Gefühl, daß er eine nach Rückfall in eine vorzeitliche Rasse anmutende Empfindung verspüre – daß das Blut eines alten Ahnen heiß in seinen Adern koche, eines behaarten, halbnackten Ahnen, der von der Jagd gelebt hatte.
Und weit, weit entfernt in einer verwachsenen Dschungel unter dem Äquator jagte ein anderer Lord Greystoke, der wirkliche Lord Greystoke. Auch er war seinem Dafürhalten nach nach der letzten Mode gekleidet – nach der Mode seiner Urahnen vor der Vertreibung aus dem Paradies. Da der Tag schwül war, hatte er das Leopardenfell zurückgelassen. Der echte Lord Greystoke hatte keine zwei Flinten, er hatte sicher nicht einmal eine, und er hatte auch keinen flinken Büchsenspanner bei sich, aber er hatte etwas unendlich Wirksameres als Gewehre und Büchsenspanner und sogar dreiundzwanzig Treiber in weißen Kitteln – er hatte Hunger, eine unheimliche Weidmannskunst, und Muskeln wie Federstahl.
Im weiteren Verlauf dieser Tage aß der eine Lord Greystoke in England reichlich von Dingen, die er nicht getötet hatte und trank andere Sachen aus Flaschen, deren Kork mit viel Geräusch herausging. Er betupfte seine Lippen mit schneeigem Linnen, um die schwachen Reste des Mahles davon zu entfernen, und hatte selbst keine Ahnung davon, daß er nur ein Stellvertreter war und der rechtmäßige Eigentümer seines vornehmen Titels ebenfalls im fernen Afrika gerade sein Diner beendete. Der benützte allerdings kein schneeiges Linnen. Er zog den Rücken seines braunen Unterarms und den Handrücken über den Mund und wischte die blutigen Finger an den Oberschenkeln ab. Dann ging er langsam durch die Dschungel nach der Wasserstelle, aus welcher er wie seine Gefährten, die Dschungeltiere, auf allen Vieren trank.
Während er seinen Durst löschte, erschien hinter ihm auf dem Pfade zum Flusse ein anderer Bewohner des düsteren Waldes. Numa, der Löwe, mit braunem Körper und schwarzer Mähne, finster und drohend, knurrte leise, heiser und rollend. Affentarzan hörte ihn, lange ehe er in Sicht kam, aber der Affenmensch trank weiter, bis er genug hatte. Dann erhob er sich langsam mit der leichten Anmut eines Tieres der Wildnis und zugleich mit der ruhigen Würde, welche ihm von den Vorfahren her im Blut lag.
Numa blieb stehen, weil er den Menschen an dem gleichen Fleck erblickte, an dem er stets zu trinken pflegte. Er öffnete den Rachen und funkelte mit den grausamen Augen. Dann knurrte er und schritt langsam vorwärts. Auch der Mensch knurrte und wich langsam auf die Seite, wobei er nicht auf das Gesicht, sondern auf den Schweif des Löwen achtete. Sobald dieser in kurzem, nervösem Zucken hin und her schlug, hieß es auf der Hut sein, und sollte er gar plötzlich steil und steif in die Höhe fahren, dann hieß es kämpfen oder flüchten. Aber der Löwe tat keines von beiden, deshalb zog sich Tarzan nur zurück und der Löwe kam herab und trank kaum fünfzig Schritt von dem Menschen entfernt.
Morgen würden sie sich vielleicht an die Kehle fahren, aber heute war Waffenstillstand in jener merkwürdigen, unerklärlichen Art, die so oft bei den wilden Dschungelgeschöpfen zu sehen ist. Ehe Numa sattgetrunken war, hatte Tarzan wieder den Wald erreicht und schwang sich in Richtung nach dem Dorfe Mbongas, des schwarzen Häuptlings, davon.
Es war wenigstens einen Monat her, daß der Affenmensch sich nach den Gomangani umgesehen hatte. Seit er Tibo seiner Mutter zurückgegeben hatte, hatte er noch keine Lust wieder dazu gehabt. Der Zwischenfall mit dem angenommenen Balu war für Tarzan abgeschlossen. Er hatte etwas gesucht, um ihm die gleiche Zuneigung zu erweisen, mit welcher Teeka ihr Balu überschüttete, aber die kurze Erfahrung mit dem kleinen, schwarzen Knaben bewies ihm mit völliger Klarheit, daß kein solches Gefühl zwischen ihm und einem Fremden bestehen konnte.
Daß er eine Zeitlang den kleinen Schwarzen wie sein richtiges kleines Balu behandelt hatte, beeinflußte in keiner Weise seine rachsüchtigen Empfindungen gegen die Mörder Kalas. Die Gomangani waren seine Todfeinde und konnten ihm nichts anderes sein. Heute suchte er die Eintönigkeit seines Daseins durch Neckereien der Schwarzen zu unterbrechen.
Es war noch nicht ganz dunkel, als er das Dorf erreichte und seinen Platz in dem großen, die Palisade überschattenden Baume einnahm. Aus einer der nächsten Hütten unten drang großes Wehklagen. Das Geräusch fiel ihm unangenehm auf die Ohren – es stach und kratzte darin. Da es ihn störte, ging er davon, in der Hoffnung, es werde aufhören; aber obgleich er mehrere Stunden fort war, hielt das Jammern bei seiner Rückkehr immer noch an.
Tarzan beschloß, dem ärgerlichen Lärm ein gewaltsames Ende zu bereiten und schlüpfte leise vom Baume in die Schatten hinunter. Verstohlen kriechend und sich gut in der Deckung der anderen Hütten haltend, näherte er sich der, aus welcher die Klagetöne kamen. Ein helles Feuer brannte vor der Tür dieser Hütte wie vor anderen im Dorfe. Ein paar Weiber hockten darum und fügten gelegentlich ihr eigenes Klagegeheul zu dem, das aus dem Innern drang.
Der Affenmensch lächelte leise, als er an die Bestürzung dachte, die seinem raschen Sprung mitten unter die Weibchen in dem hellen Schein des Feuers folgen mußte. Während des Durcheinanders wollte er in die Hütte schnellen, den Hauptschreier zum Schweigen bringen und wieder davon in der Dschungel sein, ehe sich die erschütterten Nerven der Schwarzen zu einem Angriff erholen konnten.
