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Der Aufstieg zur Selbständigkeit.

Kapitel 1.
Vorfahren und Kindheit in der schottischen Heimat.

Die Geschichte seines Lebens, die vor Jahren mein Freund, der Richter Mellon aus Pittsburg, geschrieben hat, bildete für seine Freunde eine Quelle reichster Freude und Befriedigung. Das Buch hat eine besonders wertvolle Eigenschaft: es zeigt uns den Menschen. Es ist geschrieben ohne die geringste Absicht, die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen, und war ursprünglich nur für seine Familie bestimmt. Genau so will auch ich meine Geschichte erzählen, nicht um mich vor der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen, sondern so, als ob ich im Kreise meiner Verwandten und erprobten, treuen Freunde säße, zu denen ich offen und ehrlich reden kann in dem Gefühl, daß selbst die unwesentlichste Episode für sie noch immer von Interesse sein wird.

Also: ich bin am 25. November 1835 in Dunfermline geboren, im Giebelstübchen eines kleinen, einstöckigen Hauses an der Ecke der Moodie Street und Priory Lane. Ich stamme, wie man zu sagen pflegt, »von armen, aber achtbaren Eltern, aus einer anständigen Familie«. Dunfermline war schon lange bekannt als Mittelpunkt des schottischen Leinenhandels. Die Carnegies lebten im 18. Jahrh. in dem malerisch gelegenen Weiler Patiemuir, 2 Meilen südlich von Dunfermline. Durch die steigende Bedeutung der Leinenindustrie in Dunfermline wurden sie dann veranlaßt, dorthin überzusiedeln. Mein Vater, William Carnegie, war Leinenweber und ein Sohn von Andrew Carnegie, nach dem ich genannt wurde.

Mein Großvater Carnegie war in der ganzen Gegend bekannt durch seine geniale Art, seinen guten Witz und seine unverwüstliche Laune. Er sprühte in seiner Jugend von Leben und war weit und breit bekannt als die führende Persönlichkeit der gesellschaftlichen Vereinigung Patiemuir College Er galt nicht nur im Dorfe, sondern auch in der nahen Stadt und der dazugehörigen Provinz als ein Mann, der aus der Menge herausragte. Als kluger Kopf, der viel las und das Gelesene selbständig durchdachte, kam er in Verbindung mit den radikalen Webern von Dunfermline. Diese veranstalteten in Patiemuir Zusammenkünfte, die den Namen, »College« führten; Andrew hieß hier der »Professor«. (Aus J. B. Mackie: A. Carnegie, His Dunfermline Ties and Benefactions.) [Van Dyke.]. Ich kann mich noch erinnern, daß mich einmal, als ich nach 14jähriger Abwesenheit wieder nach Dunfermline zurückkam, ein alter Mann ansprach, der gehört hatte, daß ich der Enkel des »Professors« sei, wie mein Großvater von seinen Bekannten genannt wurde. Der Alte ging ganz krumm infolge der Gicht und seine mächtige Hakennase berührte fast sein Kinn. Er hinkte durch das Zimmer auf mich zu, legte mir seine zitternde Hand auf den Kopf und sagte: »Also Sie sind Andrew Carnegies Enkel! Ja, lieber Mann, ich besinne mich noch auf die Zeit, wo Ihr Großvater und ich mit unsern dummen Streichen den vernünftigsten Menschen um seinen Verstand bringen konnten!« Ein anderer erzählte mir von meinem Großvater u. a. die folgende Anekdote: In einer Silvesternacht wurde ein altes Frauchen, ein rechtes Original im Dorfe, durch einen maskierten Kopf erschreckt, der plötzlich zum Fenster hereinguckte. Sie sah einen Augenblick hin, faßte sich dann aber schnell und rief: »Ach, das ist der verdrehte Kerl, der Andrew Carnegie!« Sie hatte recht: mein Großvater machte es mit seinen 75 Jahren noch so wie das übermütige junge Volk: er band sich eine Maske vor und erschreckte seine alten Freundinnen!

Ich glaube, meine optimistische Natur, meine Fähigkeit, die Sorgen zu zerstreuen und lachend durchs Leben zu gehen, »all meine Enten in Schwäne zu verwandeln«, wie es meine Freunde mir nachsagen, ist ein Erbteil von diesem prachtvollen alten übermütigen Großvater, dessen Namen ich mit solchem Stolz trage. Heitere Gemütsveranlagung ist mehr wert als ein großes Vermögen. Die Jugend sollte wissen, daß man sich dazu erziehen kann, daß die Seele genau so wie der Körper aus dem Schatten in die Sonne gebracht werden kann. Also auf! Bringt sie in die Sonne! Lacht den Kummer fort, wenn es nur irgend geht. Und es geht meist, wenn man ein bißchen philosophisch veranlagt ist, falls nur die Selbstvorwürfe nicht aus dem Bewußtsein eigenen Unrechttuns hervorgehen. Das bleibt freilich für immer; diese »höllischen Flecke« lassen sich nicht abwaschen. Der Richter in der eigenen Brust ist oberste Instanz und unbestechlich. Daher auch die großartige Lebensregel, die uns Burns gibt: »Fürchte nur den eigenen Tadel.« Ich habe mir diesen Wahlspruch schon in früher Jugend zu eigen gemacht, und er hat mir mehr genützt als alle Predigten, die ich je gehört habe, – und das sind nicht wenige. Allerdings muß ich zugeben, daß ich in meinen reiferen Jahren eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem Freund Bailie Walker bekam. Der wurde einmal von seinem Arzt gefragt, wie er schlafe. Er antwortete, sein Schlaf sei durchaus nicht zufriedenstellend, er läge oft genug wach; »aber«, fügte er dann mit lustigem Augenzwinkern hinzu, »manchmal in der Kirche mache ich ein ganz schönes Nickerchen.« –

Mein Großvater mütterlicherseits, Thomas Morrison, war eine noch merkwürdigere Persönlichkeit. Er war ein Freund von William Cobbett Englischer Publizist (1762-1835), seit 1802 Herausgeber des »Weekly Political Register« in London, das, immer oppositioneller und radikaler werdend, starken Einfluß ausübte und dem Herausgeber große Popularität verschaffte., Mitarbeiter an dessen Register und stand in dauerndem Briefwechsel mit ihm. Noch jetzt sprechen in Dunfermline alte Leute vom Großvater Morrison als von dem besten Redner und dem tüchtigsten Mann, den sie gekannt hatten. Er war der Herausgeber des Precursor, der ersten radikalen Zeitschrift in Schottland, sozusagen einer kleineren Ausgabe von Cobbetts Register. Einige seiner Schriften habe ich gelesen, und angesichts der hohen Bedeutung, die man heutzutage der gewerblichen Ausbildung beilegt, halte ich für die bemerkenswerteste eine Broschüre, die er vor einigen 70 Jahren unter dem Titel »Kopfbildung kontra Handbildung« veröffentlicht hat. Er verficht darin die Wichtigkeit der letzteren in einer Weise, die noch heute dem eifrigsten Verteidiger der gewerblichen Ausbildung zur Ehre gereichen würde. Die Schrift endet mit den Worten: »Ich danke Gott, daß ich als junger Mensch Schuhe machen und ausbessern gelernt habe.« Cobbett veröffentlichte sie im Register im Jahre 1833 mit der redaktionellen Bemerkung: »Eine der wertvollsten Erörterungen, die im Register je über diese Frage erschienen sind, ist die unseres hochverehrten Freundes und Korrespondenten in Schottland, Thomas Morrison, die wir in unserer heutigen Nummer bringen.« So bin ich anscheinend mit meiner schriftstellerischen Ader von beiden Seiten her erblich belastet; denn auch die Carnegies waren Leser und Denker.