Schon oft hatte es Tarzan in Mbongas Dorf so gemacht. Sein geheimnisvolles, unerwartetes Erscheinen erfüllte die Herzen der armen, abergläubischen Schwarzen mit panischem Schrecken; es schien, als ob sie sich nie an seinen Anblick gewöhnen könnten. Gerade dieser Schrecken gab solchen Abenteuern die Würze von Interesse und Unterhaltung, nach welcher sich das wache Hirn des Affenmenschen sehnte. Das bloße Töten an sich genügte ihm nicht. Tarzan war an den Anblick des Todes gewöhnt und konnte kein besonderes Vergnügen daran haben. Wohl hatte er seit langer Zeit Kalas Tod gerächt, aber er hatte dabei die Anregung und Unterhaltung kennen gelernt, die sich beim Necken der Schwarzen finden ließ. Und dieser Anregung wurde er nie überdrüssig.
Er wollte eben mit einem wilden Schrei vorwärtsspringen, als eine Gestalt in der Tür der Hütte erschien. Es war die Gestalt der jammernden Person, die er zur Ruhe bringen wollte, ein junges Weib mit einem Stab durch die durchbohrte Nasenscheidewand und einem schweren Metallschmuckstück in der Unterlippe, das diese zu häßlicher und abstoßender Entstellung herunterzog. Auf Stirne, Wangen und Brust trug sie merkwürdige Tätowierungen und ihre Frisur war aus Lehm und Draht wundervoll aufgebaut.
Ein plötzliches Aufflammen des Feuers setzte die groteske Gestalt in helles Licht und Tarzan erkannte in ihr Momaya, Tibos Mutter. Gleichzeitig warf das Feuer auch ein Streiflicht in die Tarzan deckenden Schatten und hob dessen hellen, braunen Körper aus der umgebenden Finsternis hervor. Momaya sah ihn und erkannte ihn. Sie lief mit einem Schrei auf den ihr entgegentretenden Tarzan zu. Die anderen Weiber drehten sich herum und sahen ihn gleichfalls, aber sie liefen nicht auf ihn zu. Sie sprangen alle auf einmal auf, schrien wie aus einem Hals und flüchteten in einem Nu.
Momaya warf sich Tarzan zu Füßen, hob flehend die Hände und sprudelte einen richtigen Wasserfall von Worten über ihre verstümmelten Lippen, während der Affenmensch nicht ein Wort verstand. Einen Augenblick sah er hinab auf das angstvoll zu ihm emporstarrende Gesicht des Weibes. Er hatte töten wollen, aber dieser überwältigende Redefluß erfüllte ihn mit Bestürzung und Scheu. Er sah sich argwöhnisch um, dann heftete er seine Blicke wieder auf das Weib. Sein Gefühl war verwirrt. Er konnte Tibos Mutter nicht töten, aber er konnte auch nicht diesem Springquell von Worten standhalten. Mit einer ärgerlichen Bewegung, daß ihm seine Abendunterhaltung verdorben war, drehte er sich herum und eilte in die Dunkelheit zurück. Gleich darauf schwang er sich durch die dunkle Dschungelnacht davon, während das Schreien und Wehklagen Momayas in der Ferne verhallte.
Mit einem Seufzer der Erleichterung fand er sich endlich an einer Stelle, wo es sie nicht länger hören mußte, suchte sich einen bequemen Sitz oben in den Bäumen und legte sich behaglich für eine Nacht traumlosen Schlummers zurecht, während ein beutegieriger Löwe unter ihm knurrte und keuchte.
Am nächsten Morgen fand Tarzan beim Verfolgen der frischen Fährte Hortas, des Ebers, die Fußspuren zweier Gomangani, eines großen und eines kleinen. Der Affenmensch war gewohnt, jede seiner Wahrnehmungen genau zu untersuchen, deshalb hielt er an und las die Geschichte, die im weichen Boden der Wildspur geschrieben stand. Für unsereinen wäre wenig Interessantes zu sehen gewesen, wenn wir überhaupt etwas hätten sehen können. Vielleicht, wenn es uns jemand gedeutet hätte, hätten wir Spuren im weichen Erdboden gesehen, denn da waren zahllose Eindrücke, die in einer für uns ganz bedeutungslos erscheinenden Form übereinander weggingen. Aber sie alle erzählten Tarzan ihre Geschichte. Tantor, der Elefant, war diesen Weg schon vor drei Tagen gegangen. Numa hatte vergangene Nacht hier gejagt und Horta, der Eber, war vor einer Stunde langsam die Fährte entlang gewandelt. Aber Tarzans Aufmerksamkeit wendete sich besonders der Spur der zwei Gomangani zu. Sie sagte ihm, daß tags zuvor ein alter Mann mit einem kleinen Knaben nordwärts gegangen war und daß zwei Hyänen sie begleitet hatten.
Tarzan kratzte sich verwirrt und ungläubig am Kopf. Am Überschneiden der Fußspuren sah er, daß die Tiere den beiden nicht nachgeschlichen waren, denn manchmal war eines voraus und eines zurück oder beide voraus und dann wieder beide zurück gewesen. Die Sache kam ihm ganz merkwürdig und unerklärlich vor, zumal, wenn die Spur an breiteren Stellen des Weges zeigte, wie die Tiere ganz nahe rechts und links der zwei Menschen gegangen waren. Dann las Tarzan aus der Spur des kleineren Gomangani einen schaudernden Schrecken, wenn die Bestie seine Seite gestreift hatte, während des alten Mannes Spur in solchem Falle kein Erschrecken zeigte.
Erst hatte sich Tarzan nur mit dem seltsamen Nebeneinanderbestehen der Spuren von Dango und den Gomangani befaßt, aber nun fanden seine Augen etwas an der Spur des kleinen Gomangani, das ihn auffahren ließ. Es war, wie wenn wir plötzlich auf einem Wege einen Brief in der vertrauten Handschrift eines Freundes finden.
Go-bu-balu! rief der Affenmensch und wie der Blitz erinnerte er sich an die flehende Haltung Momayas, als sie sich in letzter Nacht im Dorfe Mbongas vor ihm niedergeworfen hatte. Mit einem Male war alles klar. Das Winseln und Wehklagen, das Flehen der schwarzen Mutter, das mitfühlende Geheul der Weibchen um das Feuer. Klein Go-bu-balu war abermals gestohlen worden, aber diesmal von einem anderen als Tarzan. Zweifellos hatte die Mutter gedacht, er sei wieder in der Gewalt Affentarzans, darum hatte sie ihn angefleht, ihr das Balu zurückzugeben.