Mein Großvater Morrison war ein geborener Redner, ein eifriger Politiker und der Führer des äußersten Flügels der radikalen Partei seines Distrikts; dieselbe Stellung bekleidete später sein Sohn, mein Onkel Bailie Morrison. Mehr als ein bekannter Schotte hat mich in Amerika aufgesucht, um »dem Enkel von Thomas Morrison« einmal die Hand zu schütteln. Mr. Farmer, der Direktor der Cleveland- und Pittsburg-Eisenbahngesellschaft, sagte eines Tages zu mir: »All mein Wissen und all meine Bildung verdanke ich dem Einfluß Ihres Großvaters«, und Ebenezer Henderson, der Verfasser der sehr guten Geschichte von Dunfermline, erklärte, daß er sein Vorwärtskommen im Leben in weitem Umfange auf den glücklichen Umstand zurückführe, daß er als Knabe in den Dienst meines Großvaters getreten sei.

Ich habe in meinem Leben genug Schmeicheleien gehört; aber kein Kompliment hat mir so viel Freude gemacht wie die Worte eines Schriftstellers in einer Glasgower Zeitung. Er hatte mich in Saint Andrew's Hall über Homerule in Amerika reden hören. Der Berichterstatter schrieb nun, daß zur Zeit in Schottland viel über mich und meine Familie, besonders aber über meinen Großvater Thomas Morrison gesprochen würde, und fuhr dann fort: »Man denke sich meine Überraschung, als ich in dem Enkel am Rednerpult in Benehmen, Bewegungen und Aussehen das vollkommene Ebenbild des alten Thomas Morrison erblickte!«

Meine auffallende Ähnlichkeit mit meinem Großvater – ich kann mich übrigens nicht erinnern, ihn je gesehen zu haben – steht außer Zweifel. Ich besinne mich noch genau, daß, als ich mit 27 Jahren zum erstenmal nach Dunfermline zurückkam, sich die großen schwarzen Augen meines Onkels Bailie Morrison, der neben mir auf dem Sofa saß, mit Tränen füllten. Er war so überwältigt, daß er kein Wort sprechen konnte und aus dem Zimmer stürzte. Nach einer Weile kam er zurück und erklärte, daß irgendetwas an mir ihn oft plötzlich an seinen Vater erinnere. Das Bild verschwände sofort wieder, kehre aber immer nach einiger Zeit zurück. Es war eine gewisse Ähnlichkeit in den Bewegungen; aber was es eigentlich war, konnte er nicht genau herausfinden. Meine Mutter stellte fortgesetzt an mir Eigentümlichkeiten meines Großvaters fest. Die Theorie von der Vererbung von Neigungen wird täglich und stündlich neu bewiesen; aber wie fein ist das Gesetz, daß sogar Bewegungen eines Menschen sich auf einen andern übertragen.

Mein Großvater Morrison war verheiratet mit Miß Hodge aus Edinburg, einer Dame von guter Bildung, vortrefflicher Erziehung und aus angesehener gesellschaftlicher Stellung. Sie starb schon früh. Damals lebte mein Großvater in ganz guten Verhältnissen; er war Lederhändler und Leiter einer Lohgerberei in Dunfermline. Aber der Friede nach der Schlacht von Waterloo ruinierte ihn, wie so viele Tausende. Infolgedessen hatten die jüngeren Kinder der Familie eine weniger frohe Jugend als der älteste Sohn, mein Onkel Bailie, der in einem gewissen Luxus erzogen war und sogar ein Pony zum Reiten hatte.

Die zweite Tochter, Margaret, war meine Mutter. Von ihr eine ausführliche Schilderung zu geben, vermag ich nicht. Sie hatte von ihrer Mutter die Würde, das feine Wesen und das Aussehen der gebildeten Dame geerbt. Vielleicht werde ich eines Tages der Welt etwas von dieser heldenhaften Frau erzählen, aber ich glaube es nicht. Sie ist mir zu heilig, um ihr Bild vor anderen zu enthüllen. Niemand hat sie jemals wirklich gekannt – niemand als ich. Nach meines Vaters frühem Tode war sie mein Ein und Alles. Die Widmungsworte meines ersten Buches sagen alles; sie lauten: »Meiner teuersten Heldin, meiner Mutter.« –

Hatte ich solchermaßen mit meinen Vorfahren Glück, so hatte ich es auch in hohem Maße mit meinem Geburtsort. Es spielt eine große Rolle, wo man geboren ist; denn Umgebung und Tradition erwecken und fördern so manche schlummernde Neigungen in einem Kinde. Ruskin bemerkt sehr treffend, daß jeder aufgeweckte Junge in Edinburg vom Anblick des Schlosses beeinflußt wird. Ebenso steht das Kind in Dunfermline unter dem Eindruck des herrlichen Klosters, des schottischen »Westminster«, das schon im 11. Jahrhundert (1070) von Malcolm Canmore Malcolm III., König von Schottland, heiratete 1069 die angelsächsische Prinzessin Margarete, die 1251 heiliggesprochen wurde; er fiel 1093 im Kampfe gegen England. und seiner Königin Margarete, der Schutzheiligen Schottlands, gegründet worden ist. Noch heute stehen die Überreste des großen Klosters wie des Palastes, in dem Könige das Licht der Welt erblickten. Dort liegt auch die Pittencrieff-Schlucht, wo sich das Heiligtum der Königin Margarete befindet und die Ruinen von König Malcolms Turm stehen, von dem es im Anfang der alten Ballade Diese berühmte Ballade beginnt mit den angeführten Versen und schildert den Schiffs-Untergang eines schottischen Großen mit seinem Gefolge. Sie ist unbekannten Ursprungs und wurde erstmalig 1765 von Percy veröffentlicht (abgedruckt in: Reliques of Ancient Poetry, Ausg. von H. Wheatley, London 1876, Bd. I, S. 98ff.). Percy hat die Lesart Dumfermeline town (= Stadt), aber Carnegie bestand darauf, daß tower (=Burg) die richtige sei. von »Sir Patrick Spens« heißt:

»Der König sitzt in Dunfermline-Burg,
Er trinkt blutroten Wein.«

Robert Bruces König Robert Bruce († 1329) trat in den Kämpfen, die nach dem durch den Tod Wilhelms des Löwen (1290) erfolgten Aussterben des schottischen Königshauses um die Thronfolge entstanden, als Kronprätendent auf, trug 1314 einen entscheidenden Sieg über den englischen König Eduard II. bei Bannockburn davon und wird als der Begründer der Freiheit Schottlands verehrt. Grab liegt im mittleren Teil des Klosters. Dicht dabei ruht die Königin Margarete, und manch anderer aus königlichem Geblüt schläft in ihrer Nähe den letzten Schlaf. Wahrlich, glücklich ist das Kind, das in dieser romantischen Stadt geboren wird: drei Meilen nördlich vom Firth of Forth auf der Höhe gelegen, mit weiter Aussicht auf das Meer, nach Süden mit dem Blick auf Edinburg und im Norden ganz deutlich die Spitzen der Ochils vor Augen. Und alles ist umweht von dem Zauber der mächtigen Vergangenheit, in der Dunfermline einst in nationaler wie religiöser Hinsicht die Hauptstadt von Schottland war.