Freilich; jetzt war alles ganz klar. Aber wer konnte Go-bu-balu diesmal gestohlen haben? Tarzan wunderte sich und war auch über die Anwesenheit Dangos erstaunt. Das mußte untersucht werden. Die Spur war erst einen Tag alt und führte nach Norden. Tarzan machte sich an ihre Verfolgung. An vielen Stellen war sie durch das Wechseln zahlreicher Tiere völlig verwischt, und auf felsigen Stellen ward selbst Affentarzan beinahe irregeführt, aber immer blieb noch der schwache Hauch von Witterung einer Menschenfährte, den nur so hochentwickelte und geübte Fähigkeiten wie die Tarzans noch spüren konnten.
*
Im kurzen Zeitraum zweier Tage geschah dem kleinen Tibo all das Plötzliche und Unerwartete. Erst kam der Zauberer, Bukawai, der Unreine. Er kam allein am hellen Tage an die Uferstelle, an der Momaya täglich sich und ihren kleinen Knaben Tibo badete. Nahe bei Momaya trat er aus einem großen Busch und erschreckte klein Tibo, der schreiend in die schützenden Arme seiner Mutter lief.
Momaya, obgleich erschreckt, bot dem furchtbaren Wesen mit der grimmigen Wildheit einer gestellten Tigerin die Stirne. Als sie Bukawai erkannte, atmete sie teilweise erleichtert auf, obgleich sie immer noch Tibo eng an sich drückte.
Bukawai sagte ohne weitere Einleitung:
Ich komme wegen der drei fetten Ziegen, der neuen Schlafmatte und des Stückes Kupferdraht von der Länge eines großen Mannesarmes.
Ich habe keine Ziegen für dich, fuhr ihn Momaya an, und weder eine Schlafmatte noch ein Stück Draht. Du hast gar keine Medizin gemacht. Der weiße Dschungelgott gab mir meinen Tibo wieder. Aber du hattest nichts damit zu schaffen.
Ich bin es dennoch gewesen, murmelte Bukawai zwischen seinen fleischlosen Kiefern. Ich befahl dem weißen Dschungelgott, dir deinen Tibo zurückzugeben.
Momaya lachte ihm ins Gesicht: Lügenmaul! schrie sie. Geh zu deiner faulen Höhle und zu deinen Hyänen zurück. Geh zurück und verbirg dein stinkendes Antlitz im Bauche des Berges, damit nicht die Sonne, wenn sie es erblickt, ihr Gesicht mit einer schwarzen Wolke bedeckt.
Ich bin, sagte Bukawai wieder, wegen der drei fetten Ziegen, der neuen Schlafmatte und des Stückes Kupferdraht von der Länge eines großen Mannesarmes gekommen, die du mir für das Zurückkommen deines Tibo zu zahlen hast.
Es war überhaupt nur die Länge eines Unterarmes, verbesserte ihm Momaya, aber du bekommst gar nichts, du alter Dieb! Du wolltest deine Medizin nicht machen, ehe ich sie nicht im voraus bezahlt hatte und auf dem Rückweg nach meinem Dorfe gab mir der große, weiße Dschungelgott meinen Tibo wieder – aus den Zähnen Numas riß er ihn für mich. Seine Medizin ist die echte Medizin. Deine ist nur die schwache Medizin eines alten Mannes mit einem Loch im Gesicht.
Ich komme, wiederholte Bukawai geduldig, wegen der drei fetten – – – Aber Momaya wartete nicht mehr, um zu hören, was sie schon auswendig wußte. Sie riß Tibo an sich und eilte mit ihm in das palisadenumschlossene Dorf des Häuptlings Mbonga.
Am nächsten Tage arbeitete Momaya mit den übrigen Weibern des Stammes im Bananenfeld und klein Tibo spielte am Rande der Dschungel und warf im Vorgefühl jenes Tages, an dem er ein erwachsener Krieger sein würde, seinen kleinen Speer. Da kam Bukawai wieder.
Tibo hatte ein Eichhörnchen am Stamm eines großen Baumes emporklettern sehen. Seine kindliche Einbildungskraft machte die drohende Figur eines feindlichen Kriegers daraus. Klein Tibo hob seinen winzigen Speer und fühlte sein Herz mit der Blutlust seiner Rasse schwellen, als er sich ausmalte, wie er dann nachts um den Körper seiner menschlichen Beute tanzen wollte, während die Weiber das Fleisch für das folgende Festessen zurechtmachten.
Aber als er seinen Speer warf, fehlte er sowohl Eichhörnchen wie Baumstamm, und sein Geschoß flog weit hinein in das verwachsene Unterholz der Dschungel. Indessen waren es wohl nur einige wenige Schritte in das verbotene Labyrinth hinein, die Frauen waren alle auf dem Feld herum und dann waren die Krieger von der Wache in Rufweite. Klein Tibo wagte sich also kühn in den dunklen Platz.
Gerade hinter dem Vorhang aus Schlingpflanzen und dichten Zweigen lauerten drei schauerliche Gestalten – ein alter Mann, schwarz wie die Nacht, und neben ihm, gleich abstoßend, zwei große Hyänen.
Tibo sah sie erst, als er sich auf der Suche nach seinem kleinen Speer mit dem Kopfe voran durch die dicken Ranken gezwängt hatte. Und da war es bereits zu spät, denn als er in Bukawais Gesicht sah, packte ihn dieser und erstickte mit der Hand auf dem Mund sein Schreien, während sich Tibo erfolglos wehrte.
Einen Augenblick später wurde er durch die finstere, schreckliche Dschungel davongeschleppt, während der fürchterliche alte Mann immer noch sein Geschrei erstickte und die zwei Hyänen mitgingen, jetzt auf beiden Seiten, dann voran, dann hinterher, immer stöbernd, immer knurrend, schnappend, zähnefletschend oder, was am entsetzlichsten war, greulich lachend.
Der kleine Tibo hatte in kurzer Zeit soviel durchgemacht wie wenig Menschen im ganzen Leben, aber dieser Weg nach Norden war ein Nachtmahr von Schrecken. Er dachte an die Zeit, als er bei dem großen weißen Dschungelgott gewesen war und betete inbrünstig in seiner kleinen Seele, doch wieder bei dem weißhäutigen Riesen zu sein, der unter dem behaarten Baumvolk lebte. Verängstigt war er gewesen, aber jene Umgebung war nichts gewesen im Vergleich zu dem, was er nun auszuhalten hatte.