Das Kind, dem es vergönnt ist, in einer solchen Umgebung aufzuwachsen, atmet mit der Luft Poesie und Romantik ein, nimmt mit jedem Blick auf seine Umgebung die Geschichte und Überlieferung seiner Heimat in sich auf. Sie werden ihm in seiner Kindheit zu einer wirklichen Welt. Die harten Tatsachen kommen später im Leben, wenn man in die Alltagswelt der krassen Realitäten hineingestoßen wird; auch dann noch, und bis zum Lebensende bleiben die ersten Eindrücke im Gedächtnis haften; manchmal verschwinden sie vielleicht auf kurze Zeit, aber immer wieder kommen sie zum Vorschein und erfüllen unsere Gedanken und verleihen unserem Leben Licht und Farbe. Kein aufgewecktes Kind aus Dunfermline kann sich dem Eindruck des Klosters, des Palastes und der Schlucht entziehen. Sie berühren seine Seele, sie entfachen den im Inneren schlummernden Funken zur Flamme, sie machen etwas Anderes und Größeres aus ihm, als es geworden wäre, wenn es an einem weniger günstigen Orte zur Welt gekommen wäre. Auch meine Eltern waren in dieser anregenden Umgebung geboren, und daher stammt ohne Zweifel der starke Hang zum Poetischen und Romantischen, den beide besaßen. –

Als mein Vater es durch die Weberei zu einigem Wohlstand gebracht hatte, zogen wir von der Moodie Street in ein viel wohnlicheres Haus nach Reid's Park. Die vier oder fünf Webstühle meines Vaters standen hier im unteren Stockwerk; wir wohnten im oberen, das seinen Zugang, wie das bei älteren schottischen Häusern üblich war, von der Straße aus über eine Treppe außen am Hause hatte. In diesem Hause beginnen meine ersten Erinnerungen. Die älteste reicht seltsamerweise bis zu einem Tage zurück, an dem ich eine kleine Landkarte von Amerika sah; sie wurde über einen Rollstab gewickelt und war etwa zwei Quadratfuß groß. Auf dieser Karte suchten mein Vater, meine Mutter, Onkel William und Tante Aitken die Stadt Pittsburg und zeigten auf den Eriesee und die Niagarafälle. Kurze Zeit danach wanderten mein Onkel und Tante Aitken nach dem Lande der Verheißung aus.

Aus derselben Zeit erinnere ich mich auch, welch tiefen Eindruck auf mich und meinen Vetter George Lauder (»Dod« genannt) die Gefahr gemacht hat, die über uns schwebte, weil eine Aufrührerfahne in unserer Bodenkammer versteckt war. Diese Fahne war angefertigt worden, damit mein Vater oder mein Onkel oder irgendein anderer braver Radikaler aus unserer Familie sie bei einem Zuge während der Corn Law-Agitation »Korngesetze« war in der Zeit der englischen Freihandelsbewegung die volkstümliche Bezeichnung für die englischen Schutzzölle auf die Weizeneinfuhr. tragen sollte, und ich glaube, sie ist auch von einem Familienmitgliede getragen worden. Nun war ein Aufstand in der Stadt gewesen und eine Abteilung Kavallerie war in der Guildhall einquartiert. Meine beiden Großväter, alle Onkels, auch mein Vater waren als eifrige Versammlungsredner hervorgetreten, und die ganze Familie war in höchster Aufregung. Deutlich, als ob es gestern gewesen wäre, erinnere ich mich noch, daß ich mitten in der Nacht von einem Schlage an ein Hinterfenster des Hauses aufgeweckt wurde. Einige Männer kamen und teilten meinen Eltern mit, daß Onkel Bailie Morrison ins Gefängnis geworfen worden sei, weil er es gewagt hatte, eine verbotene Versammlung abzuhalten. Der Sheriff hatte ihn einige Meilen vor der Stadt, wo die Versammlung stattgefunden hatte, durch Soldaten festnehmen lassen und ihn, gefolgt von einer ungeheuren Volksmenge, in der Nacht nach der Stadt gebracht. Man befürchtete schwere Unruhen, denn die Menge drohte ihn zu befreien. Später erfuhren wir, daß der Bürgermeister ihn gebeten hatte, an ein Fenster zu treten, das nach der High Street hinausging, und die Menge zum Fortgehen aufzufordern. Er tat das mit den Worten: »Jeder Freund der guten Sache kreuze seine Arme.« Das taten sie, und nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Nun gehet heim in Frieden.« [Die Regierungsbeamten ließen klugerweise die Sache im Sande verlaufen … Mr. Morrison empfing den Beweis für die Dankbarkeit und Hochschätzung seiner Mitbürger, indem er in den Rat und in das Stadtparlament gewählt wurde. Kurz danach wurde er Stadtkämmerer. So wurde der patriotische Reformer, den die Kriminalbehörden als Gesetzesverächter brandmarken wollten, durch die Wahl seiner Mitbürger selbst Mitglied einer Behörde und erhielt noch dazu ein glänzendes Zeugnis seiner Vertrauenswürdigkeit und Unbescholtenheit. – Aus: Mackie, A. Carnegie.] Mein Onkel war, wie alle Mitglieder unserer Familie, ein streng moralischer Mann und beobachtete gewissenhaft die Gesetze, aber er war anderseits durch und durch ein Radikaler und eifriger Bewunderer der amerikanischen Republik.

Man kann sich denken, welche bitteren Worte im engeren Kreise fielen, während all das sich in der Öffentlichkeit zutrug. Klagen und Angriffe gegen die monarchisch-aristokratische Regierung wie gegen alle Arten von Privilegien, anderseits die Großartigkeit der republikanischen Regierungsform, die Überlegenheit Amerikas, eines Landes, das von unserer Rasse bevölkert war, der Heimat freier Männer, wo jedes Bürgers vornehmstes Recht die Gleichberechtigung mit allen anderen war, – das waren die aufregenden Gesprächsstoffe, bei denen ich aufwuchs. Ich hätte als Kind einen König, einen Herzog oder einen Lord totschlagen können und hätte ihre Ermordung als einen Dienst gegen den Staat und somit als besondere Heldentat betrachtet. So stark ist die Wirkung der ersten Kindheitseindrücke, daß es lange gedauert hat, bis ich mich überwinden konnte, respektvoll von irgendeiner bevorzugten Menschenklasse oder Person zu reden, die sich nicht selbst irgendwie ausgezeichnet und dadurch das Recht auf allgemeine Hochachtung erworben hatte. Ich blickte immer noch mit einer gewissen Ironie auf jeden reinen Stammbaum: »er ist nichts, hat noch nichts getan; nur ein Zufall hat ihn in diese Stellung gebracht; er ist ein Betrüger, der sich mit fremden Federn schmückt; das einzige, was er vor anderen voraushat, ist die Zufälligkeit seiner Abstammung. Mit seiner Familie ist es wie mit den Kartoffeln: das Beste liegt unter der Erde.« Ich wunderte mich, daß kluge Menschen in einem Lande leben konnten, wo andere Menschen in Vorrechte hineingeboren wurden. Ich wurde nicht müde, immer wieder die einzigen Worte, die meinem Zorn Luft machten, zu zitieren:

»Einst gab es einen Brutus, der so gern
Des alten Teufels Hof als einen König
Geduldet hätt' in Rom.«

All das war natürlich nur ein bloßes Nachplappern dessen, was ich zu Hause hörte.