Der alte Mann sprach Tibo selten an, obgleich er fast den ganzen Tag hindurch murmelte. Tibo hörte verschiedentlich etwas, das sich auf fette Ziegen, Schlafmatten und Stücke Kupferdraht bezog. Zehn fette Ziegen, zehn fette Ziegen, murmelte der alte Neger wieder und wieder. Tibo entnahm aus diesen paar Worten, daß der Betrag seines Lösegelds gestiegen war. Zehn fette Ziegen? Woher sollte seine Mutter zehn fette, oder auch nur zehn magere Ziegen nehmen, nur um einen armen, kleinen Jungen zurückzukaufen? Mbonga würde sie ihr nicht geben und Tibo wußte, daß sein Vater in seinem ganzen Leben nie mehr als drei Ziegen auf einmal sein Eigen genannt hatte. Zehn fette Ziegen? Tibo schluchzte. Der böse, alte Mann würde ihn töten und auffressen, denn die Ziegen würden nie zu beschaffen sein. Der kleine, schwarze Junge schauderte und wurde so schwach, daß er fast auf dem Wege hinfiel. Bukawai schlug ihn hinter die Ohren und riß ihn weiter. Nach einer Tibo wie die Ewigkeit vorkommenden Zeit gelangten sie an den Eingang der Höhle zwischen den zwei Felsenhügeln. Die Öffnung war niedrig und eng. Ein paar mit Riemen aus ungegerbtem Leder zusammengebundene Stäbe verschlossen sie gegen herumwandernde Raubtiere. Bukawai schob das armselige Tor beiseite und stieß Tibo hinein. Die Hyänen sprangen knurrend vorbei und verschwanden im Dunkel des Inneren. Bukawai setzte die Latten wieder an ihre Stelle, packte Tibo rauh am Arme und schleppte ihn durch einen engen Felsengang. Der Boden war verhältnismäßig glatt, denn von vielen Füßen war der dick liegende Schmutz allmählich festgetreten worden, bis nur noch wenige Unebenheiten übrig waren.
Der Gang verlief gewunden und da er dunkel und die Wände rauh und felsig waren, war Tibo von den vielen Stößen, die er erlitt, mit Schrammen und Beulen bedeckt. Bukawai ging durch die sich windenden Gänge so schnell wie ein anderer bei Tage durch einen ihm bekannten Promenadenweg. Er kannte jeden Winkel und jeden Bogen wie eine Mutter das Gesicht ihres Kindes und schien Eile zu haben. So stieß er den armen, kleinen Tibo wohl etwas heftiger vorwärts als selbst bei Bukawais Schritt nötig gewesen wäre. Aber der alte Zauberer, aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen, krank, entstellt, gehaßt und gefürchtet, besaß gerade kein Engelsgemüt mehr. Die Natur hatte ihm schon ohnehin wenig bessere Eigenschaften verliehen und ein grausames Geschick hatte diese dann mit der Wurzel ausgerissen. Boshaft, listig, grausam und rachsüchtig war der Zauberer Bukawai.
Man erzählte schreckliche Geschichten über die grausamen Martern, die er seinen Opfern bereitete. Kinder wurden durch die Drohung mit seinem Namen zum Gehorsam gebracht. Tibo war oft genug so zur Ruhe gebracht worden und nun mußte er die schreckliche Angst ernten, die seine Mutter, ohne es zu wissen und zu wollen, gesät hatte. Die Finsternis, die Anwesenheit des gefürchteten Zauberers, der Schmerz seiner Quetschungen, die heillose Angst vor dem bevorstehenden Schicksal, die Furcht vor den zwei Hyänen, alles zusammen diente dazu, das Kind fast zu lähmen. Er stolperte und wankte, bis ihn Bukawai mehr schleppte als führte.
Nun sah Tibo ein schwaches Licht über sich auftauchen und gleich darauf kamen sie in eine ungefähr kreisrunde Kammer, zu der durch einen Riß in der Felsendecke Tageslicht eindrang. Die Hyänen waren schon da und warteten. Als Bukawai mit Tibo eintrat, schlichen die Tiere zähnebleckend auf sie zu. Sie waren hungrig, machten sich an Tibo und eines schnappte nach seinen nackten Beinen. Bukawai packte einen Stock und schlug tückisch nach der Bestie, gleichzeitig eine Salve von Flüchen murmelnd. Die Hyäne bückte sich und sprang auf die andere Seite der Kammer, wo sie knurrend stehen blieb. Bukawai machte einen Schritt auf sie zu, während sich ihr vor Wut die Haare sträubten. Furcht und Haß kündeten die bösartigen Augen, aber zu Bukawais Glück überwog die Furcht.
Derweil sah sich die andere Bestie unbeobachtet und machte einen kurzen, schnellen Sprung auf Tibo zu. Das Kind schrie und rannte hinter den Zauberer, welcher seine Aufmerksamkeit nun der zweiten Hyäne zuwendete. Diese traf er mit seinem schweren Stock, schlug sie wiederholt und trieb sie in die Ecke. Nun kreisten die zwei bösen Tiere an der Wand der Kammer entlang, während das menschliche Scheusal, ihr Herr und Meister, jetzt in wahrhaft teuflischer Wut hinter ihnen hersprang, sie bald mit dem Knittel schlug, bald sie mit seiner Zunge strafte, indem er den Fluch aller Götter und Teufel, die ihm ins Gedächtnis kamen, auf sie herabrief und zwischendurch wieder in schmutzigen Farben die Schändlichkeit ihrer Ahnen beschrieb.
Mehreremale machte das eine oder das andere Tier Kehrt, um dem Zauberer Stand zu halten, und dann hielt Tibo in angstvollem Schrecken den Atem an, denn nie in seinem kurzen Leben hatte er solch fürchterlichen Haß auf dem Gesicht von Mensch oder Tier gesehen; aber stets gewann die Furcht bei den wilden Bestien wieder die Oberhand, so daß sie ihre Flucht mit Knurren und Zähnefletschen gerade dann wieder aufnahmen, wenn Tibo sicher glaubte, sie würden Bukawai an die Kehle springen.