Dunfermline ist lange Zeit hindurch als die radikalste Stadt im ganzen Königreich bekannt gewesen. Das gereicht der radikalen Sache um so mehr zur Ehre, als sich in den Tagen, von denen ich spreche, die Bevölkerung von Dunfermline zum größten Teil aus selbständigen kleinen Fabrikanten zusammensetzte, deren jeder einen oder mehrere Webstühle sein eigen nannte. Sie waren nicht an eine feste Arbeitszeit gebunden, sondern arbeiteten im Akkord; sie bekamen von den größeren Fabrikanten das Material zur Verarbeitung geliefert und webten zu Hause.

In jenen Zeiten gingen die Wogen der politischen Erregung hoch, und oft konnte man nach dem Mittagessen in der ganzen Stadt kleine Gruppen von Männern sehen, die in ihren Arbeitsschürzen auf der Straße standen und eifrig politisierten. Die Namen Hume, Cobden und Bright Richard Cobden (1804-65) und John Bright (1811-89), englische Politiker, Führer der freihändlerischen Manchesterpartei, später Minister; vgl. S. 190, Anm. 1. waren in jedermanns Munde. So klein ich war, zogen mich doch oft diese Gruppen an, und ich hörte gespannt der Unterhaltung zu, die von einem ganz einseitigen Standpunkt aus geführt wurde. Der Refrain war immer: es muß anders werden! Die Bürger gründeten Klubs und abonnierten auf die Londoner Zeitungen. Die Leitartikel wurden jeden Abend öffentlich vorgelesen, seltsamerweise von einer der Kanzeln der Stadt. Oft las mein Onkel Bailie Morrison vor, und da er und andere noch einen Kommentar zu den Artikeln gaben, war das Ganze recht aufregend.

Solche politischen Versammlungen fanden häufig statt; ich interessierte mich natürlich ebensosehr dafür, wie irgendeiner unserer Familie, und nahm oft daran teil. Gewöhnlich sprach einer meiner Onkels oder mein Vater. Ich erinnere mich, daß eines Abends mein Vater in einer großen Versammlung außerhalb der Stadt in den Pends sprach. Ich hatte mich zwischen den Beinen der Zuhörer mit hineingedrängt, und bei einem besonders heftigen Beifallssturm konnte ich meine Begeisterung nicht zurückhalten. Ich sah zu dem Mann auf, unter dessen Beinen ich Schutz gefunden hatte, und erzählte ihm, daß es mein Vater sei, der da sprach. Da hob er mich auf seine Schultern und ließ mich dort oben sitzen. In eine andere Versammlung nahm mich mein Vater mit, um John Bright zu hören, der für J. B. Smith als den liberalen Kandidaten für den Stirling-Landtag agitierte. Zu Hause übte ich dann Kritik und meinte, daß Mr. Bright nicht richtig sprechen könne, denn er sage ja » men«, wenn er » maan« meine; er sprach nämlich das a nicht so breit aus, wie wir es in Schottland gewohnt waren. Daß ich in einer solchen Umgebung zu einem eifrigen jungen Republikaner heranwuchs, dessen Motto lautete: »Nieder mit allen Privilegien!« ist kein Wunder. Ich wußte damals noch nicht, was Privilegien waren, aber mein Vater wußte es.

Eine der nettesten Geschichten meines Onkels Lauder handelte von demselben J. B. Smith, der Parlamentskandidat für Dunfermline war. Der Onkel gehörte seinem Wahlkomitee an; alles ging soweit gut, bis irgend jemand bekannt machte, daß Smith ein »Unitarier« Freidenkende Religionsgemeinschaft, die die Trinitätslehre ablehnt. sei. Überall im ganzen Bezirk erschienen Plakate mit der Frage: »Wollt ihr eure Stimmen einem Unitarier geben?« Die Lage war kritisch. Der Vorsitzende von Smiths Komitee in dem Dorfe Cairney Hill, ein Schmied, sollte erklärt haben, daß er so etwas nie im Leben tun würde. Mein Onkel fuhr hinüber, um ihn wieder zur Vernunft zu bringen. Sie trafen sich in der Dorfschänke bei einem Schoppen. »Lieber Freund, ich kann doch nicht für einen Unitarier stimmen«, erklärte der Schmied. »Aber«, erwiderte mein Onkel, »Maitland (der Gegenkandidat) ist sogar Trinitarier!« – »Verflucht! das ist ja noch schlimmer!« lautete die Antwort. Und der Schmied stimmte richtig. Smith kam mit einer kleinen Stimmenmehrheit durch. –

Die Einführung der Dampfwebstühle an Stelle der Handwebstühle wurde verhängnisvoll für unsere Familie. Mein Vater erkannte die drohende Umwälzung nicht zur rechten Zeit und hielt am alten System fest. Der Wert seiner Webstühle sank beträchtlich, und meine Mutter, die Helferin, die in keiner Not versagte, mußte zusehen, die Familie mit über Wasser zu halten. Sie eröffnete einen kleinen Laden in Moodie Street und steuerte dadurch zum Einkommen der Familie bei, das auf diese Weise, wenn es auch spärlich war, immerhin genügte, um uns eine behagliche und »anständige« Lebensweise zu erlauben.

Ich weiß noch, daß ich bald darauf zum erstenmal erfuhr, was es heißt, abhängig zu sein. Es waren schreckliche Tage, als mein Vater sein letztes Stück Stoff zu dem großen Fabrikanten brachte und Mutter seine Rückkehr in ängstlicher Spannung erwartete, um zu hören, ob er neue Aufträge bekommen würde oder ob Arbeitslosigkeit uns drohte. Es tat mir in der Seele weh, daß mein Vater zu anderen Menschen um Arbeit bitten gehen mußte. Damals erwachte in mir der Entschluß, all das wieder gutzumachen, wenn ich erst erwachsen sein würde. Freilich im Vergleich zu manchen von unseren Nachbarn ging es uns noch immer nicht schlecht. Ich weiß nicht, welche Entbehrungen meine Mutter nicht gern ertragen hätte, nur um ihre beiden Jungen immer mit großen weißen Kragen und nett gekleidet zu sehen. –

In einem unbedachten Augenblick hatten meine Eltern das Versprechen gegeben, mich nicht eher zur Schule zu schicken, als bis ich selbst darum bitten würde. Später erfuhr ich, daß ihnen das mit der Zeit recht leid tat, da ich, als ich größer wurde, nicht die geringste Neigung zeigte, diese Bitte auszusprechen. Sie wandten sich an den Lehrer Mr. Robert Martin und veranlaßten ihn, sich etwas um mich zu kümmern. Eines Tages nahm er mich mit einigen meiner Spielkameraden, die schon zur Schule gingen, auf einen Ausflug mit, und meine Eltern fühlten sich sehr erleichtert, als ich wenige Tage später kam und um die Erlaubnis bat, zu Mr. Martin in die Schule zu gehen. Ich brauche nicht besonders zu sagen, daß ich diese Erlaubnis ohne weiteres erhielt. Ich war mittlerweile schon fast 8 Jahre alt geworden. Später habe ich die Erfahrung gemacht, daß jedes Kind in diesem Alter früh genug zur Schule kommt.

Der Schulbesuch bereitete mir die größte Freude, und ich war ganz unglücklich, wenn ich sie einmal aus irgendeinem Grunde versäumen mußte. Das kam gelegentlich vor, weil ich des Morgens immer Wasser vom Brunnen am oberen Ende der Moodie Street holen mußte. Der Zufluß war spärlich und unregelmäßig. Manchmal durfte man erst später am Vormittag schöpfen; dann saß schon eine Schar alter Weiber da, die sich ihren Platz in der Reihe vorher dadurch gesichert hatten, daß sie schon in der Nacht zuvor eine wertlose Kanne an ihrer Statt aufgestellt hatten. Das führte natürlich zu zahlreichen Zänkereien, in denen mich nicht einmal diese verehrlichen alten Tanten unterkriegen konnten. Ich verdiente voll und ganz den Ruf eines »schrecklichen Bengels«. Dabei hat sich wahrscheinlich in mir die Anlage zur Streitlust oder vielmehr zur Kampflust entwickelt, die ich immer behalten habe.

Durch die Ausübung solcher Pflichten kam ich öfters zu spät zur Schule; aber der Lehrer, der ja die Ursache kannte, nahm mir das nicht übel. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß ich auch oftmals nach Schulschluß Geschäftswege zu besorgen hatte. Ich kann also auf mein Leben mit dem Gefühl der Befriedigung darüber zurückblicken, daß ich schon mit 10 Jahren meinen Eltern nützlich war. Etwas später wurde mir auch anvertraut, die Konten unserer verschiedenen Geschäftsfreunde zu führen, so daß ich schon als Kind in bescheidenem Maße eine gewisse Fertigkeit in geschäftlichen Dingen bekam.

Eine dunkle Seite freilich gab es in meinen Schulerlebnissen. Die Jungen gaben mir den Spitznamen »Martins Nesthäkchen« und riefen mir dieses schreckliche Beiwort oft nach, wenn ich über die Straße ging. Ich wußte nicht genau, was sie damit meinten, aber es schien mir eine unerhörte Beschimpfung. Und ich weiß noch, daß mich dieser Spitzname gehindert hat, diesem vortrefflichen Lehrer so unbefangen gegenüberzutreten, wie ich es sonst getan hätte. Ich schulde diesem einzigen Lehrer, den ich je hatte, viel Dank, und es tut mir noch heute leid, daß ich vor seinem Tode keine Gelegenheit mehr gehabt habe, meine Dankbarkeit in die Tat umzusetzen.

Hier muß nun auch der Mann genannt werden, dessen Einfluß auf meine Entwicklung gar nicht überschätzt werden kann: mein Onkel George Lauder, »Dods« Vater. Mein Vater mußte ständig bei seiner Arbeit in der Werkstatt sein und konnte mir am Tage nicht viel freie Zeit widmen. Mein Onkel, der in der High Street einen Laden hatte, war nicht so sehr gebunden. Man beachte die Lage – denn er gehörte dadurch zur Aristokratie der Ladenbesitzer von Dunfermline. In seinem tiefen Schmerz über den Tod meiner Tante Seaton, die ungefähr um die Zeit gestorben ist, als ich zur Schule kam, war sein bester Trost die Beschäftigung mit seinem einzigen Sohn George und mit mir. Er hatte eine ungewöhnliche Begabung für den Umgang mit Kindern und brachte uns allerhand Kenntnisse bei. Unter anderem erinnere ich mich, wie er uns englische Geschichte lehrte: er wies jedem Herrscher einen bestimmten Platz an der Wand des Zimmers an und prägte ihn uns in der Situation, durch die er besonders berühmt geworden ist, ein. So sitzt für mich noch heute König John über dem Kaminsims und unterschreibt die Magna Charta, und die Königin Viktoria sitzt an der Türe mit ihren Kindern auf den Knien. Ich kann dafür garantieren, daß in unserer Liste der Herrscher alle Lücken, die ich in späteren Jahren in der Westminsterabtei fand, restlos ausgefüllt waren. Eine Tafel in einer kleinen Kapelle in Westminster gibt an, daß Oliver Cromwells irdische Reste von dort fortgebracht worden seien. In der Liste der Herrscher, die ich lernte, wenn ich auf den Knien meines Onkels saß, erschien der große republikanische Herrscher in der Weise, daß er gerade seine Botschaft an den römischen Papst schreibt und Seiner Heiligkeit mitteilt, »daß er, wenn die Protestantenverfolgungen nicht eingestellt würden, den Donner der britischen Kanonen im Vatikan zu hören bekommen werde«. Es ist unnötig zu sagen, daß wir in der Wertschätzung Cromwells so weit gingen, zu behaupten, er sei mehr wert, als alle anderen zusammen.

Bei meinem Onkel lernte ich alles, was ich von der alten Geschichte Schottlands weiß: Wallace William Wallace, schottischer Freiheitsheld, erhob sich gegen die englische Herrschaft, siegte 1297 bei Stirling, 1298 von Eduard I. geschlagen, wurde, in Glasgow durch Verrat in Gefangenschaft geraten, 1305 grausam hingerichtet. und Bruce Vgl. S. 5, Anm. 2. und Burns Robert Burns (1759-96), der größte Lyriker Schottlands, von den romantischen Sagen seiner Heimat angeregt, dichtete, zuerst hinter dem Pfluge, seine schottischen Lieder und Balladen voll Naturwahrheit, frischer Unmittelbarkeit und tiefer Leidenschaft. Burns ist auch der Dichter von »Mein Herz ist im Hochland«., die Geschichte vom Blinden Harry, Scott, Ramsey, Tannahill, Hogg und Fergusson. Ich kann wohl mit Burns behaupten, daß damals in mir der schottische Partikularismus (oder Patriotismus) wach wurde, der erst mit meinem Leben enden wird. Wallace war natürlich unser Held; alles Heldenhafte konzentrierte sich in seiner Person. Und ein Trauertag war es für mich, als mir ein großer unverschämter Junge in der Schule erzählte, daß England viel größer sei als Schottland. Ich eilte zum Onkel, der gleich ein Heilmittel für meine Schmerzen hatte: »Ganz und gar nicht, Naig; wenn man Schottland auswalzen wollte, daß es so flach wäre wie England, dann wäre Schottland viel größer. Aber möchtest du unsere Berge ausgewalzt haben?« Nein, niemals! Das war Balsam für die Wunden des jungen Patrioten. Später hielt mir einer die größere Bevölkerungszahl Englands vor, und wieder nahm ich meine Zuflucht zum Onkel. »Ja, Naig, 7:1; aber bei Bannockburn Sieg des Robert Bruce über das Heer König Eduards II. von England im Jahre 1314. standen die Schotten einer noch viel größeren Übermacht gegenüber.« Und wieder war mein Herz voller Freude – Freude darüber, daß der Ruhm um so größer wurde, je mehr Engländer da waren.