Schließlich wurde der Zauberer der nutzlosen Jagd müde und wandte sich mit einem ebenso tierischen Knurren wie dem der Bestien zu Tibo: Ich gehe und hole die zehn fetten Ziegen, die neue Schlafmatte und die zwei Stücke Kupferdraht, die deine Mutter für die Medizin bezahlen muß, die dich ihr zurückbringt. Dort – er deutete auf den Gang, durch den sie in den Raum gelangt waren – lasse ich die Hyänen. Wenn du zu entkommen versuchst, werden sie dich fressen.
Er warf den Stock auf die Seite und rief die Tiere. Knurrend, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt, kamen sie geschlichen. Bukawai führte sie in den Gang und zog, nachdem er selbst aus der Kammer war, ein rohes Lattengitter vor den Eingang.
Das wird sie von dir abhalten, sagte er. Falls ich die zehn fetten Ziegen und die anderen Dinge nicht bekomme, sollen sie wenigstens ein paar Knöchelchen bekommen, wenn ich genug habe. Damit verließ er den Knaben, um über diese nur allzu deutlichen Worte nachzudenken.
Sobald er gegangen war, warf sich Tibo auf den Boden und brach vor Angst und Einsamkeit in kindliches Schluchzen aus. Er wußte, daß seine Mutter keine zehn fetten Ziegen geben konnte und wenn Bukawai dann wieder kam, würde er klein Tibo töten und auffressen. Er wußte nicht, wie lange er gelegen hatte, als ihn das Knurren der Hyänen aufschreckte. Sie waren durch den Gang zurückgekommen und starrten durch das Gitter nach ihm, sie stellten sich auf die Hinterpfoten und kratzten an dem Hindernis. Er konnte ihre gelben Augen im Dunkel leuchten sehen. Tibo schauderte und zog sich an das andere Ende des Raumes zurück. Er sah, wie das Gitter unter den Angriffen der Tiere zitterte und schwankte, und erwartete jeden Augenblick, es werde nach innen fallen und die Bestien zu ihm lassen.
Langsam schleppten sich die schreckenbeladenen Stunden dahin. Die Nacht brach herein und Tibo schlief einige Zeit, aber die hungrigen Tiere schienen nicht zu schlafen. Sie standen dauernd mit greulichem Knurren oder scheußlichem Lachen gerade hinter dem Gitter. Durch den schwachen Riß in der Felsendecke über sich konnte Tibo einige Sterne und den Vorbeigang des Mondes sehen. Endlich kam dann der Tag. Tibo war sehr hungrig und durstig, denn er hatte seit dem vorhergehenden Morgen nichts gegessen und hatte nur einmal auf dem langen Weg trinken dürfen, aber selbst Hunger und Durst vergaß er unter den Schrecken seiner Lage.
Nach Tagesanbruch bemerkte das Kind eine zweite Öffnung in der Wand der unterirdischen Kammer, dem Gange, aus welchem die Hyänen immer noch hungrig nach ihm starrten, gerade gegenüber. Es war nur ein schmaler Schlitz in der Felswand. Er führte vielleicht nur einige Fuß hinein, vielleicht führte er aber auch hinaus zur Freiheit! Tibo ging hin und sah hinein. Er konnte nichts erblicken. Er streckte seinen Arm in die Dunkelheit, aber weiter wagte er sich nicht. Tibo sagte sich, daß ihm Bukawai doch sicher keinen Weg zum Entkommen frei gelassen hatte, also führte dieser Weg entweder nicht weiter oder in noch größere Gefahren.
Zu den wirklichen Gefahren, die ihn bedrohten – Bukawai und die zwei Hyänen – fügte des Knaben Aberglaube noch unzählige andere, deren bloße Erwähnung zu schrecklich ist, denn durch das Leben der Schwarzen, im Schatten des Dschungeltages und in den schwarzen Schrecken der Dschungelnacht, huschen merkwürdige phantastische Gestalten und bevölkern die schon entsetzlich genug belebten Wälder mit drohenden Figuren, als ob der Löwe, der Leopard, die Schlange und die Hyäne zusammen mit den zahllosen, giftigen Insekten nicht gerade genug wären, um Furcht in die Herzen der armen, einfältigen Geschöpfe zu jagen, deren Los sie auf diesem furchtbarsten Fleck der Erde geboren werden ließ.
Deshalb krümmte sich der kleine Tibo nicht nur unter wirklichen, sondern auch unter eingebildeten Drohungen. Er fürchtete sich sogar vor dem Wege, der vielleicht hätte zur Flucht verhelfen können, weil Bukawai sicher irgendeinen furchtbaren Dschungelteufel zu seiner Bewachung hingesetzt haben mußte.
Aber bald trieben die wirklichen Gefahren die eingebildeten aus seinem Sinne, denn mit dem Kommen des Tageslichtes erneuerten die halbverhungerten Hyänen ihre Anstrengungen, die schwache Scheidewand niederzubrechen, die sie von ihrer Beute trennte. Sie stellten sich auf die Hinterpfoten und kratzten und schlugen nach dem Gitter. Tibo sah es mit weitaufgerissenen Augen zittern und schwanken. Er wußte, daß es nicht mehr lange den Angriffen der zwei mächtigen und entschlossenen Bestien standhalten konnte. Eine Ecke davon war bereits über den kleinen Felsvorsprung, der es festhielt, hinübergezwängt worden. Eine zottige Vorderpfote streckte sich in die Kammer hinein und Tibo zitterte wie im Fieber, denn er wußte, daß das Ende nahe war.
Er drückte sich flach so weit als möglich von den Tieren entfernt gegen die Wand. Er sah, wie sich ein knurrender Kopf unter dem Gitter durchzwängte und mit schnappendem, entblößtem Gebiß nach ihm herübergrinste. Noch einen Augenblick und das armselige Gitter würde einwärts fallen, und die zwei würden sich auf ihn stürzen, ihm das Fleisch von den Gebeinen reißen, die Knochen zermalmen und sich um die Eingeweide streiten.
*
Bukawai traf Momaya außen vor der Palisade von Mbongas Dorf. Bei seinem Anblick zog sich diese voll Ekel zurück, aber dann ging sie mit Zähnen und Nägeln auf ihn los. Doch Bukawai hielt sie mit seinem Speer in sicherer Entfernung.
Wo ist mein Kind? schrie sie. Wo ist mein kleiner Tibo?
Bukawai riß in gutgespieltem Erstaunen die Augen auf. Dein Kind? rief er. Was weiß ich mehr von ihm, als daß ich ihn von dem weißen Dschungelgott errettete und meinen Lohn dafür noch nicht erhalten habe. Ich komme wegen der Ziegen und der Schlafmatte und des Stückes Kupferdraht, so lang wie ein Mannesarm von der Schulter bis zur Fingerspitze.
Abfall einer Hyäne! schrie Momaya. Mein Kind ist gestohlen und du, du verfaulender Rest eines Menschen, hast ihn entführt. Gib ihn zurück oder ich reiße dir die Augen aus dem Kopfe und füttere dein Herz den wilden Schweinen.
Bukawai zuckte die Schultern. Was weiß ich von deinem Kind? fragte er. Ich habe ihn nicht weggenommen. Wenn er abermals gestohlen ist, was soll Bukawai davon wissen? Hat ihn Bukawai etwa schon das erstemal gestohlen? Nein! Der weiße Dschungelgott stahl ihn, und wenn er das einmal getan hat, hat er es wohl wieder getan. Mich geht das nichts an. Ich habe ihn dir einmal zurückgeholt und komme jetzt, um meinen Lohn zu holen. Wenn er fort ist und du willst ihn wieder haben, wird ihn dir Bukawai wieder verschaffen – zehn fette Ziegen, eine neue Schlafmatte und zwei Stücke Kupferdraht von der Länge eines großen Mannesarmes von der Schulter bis zu den Fingerspitzen sind dazu nötig und Bukawai will sogar von den Ziegen und der Schlafmatte und dem Kupferdraht, die du für die erste Medizin noch zu zahlen hast, gar nicht mehr reden.
Zehn fette Ziegen! kreischte Momaya. Ich könnte dir nicht in ebensoviel Jahren zehn fette Ziegen bezahlen. Zehn fette Ziegen! Weiter willst du nichts?
Zehn fette Ziegen, wiederholte Bukawai. Zehn fette Ziegen, die neue Schlafmatte und zwei Stücke Kupferdraht von der Länge eines – – –
Momaya unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Bewegung. Warte! schrie sie. Ich habe keine Ziegen. Spare deine Worte. Warte hier, bis ich meinen Mann hole. Er hat zwar nur drei Ziegen, aber es wird sich etwas tun lassen. Warte!
Bukawai hockte sich unter einen Baum. Er fühlte sich ganz zufriedengestellt, denn er wußte, daß er entweder Zahlung oder Rache finden würde. Er fürchtete von den Händen dieser Leute eines fremden Stammes keinerlei Unheil, obgleich er wußte, daß sie ihn fürchteten und haßten. Seine Lepra allein hielt sie davon ab, Hand an ihn zu legen, während sein Ruf als Zauberer ihn doppelt vor Angriffen schützte. Er machte sich eben einen Plan zurecht, wie er sie zwingen wollte, die zehn Ziegen bis zu seiner Höhle zu treiben, als Momaya zurückkam. Mit ihr kamen drei Krieger – Mbonga, der Häuptling, der Zauberer des Dorfes, Rabba Kega und Ibeto, Tibos Vater. Selbst unter gewöhnlichen Umständen waren sie keine besonders freundlich aussehenden Männer und jetzt mit ihren wutverzerrten Gesichtern konnten sie wohl jedem Angst machen. Aber wenn Bukawai auch Angst fühlte, ließ er sie sich doch nicht merken. Als sie kamen und sich im Halbkreis um ihn hockten, grüßte er sie mit einem anmaßenden Blick, der ihnen Scheu einflößen sollte.
Wo ist Ibetos Sohn? fragte Mbonga.
Wie soll ich das wissen, antwortete Bukawai. Ohne Zweifel hat ihn wieder der weiße Teufelsgott. Wenn ich dafür bezahlt werde, werde ich starke Medizin machen und wir werden erfahren, wo Ibetos Sohn ist, um ihn zurückzuschaffen. Meine Medizin war es, die ihn das letztemal zurückbrachte, obgleich ich meinen Lohn dafür nicht erhalten habe.
Ich habe meinen eigenen Zauberer, um Medizin zu machen, erwiderte Mbonga würdevoll.
Bukawai erhob sich höhnisch: Nun schön, sagte er, dann lasse ihn seine Medizin machen und sieh zu, ob er Ibetos Sohn wiederbringen kann. Er ging einige Schritte davon und drehte sich dann ärgerlich wieder um. Seine Medizin kann das Kind nicht zurückbringen – das weiß ich und ich weiß auch, daß ihr ihn zu spät finden werdet, als daß ihn eine Medizin noch zurückholen könnte, denn er wird dann tot sein. Eben jetzt habe ich das herausgefunden, denn der Geist von meines Vaters Schwester kam eben und sagte es mir.
Nun mochten wohl Mbonga und Rabba Kega auf ihre eigene Zauberei nicht viel geben und möglicherweise hatten sie auch ihre Zweifel an der Zauberkunst des anderen; aber es war immer die Möglichkeit, daß etwas daran war, besonders weil es nicht ihre eigene Methode war. War es nicht wohlbekannt, daß der alte Bukawai mit den Dämonen selbst redete, und daß sogar zwei in Gestalt von Hyänen bei ihm hausten? Doch durften sie nicht zu hastig vorgehen. Der Preis war wohl zu überlegen, und Mbonga hatte keine Lust, zehn Ziegen so leicht herzugeben, nur um einen einzigen kleinen Jungen wiederzubekommen, der womöglich lange, ehe er zum Krieger herangewachsen war, an den Blattern starb.
Warte, sagte Mbonga. Laß uns etwas von deiner Zauberei sehen, damit wir wissen, ob es gute Zauberei ist. Nachher können wir über die Zahlung reden. Rabba Kega wird auch etwas zaubern und wir können sehen, wer den besten Zauber macht. Sehe dich wieder, Bukawai.
Die Zahlung ist zehn Ziegen – fette Ziegen – eine neue Schlafmatte und zwei Stücke Kupferdraht von der Länge eines großen Mannesarmes von der Schulter bis zu den Fingerspitzen, und sie muß im voraus geschehen; die Ziegen müssen mir nach meiner Hütte getrieben werden. Dann werde ich die Medizin machen und am zweiten Tage darauf wird der Knabe wieder bei seiner Mutter sein. Schneller kann ich es nicht vollbringen, denn es braucht viele Zeit, um solch starke Medizin zu machen.