Das ist eine Art Kommentar zu der Wahrheit, daß ein Krieg immer wieder neue Kriege hervorbringt, daß jede Schlacht die Saat zu künftigen Schlachten ausstreut, und daß dadurch ganze Völker in traditionelle Feindschaft hineingeraten. Die amerikanischen Jungen erleben dasselbe wie die schottischen: sie wachsen heran bei der Lektüre von Washington und Valley Forge Das Winterlager von Valley Forge gilt als die heroischste Leistung im Unabhängigkeitskriege. Nach der unglücklichen Schlacht am Brandywine im September 1777, die die Flucht des Kongresses aus dem nahen Philadelphia und die Einnahme dieser Stadt durch den englischen General Howe zur Folge hatte, verschanzte sich Washington in dem nur 4 Meilen von Philadelphia entfernten Valley Forge in einer festen Stellung und hielt hier unter den furchtbarsten Entbehrungen seiner Truppen den ganzen Winter über stand, bis im Frühjahr 1778 dadurch, daß Frankreich sich offen für die Union erklärte, der Umschwung im Kriegsverlauf eintrat. In Valley Forge hat der früher preußische Offizier von Steuben die amerikanischen Truppen zu den Engländern ebenbürtigen Gegnern ausgebildet., von den Hessen, die geworben wurden, um Amerikaner zu töten, und so wird ihnen von Anfang an der Haß gegen den bloßen Namen »Engländer« anerzogen. Diese Erfahrung machte ich auch bei meinen amerikanischen Neffen. Schottland erschien ihnen ganz vortrefflich, aber England, das gegen Schottland gekämpft hatte, galt als der böse Feind. Dieses Vorurteil war nicht eher auszurotten, als bis sie erwachsene Männer waren, und etwas davon mag immer noch hängen geblieben sein.

Später hat mir Onkel Lauder erzählt, daß er oft Leute ins Zimmer kommen ließ und ihnen erzählte, daß er »Dod« und mich dahin bringen könne, zu weinen, zu lachen oder kampfbereit unsere kleinen Fäuste zu ballen, – kurz, daß er all unsere Gemütsstimmungen in der Gewalt habe nur durch den Einfluß von Lied und Dichtung. Der Verrat des Wallace war sein letzter Trumpf, der mit unfehlbarer Sicherheit jedesmal unsere kleinen Herzen erbeben ließ; eine völlige Katastrophe war stets die Folge. So oft er auch die Geschichte erzählen mochte, sie übte immer die gleiche Wirkung aus. Zweifellos wurde sie von Zeit zu Zeit mit neuen Zügen ausgeschmückt. Die Geschichten meines Onkels brauchten niemals »Stock und Hut«, wie sie Scott den seinigen mitgab. Wie wunderbar ist doch der Einfluß eines Helden auf ein Kindergemüt!

Viele Stunden und lange Abende verbrachte ich in High Street bei meinem Onkel und »Dod«, und so begann zwischen diesem und mir eine lebenslängliche brüderliche Freundschaft. In der Familie hießen wir nur »Dod« und »Naig«. Ich konnte als Kind nicht George aussprechen, und er konnte von Carnegie nicht mehr als »Naig« behalten. Zwischen uns ist es immer bei »Dod« und »Naig« geblieben; die anderen Namen erschienen uns nichtssagend.

Vom Hause meines Onkels in der High Street konnte ich auf zwei Wegen nach unserem Hause in Moodie Street am unteren Ende der Stadt gelangen: über den alten Kirchhof des Klosters, zwischen den Gräbern hindurch, wo es ganz dunkel war; oder durch das Maitor die erleuchtete Straße entlang. Wenn es Zeit zum Heimgehen war, fragte mein Onkel mich regelmäßig mit einer gewissen boshaften Freude, welchen Weg ich gehen wolle. Ich überlegte, was Wallace wohl an meiner Stelle getan hätte, und antwortete immer, daß ich über den Kirchhof gehen würde. Ich kann mit gutem Gewissen sagen, daß ich nie, nicht ein einziges Mal, der Versuchung erlegen bin, den anderen Weg zu nehmen und den Laternen nach dem Maitor zu folgen. Oft genug schlug mir das Herz bis zum Hals herauf, wenn ich durch das dunkle Gewölbe des Klosters ging. Ich trabte durch die Dunkelheit und versuchte zu pfeifen, um mir Mut zu machen. Für jeden Notfall stellte ich mir immer wieder in Gedanken vor, was Wallace getan hätte, wenn er irgendeinem natürlichen oder übernatürlichen Feind begegnet wäre.

Dem König Robert Bruce ließen mein Vetter und ich als Kinder nie ganz Gerechtigkeit widerfahren. Für uns war es ausschlaggebend, daß er ein König war, Wallace aber ein Mann aus dem Volke. Der Patriotismus eines schottischen Jungen, der so erzogen wird wie ich, bleibt in seinem ganzen Leben eine wirksame Macht. Wenn man dem Ursprung meines Vorrats an jenem Hauptartikel »Mut« nachforschen wollte, so würde die Untersuchung bestimmt ergeben, daß mein Mut von Wallace, dem schottischen Nationalhelden, herstammt. Für einen Jungen bedeutet es eine feste Burg, wenn er einen Helden besitzt.

Als ich nach Amerika kam, hat es mir förmlich weh getan, daß es noch ein anderes Land gab, das da behauptete, es hätte etwas, worauf es stolz sein könnte. Was war ein Land ohne Wallace, Bruce und Burns?! Noch heute steckt etwas von diesem Gefühl in jedem Schotten, der noch nicht aus seiner Heimat herausgekommen ist. Erst in reiferen Jahren und wenn sich der Gesichtskreis erweitert hat, sagt man sich, daß jedes Volk seine Helden hat und seine Romantik, seine Geschichte und seine Großtaten. Und wenn ein echter Schotte in späteren Jahren auch keinen Grund sehen wird, sein Vaterland und dessen Rang unter den größeren Völkern der Erde geringer einzuschätzen, so wird er doch genügend Gründe finden, um von den anderen Völkern eine bessere Meinung zu bekommen, weil auch sie auf vieles stolz sein können, – mehr als genug, um auch ihre Söhne anzuspornen, daß sie in all ihrem Tun sich bestreben, ihrem Vaterland keine Schande zu machen.

Erst nach langen Jahren habe ich das Gefühl gewonnen, daß das neue Land mir mehr als nur ein zeitweiliger Aufenthalt sein könnte. Mein Herz war noch in Schottland. Ich war wie der kleine Junge des Rektors Peterson; als der nach Kanada kam, antwortete er auf eine Frage: er fände Kanada sehr schön für einen kurzen Besuch; aber er könne nicht dauernd so weit entfernt von Bruces und Wallaces Heimat leben. –

Der gute Onkel Lauder legte im Unterricht besonderen Wert auf Deklamieren, und Dod und ich bekamen manchen Penny dafür. In unseren kleinen Kittelchen, mit aufgeschlagenen Ärmeln, geschwärzten Gesichtern, einen Papierhelm auf dem Kopf und ein hölzernes Schwert an der Seite, so mußten mein Vetter und ich fortwährend Norval und Glenalvon, Roderick Dhu und James Fitz-James vor unseren Schulkameraden und oft auch vor Erwachsenen deklamieren.