Mache uns jetzt etwas Medizin, sagte Mbonga. Laß uns sehen, was für Medizin du machen kannst.
Bringt mir Feuer, sagte Bukawai, und ich will euch etwas Zauberei zeigen.
Momaya wurde nach Feuer weggeschickt und Mbonga feilschte in ihrer Abwesenheit mit Bukawai um den Preis. Er sagte, zehn Ziegen seien der Preis für einen rüstigen Krieger. Er lenkte auch Bukawais Augenmerk auf den Umstand, daß er, Mbonga, sehr arm sei, daß sein Stamm sehr arm sei, und daß von den zehn Ziegen wenigstens acht zuviel seien, von der neuen Schlafmatte und dem Kupferdraht gar nicht zu reden. Aber Bukawai war hart wie Diamant. Seine Medizin sei sehr kostspielig und er müsse den Göttern wenigstens fünf Ziegen für ihre Hilfe bei der Bereitung geben. Als Momaya mit dem Feuer zurückkam, waren sie noch am Schachern.
Bukawai schüttete etwas Glut vor sich auf den Boden, nahm eine Prise Schießpulver aus der Tasche an seiner Seite und streute es über die Glut. Mit einem Puff stieg eine Rauchwolke auf. Bukawai schloß die Augen und schwankte vor und zurück. Dann fuhr er ein paarmal mit den Händen in der Luft herum und tat, als ob er ohnmächtig würde. Auf Mbonga und die anderen machte das starken Eindruck. Rabba Kega wurde nervös. Er sah seinen guten Ruf schwinden. In dem von Momaya gebrachten Gefäß befand sich noch etwas Glut. Er nahm den Kessel, ließ, als keiner zusah, eine Handvoll trockener Blätter hineinfallen und stieß dann einen fürchterlichen Schrei aus, der die Aufmerksamkeit der Zuschauer von Bukawai auf ihn lenken sollte. Er brachte sogar Bukawai wie durch ein Wunder wieder zu sich, aber als der alte Zauberer den Grund der Störung erkannte, fiel er schleunigst wieder in seine Ohnmacht zurück, ehe jemand seine Übereilung bemerkte.
Sobald Rabba Kega sah, daß Mbonga, Ibeto und Momaya auf ihn achteten, blies er plötzlich in den Kessel mit dem Erfolge, daß die Blätter zu glimmen begannen und Rauch aus dem Behälter aufstieg. Rabba Kega paßte gut auf, daß keiner die trockenen Blätter sah. Bei dieser bemerkenswerten Vorführung seiner Kräfte seitens des Dorfzauberers machten die anderen große Augen. Der letztere, innerlich triumphierend, legte nun los. Er jauchzte, hüpfte auf und nieder und schnitt fürchterliche Grimassen. Dann hielt er sein Gesicht über die Öffnung des Gefässes und schien mit den Geistern darin Zwiesprache zu halten.
Während er sich noch damit befaßte, kam Bukawai wieder aus seinem Traumzustand zu sich, weil seine Neugierde zu stark wurde. Keiner achtete auch nur im geringsten auf ihn. Er blinzelte erst ärgerlich mit einem Auge, dann stieß er gleichfalls ein lautes Brüllen aus. Als er sicher war, daß Mbonga auf ihn achtete, stellte er sich steif und schlug krampfhaft mit Armen und Beinen um sich.
Ich sehe ihn, schrie er. Er ist weit fort. Der weiße Teufelsgott hat ihn nicht. Er ist allein und in großer Gefahr. Aber, fügte er hinzu, wenn die zehn fetten Ziegen und die anderen Sachen rasch an mich gezahlt werden, ist noch Zeit, ihn zu retten.
Rabba Kega hatte innegehalten und hörte zu. Mbonga sah ihn an. Der Häuptling befand sich in tödlicher Verlegenheit. Er wußte nicht, wessen Medizin besser war. Was sagt dir dein Zauber? fragte er Rabba Kega.
Ich sehe ihn auch, schrie Rabba Kega. Aber er ist nicht da, wo ihn Bukawai angibt. Er liegt tot auf dem Grunde des Flusses.
Bei diesen Worten begann Momaya laut zu weinen.
*
Tarzan war der Spur des Alten, der zwei Hyänen und des kleinen Negerknaben bis zum Eingang der Höhle in der Felsschlucht zwischen den zwei Hügeln gefolgt. Hier stand er einen Augenblick vor dem kleinen Verschluß aus Stäben, den Bukawai dort ausgestellt hatte und lauschte auf das Fauchen und Knurren, das gedämpft aus dem hintersten Grund der Höhle kam.
Plötzlich entdeckten die scharfen Ohren des Affenmenschen mit den tierischen Schreien vermischt das jammervolle Stöhnen eines Kindes. Tarzan zögerte nicht länger. Er schleuderte das Tor beiseite und lief in die schmale Öffnung. Der Gang war eng und finster, aber langer Gebrauch seiner Augen im tiefen Dunkel der Dschungelnächte hatte dem Affenmenschen das scharfe Auge der wilden Tiere gegeben, mit denen er seit seiner Kindheit umging.
Rasch aber doch mit Vorsicht eilte er vorwärts, denn der Platz war dunkel, ihm unbekannt und gewunden. Beim Näherkommen hörte er lauter und lauter das wilde Schnarren der zwei Hyänen und das Kratzen und Scharren ihrer Pfoten auf dem Holz. Das Jammern eines Kindes wurde lauter und Tarzan erkannte die Stimme des kleinen, schwarzen Knaben, den er als sein Balu hatte annehmen wollen.
In des Affenmenschen Vordringen zeigte sich keinerlei leidenschaftliche Gefühlserregung. Er war an den gewaltsamen Ausgang des Lebens in der Dschungel zu sehr gewöhnt, um selbst durch den Tod eines ihm gut Bekannten viel gerührt zu werden. Aber die Lust zum Kampfe spornte ihn an. Er war im Herzen nur ein wildes Tier, und sein wildes Tierherz klopfte in freudiger Erwartung eines Kampfes.
In der Felsenkammer mitten im Berge kauerte sich der kleine Tibo so weit ab wie möglich von den hungertollen Bestien an die Wand. Er sah, wie das Gitter den wütenden Schlägen der Hyänen nachgab und wußte, daß sein kleines Leben in wenigen Minuten unter den reißenden gelben Fängen der scheußlichen Geschöpfe ein schreckliches Ende finden würde.
Unter den Stößen der schweren Körper schwankte das Gitter einwärts, bis es mit einem Krach nachgab und die Raubtiere auf den Knaben losließ. Tibo warf noch einen entsetzten Blick auf sie, dann schloß er die Augen und barg sein Gesicht mit jammervollem Schluchzen in den Händen.
Einen Augenblick zögerten die Hyänen, Vorsicht und Feigheit hielt sie noch von ihrer Beute zurück. Nun schlichen sie, auf den Knaben schielend, leise, verstohlen, kriechend näher. Gerade da kam Tarzan über sie und huschte rasch und lautlos in die Kammer; doch konnte er nicht so leise eintreten, daß es die scharfhörigen Tiere nicht bemerkt hätten. Mit bösem Knurren wendeten sie sich von dem Knaben gegen den Affenmenschen, der mit lächelndem Munde auf sie losging. Eines der Tiere behauptete für einen Augenblick seinen Platz, aber der Affenmensch ließ sich nicht einmal herab, gegen den verächtlichen Dango das Jagdmesser zu ziehen. Er stürzte sich auf Dango, packte ihn am Nackenfell, gerade als er unter ihm durchwischen wollte und warf ihn durch die Höhle hinter seinem Gefährten her, der, auf Flucht bedacht, schon durch den Gang davonschlich.
Dann hob Tarzan Tibo vom Boden auf und als das Kind menschliche Hände anstelle der Pfoten und Zähne der Hyänen an sich fühlte, rollte er überrascht und ungläubig seine Augen. Doch als er Tarzan erkannte, brach ein Schluchzen der Erleichterung über seine Kinderlippen und er klammerte seine Ärmchen um seinen Befreier, als ob der weiße Teufelsgott alles andere als das Gefürchtetste der Dschungelgeschöpfe gewesen wäre.
Als Tarzan mit ihm an die Mündung der Höhle kam, war von den Hyänen nichts mehr zu sehen. Er ließ Tibo in einer nahegelegenen Quelle seinen Durst stillen, hob den Knaben auf seine Schultern und setzte sich nach der Dschungel zu in schnellen Trab. Er wollte das störende Geheul Momayas so rasch wie möglich zur Ruhe bringen, denn er urteilte ganz richtig, daß das Verschwinden ihres Balus die Ursache ihrer Wehklagen war.
*
Er liegt nicht tot auf dem Grunde des Flusses, rief Bukawai. Was versteht dieser Bursche vom Zaubern? Wo ist er, der sagen darf, daß Bukawais Zauber kein guter Zauber ist? Bukawai sieht Momayas Sohn. Er ist weit fort und allein und in großer Gefahr. Beeilt euch also mit den zehn fetten Ziegen, der – – –
Weiter kam er nicht, denn von oben kam eine plötzliche Unterbrechung gerade aus den Zweigen, unter denen sie hockten. Als die fünf Schwarzen nach oben blickten, fielen sie beinahe vor Schrecken um, weil der große, weiße Teufelsgott auf sie herniedersah. Aber ehe sie flüchten konnten, zeigte sich ihnen noch ein anderes Gesicht, das des verlorenen kleinen Tibo und dies Gesicht lachte und war sehr glücklich.
Und dann sprang Tarzan mit dem Knaben auf dem Rücken furchtlos zu ihnen herab und stellte diesen vor seine Mutter. Momaya, Ibeto, Rabba Kega und Mbonga, alle vier umstanden den Kleinen und suchten ihn zu gleicher Zeit auszufragen. Plötzlich fuhr Momaya wild herum, denn der Knabe erzählte, was ihm alles von der Hand Bukawais geschehen war, und wollte über den grausamen Alten herfallen, aber Bukawai war nicht mehr zu sehen. Er hatte keine Zauberei gebraucht, um zu wissen, daß ihm Momayas Nachbarschaft gefährlich werden könne, sobald Tibo seine Geschichte erzählt hatte, und nun rannte er durch die Dschungel, so schnell ihn seine alten Beine trugen, nach seiner fernen Behausung, zu der ihn kein Schwarzer zu verfolgen wagen würde.
Tarzan nicht minder war in seiner Art zur Verblüffung der Schwarzen verschwunden. Da fielen Momayas Augen auf Rabba Kega. Der Dorfzauberer sah etwas in diesen Augen, das nichts Gutes bedeutete und wich zurück.
Also mein Tibo liegt tot auf dem Boden des Flusses, nicht wahr? schrie das Weib. Und er ist weit fort und allein und in großer Gefahr, nicht wahr? Zauber!! Die von Momaya in dieses Wort gelegte Verachtung hätte einer Bühnenkünstlerin von Weltruf Ehre gemacht. Fauler Zauber! schrie sie. Momaya wird dir etwas von ihrem eigenen Zauber beibringen, und damit ergriff sie einen abgebrochenen Ast und schlug Rebba Kega damit über den Schädel. Mit schmerzlichem Geheul wandte sich der Mann zur Flucht. Aber Momaya verfolgte ihn und schlug ihn auf der ganzen Strecke durch das Tor und die Dorfstraße entlang über die Schultern, und Krieger, Frauen und Kinder, welche das Glück hatten, es mitansehen zu können, freuten sich diebisch, denn allesamt fürchteten sie Rabba Kega, und fürchten heißt hassen.
So kam es, daß Affentarzan seiner Schar untätiger Feinde an diesem Tage zwei tatkräftige zufügte, die beide lange Nächte hindurch Rachepläne gegen den weißen Teufelsgott schmiedeten, der sie dem Fluch der Lächerlichkeit und Verachtung preisgegeben hatte, aber in ihre übelwollendsten Pläne mischte sich immer ein Schatten fühlbarer Furcht und Scheu, den sie nicht überwinden konnten.
Der junge Lord Greystoke ahnte nicht, daß sie gegen ihn Pläne schmiedeten, und er hätte sich auch nicht darum gekümmert, wenn er es gewußt hätte. Er schlief in dieser Nacht so ruhig wie in jeder anderen, und obgleich er kein Dach über dem Haupte hatte und keine verschlossenen Türen ihn vor Eindringlingen bewahrten, schlief er viel besser als sein vornehmer Verwandter in England, der beim Diner am gleichen Abend zuviel Hummer gegessen und zuviel Wein getrunken hatte.