Ich erinnere mich noch deutlich, daß uns in dem berühmten Dialog zwischen Norval und Glenalvon die Wiederholung der Worte »so falsch wie die Hölle« einiges Unbehagen Der puritanisch-pietistische Geist der schottischen presbyterianischen Kirche dehnt das Verbot des Fluchens auf das Aussprechen von Wörtern, die unheilige Vorstellungen bezeichnen, aus. verursachte. Zuerst husteten wir immer ein wenig bei diesem bedenklichen Worte, was den Zuschauern jedesmal das größte Vergnügen bereitete. Dann aber war es für uns ein großer Tag, als mein Onkel uns erklärte, daß man »Hölle« sagen dürfe, ohne zu fluchen. Ich fürchte, wir haben das Versäumte dann ziemlich oft nachgeholt. Ich spielte immer die Rolle des Glenalvon und schrie das Wort mit voller Lungenkraft heraus. Es hatte für mich den unbeschreiblichen Reiz der verbotenen Frucht. Ich kann die Geschichte von Marjory Fleming sehr gut verstehen; als nämlich Sir Walter Scott eines Morgens bei ihr vorsprach, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, traf er sie ziemlich verärgert an: »Ich bin sehr ärgerlich heut, Mr. Scott«, sagte sie; »ich möchte gern einmal so recht von Herzen fluchen, aber ich darf doch nicht.« In der Folge war die Frage, ob man solch schreckliche Worte aussprechen dürfe, von größter Wichtigkeit. Die Geistlichen durften von der Kanzel herab »Verdammnis« sagen, ohne damit zu sündigen; und wir hatten beim Deklamieren das gute Recht, das Wort »Hölle« auszusprechen. Noch eine andere Stelle hat mir einen besonders tiefen Eindruck gemacht. Im Streit zwischen Norval und Glenalvon sagt Norval: »Wenn wir wieder miteinander kämpfen, dann wird es ein Kampf auf Tod und Leben.« Im Jahre 1897 gebrauchte ich diese Worte in einem Artikel für die North American Review; da fielen sie meinem Onkel beim Lesen auf, und umgehend setzte er sich hin und schrieb mir von Dunfermline aus, er wüßte, woher ich diese Worte hätte. Er war der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der das wußte!

Die Lehrmethode meines Onkels muß mein Gedächtnis außerordentlich gestärkt haben. Man kann jungen Menschen keine größere Wohltat erweisen, als wenn man sie zum Auswendiglernen und häufigen Vortragen ihrer Lieblingsstücke anhält. Alles, was mir gefiel, konnte ich mit einer Geschwindigkeit lernen, die wohlwollende Freunde in Erstaunen setzte. Auch was mir nicht gefiel, lernte ich schnell auswendig, aber das hatte ich dann schon nach ein paar Stunden wieder vergessen. Eine der größten Plagen meiner Schulzeit war das Auswendiglernen der zwei Verse aus den Psalmen, die ich täglich aufsagen mußte. Ich sah den Psalm stets nicht eher an, als bis ich auf dem Schulweg war, der bei langsamem Gehen nicht mehr als 5-6 Minuten dauerte; in dieser Zeit konnte ich die Aufgabe spielend bewältigen. Da der Psalm in der ersten Stunde abgefragt wurde, war ich gut vorbereitet und bestand die Probe mit bestem Erfolg; hätte ich aber eine halbe Stunde später den Psalm wiederholen sollen, dann hätte es ein jämmerliches Fiasko gegeben.

Den ersten Penny, den ich verdiente, d. h. von jemand, der nicht zu unserer Familie gehörte, empfing, bekam ich von meinem Lehrer, Mr. Martin, weil ich vor der ganzen Schule das Gedicht von Burns »Zum Leiden ist der Mensch geboren« deklamiert hatte. Dabei fällt mir eine kleine Geschichte aus späteren Jahren ein. Als ich mit Mr. John Morley in London einmal bei Tisch saß, kam das Gespräch auch auf Wordsworths Leben, und Morley sagte, er hätte seinen ganzen Burns nach dem Gedicht »An das Alter«, das er sehr liebe, durchsucht, aber es unter dieser Überschrift nicht finden können. Es war mir eine Freude, ihm einen Teil des Gedichts aufzusagen. Sofort gab er mir einen zweiten Penny dafür. Morleys große Verdienste in allen Ehren – aber so viel war mir sein Penny doch nicht wert, wie der von meinem Schullehrer Mr. Martin, der ersten »Größe«, die ich gekannt habe.

Mit religiösen Dingen wurde ich nicht viel gequält. Während die anderen Kinder in der Schule den Kleinen Katechismus lernen mußten, waren Dod und ich durch irgendeine Maßregel, deren Zusammenhang mir nie ganz klar geworden ist, davon befreit. All unsere Verwandten, Morrisons und Lauders, hatten auf theologischem wie politischem Gebiet sehr fortschrittliche Ansichten und zweifellos am Katechismus allerhand auszusetzen. In unserer ganzen Familie war nicht ein einziger orthodoxer Presbyterianer. Mein Vater, der Onkel und die Tante Aitken, Onkel Lauder und auch Onkel Carnegie waren der kalvinistischen Dogmatik entfremdet; später fanden die meisten von ihnen zeitweilig ihre Zuflucht im Swedenborgianismus Die Anhänger der von dem Schweden Emanuel Swedenborg (1688-1772) ausgegangenen teils spiritistisch-mystischen (Verkehr mit der Geisterwelt), teils rationalistischen (Ablehnung und Milderung der kirchlichen Dogmen) Lehre bildeten seit 1788 in England und Nordamerika eigene Kirchengemeinschaften.. Meine Mutter sprach nicht von religiösen Dingen und erwähnte sie auch mir gegenüber nie. Sie ging auch nicht zur Kirche; in jener Zeit hatte sie kein Dienstmädchen, machte selbst alle Arbeit im Hause und kochte sogar am Sonntag unser Mittagbrot. Aber sie las immer gern und fand in der Zeit, von der ich spreche, besondere Befriedigung in Channing Freisinniger amerikanischer Prediger und Schriftsteller, gest. 1842., dem Unitarier. Sie war eine wunderbare Frau!

In meiner Kindheit befand sich meine Umgebung in religiöser wie in politischer Hinsicht in einem Zustand höchster Erregung. Neben den fortschrittlichen Ideen, für die in der Politik agitiert wurde: Abschaffung aller Vorrechte, Gleichheit aller Bürger, republikanische Anschauungen – hörte ich manche Dispute über theologische Streitfragen mit an, die auf das leicht empfängliche Kindergemüt weit stärkeren Eindruck machten, als meine Eltern es ahnen mochten. Ich weiß noch, daß das strenge Dogma des Kalvinismus wie ein schrecklicher Alpdruck auf mir lastete. Als ich größer wurde, hütete ich wie einen Schatz in meiner Seele die Erinnerung daran, daß mein Vater eines Tages – es war bald nach meiner Geburt – den presbyterianischen Gottesdienst verlassen hat, als der Geistliche von der ewigen Verdammnis sogar der kleinen Kinder durch Vorherbestimmung predigte. Vater konnte das nicht ertragen und sagte: »Wenn eure Religion und euer Gott so ist, dann suche ich mir eine bessere Religion und einen großmütigeren Gott.« Er ist dann aus der presbyterianischen Kirche ausgetreten und besuchte nun den Gottesdienst verschiedener anderer Kirchen. Einen tiefen Eindruck machte es auf mich, daß er sich jeden Morgen zurückzog, um zu beten. Er war wirklich fromm und blieb es sein Leben lang. Alle Religionsgemeinschaften galten ihm als Wege zum Guten. Er hatte herausgefunden, daß es viele verschiedene Glaubensbekenntnisse gäbe, aber nur eine Religion. Ich war auch ganz der Ansicht, daß mein Vater mehr davon verstand als der Prediger, der uns nicht den »himmlischen Vater«, sondern den grausamen Rachegott des Alten Testaments schilderte, einen »ewigen Folterer«, wie ihn Andrew D. White in seiner Autobiographie zu nennen wagte. Glücklicherweise hat man heute eine andere Auffassung vom Wesen des Unerforschlichen. –

Eines der größten Vergnügen meiner Kindheit war meine Tauben- und Kaninchenzucht. Noch heute bin ich meinem Vater dankbar, wenn ich an die viele Mühe denke, die er sich machte, um mir für meine vierbeinigen und geflügelten Lieblinge ein hübsches Häuschen zu bauen. Unser Heim war das Hauptquartier meiner Freunde. Meine Mutter hielt den Einfluß des Familienlebens immer für das beste Mittel, um ihre beiden Jungen auf dem rechten Wege zu erhalten; sie pflegte zu sagen, deshalb sei es die Hauptsache, daß es zu Hause gemütlich sei. So gab es nichts, was sie und mein Vater nicht getan hätten, um uns und den Nachbarkindern, die sich um uns scharten, eine Freude zu bereiten.

Mit der Kaninchenzucht hängt mein erstes Geschäftsunternehmen zusammen: ich versicherte mich für einen ganzen Sommer der Dienste meiner Kameraden als Arbeitgeber und gewährte dafür als einzigen Lohn, daß die jungen Kaninchen, die geboren wurden, die Namen meiner Freunde erhielten. Den ganzen freien Sonnabend brachte meine kleine Gesellschaft gewöhnlich mit Futterholen für die Kaninchen hin. Noch heute plagt mich nachträglich mein Gewissen, wenn ich daran denke, wie schlecht ich meine Spielgefährten entlohnte, von denen mancher zufrieden war, einen ganzen Sommer hindurch Löwenzahn und Klee mit mir zu sammeln, ohne mehr als jene einzige Belohnung zu erhalten – wohl die armseligste Bezahlung, die je für eine Arbeit geboten worden ist. Aber was hätte ich ihnen sonst anbieten können?! Ich hatte ja selbst keinen Penny!

Diese Erinnerung ist mir besonders wertvoll, weil sie das erste Anzeichen meines Organisationstalents betrifft, von dessen Entwicklung mein äußerer Erfolg im Leben abgehangen hat. Diesen Erfolg verdanke ich weniger dem, was ich selbst getan oder gewußt habe, als meiner Gabe, immer diejenigen ausfindig zu machen und herauszusuchen, die besser Bescheid wußten als ich. Von Dampfmaschinen verstand ich nichts; aber ich versuchte, mich in den viel komplizierteren Mechanismus der Maschine »Mensch« hineinzudenken. Als ich im Jahre 1898 auf unserer Wagenfahrt im Hochland in einem kleinen Wirtshaus haltmachte, kam ein Herr auf mich zu und stellte sich vor. Es war Mr. Mac Intosh, der große schottische Möbelfabrikant, ein prächtiger Mensch, wie ich später wahrnahm. Er sagte, er wäre so frei, sich vorzustellen, da er einer der Jungen sei, die für meine Kaninchen Futter gesammelt hätten, und noch dazu, wie er fürchten müsse, nicht immer auf ganz rechtmäßige Weise, – und es sei auch einmal eins nach ihm genannt worden. Man kann sich denken, wie ich mich über das Wiedersehen freute; er ist der einzige von meinen Kaninchenfreunden, den ich im späteren Leben wiedergetroffen habe. –

Infolge der Einführung und Verbesserung der Dampfmaschinen gingen die Geschäfte der kleinen Fabrikanten in Dunfermline immer schlechter. Schließlich wurde in einem Brief an die beiden Schwestern meiner Mutter, die in Pittsburg lebten, der Gedanke ernsthaft erwogen, ob wir zu ihnen kommen sollten. Die Worte klingen mir noch im Ohr, daß die Eltern diesen Plan gefaßt hätten, nicht um ihre eigene Lage zu verbessern, sondern um ihrer beiden Söhne willen. Die Briefe, die als Antwort kamen, lauteten befriedigend. So entschlossen sich meine Eltern, die Webstühle und Möbel zu versteigern. Oft sang uns mein Vater mit seiner schönen Stimme das Lied vor:

»Nach West, nach West, wo die Freiheit regiert,
Wo sein Wasser zum Meer der Missouri führt,
Wo der Mann noch gilt selbst in harter Fron,
Wo des Bodens Frucht auch des Ärmsten Lohn.«

Das Ergebnis der Versteigerung war eine schwere Enttäuschung. Die Webstühle brachten so gut wie nichts ein, und schließlich fehlten noch 20 Pfund, um die Kosten der Überfahrt nach Amerika zu decken. Hier verdient das wahrhaft freundschaftliche Verhalten einer Jugendfreundin meiner Mutter Erwähnung; meine Mutter hatte immer zuverlässige Freunde, weil sie selbst zuverlässig in ihrer Freundschaft war. Ich spreche hier von Mrs. Henderson, die in unserer Familie immer noch mit ihrem Mädchennamen Ella Ferguson genannt wurde. Sie streckte uns kurz entschlossen die fehlenden 20 Pfund vor, Onkel Lauder und Onkel Morrison bürgten für die Rückzahlung. Onkel Lauder stand uns überhaupt in jeder Hinsicht mit Rat und Tat zur Seite und besorgte alle Einzelheiten für uns. Am 17. Mai 1848 brachen wir von Dunfermline auf. Mein Vater war damals 43 Jahre alt, meine Mutter 33. Ich stand im 13. und mein Bruder Tom im 5. Lebensjahr; er war ein schönes, ganz hellblondes Kind mit glänzenden schwarzen Augen, die überall Aufsehen erregten.

Ich erinnere mich noch deutlich des Morgens, an dem wir mein geliebtes Dunfermline verließen; tränenden Auges blickte ich aus dem Fenster, bis es nicht mehr zu sehen war. Zuletzt entschwand das ehrwürdige alte Kloster. In den ersten vierzehn Jahren nach diesem Abschied hat mich fast täglich derselbe Gedanke bewegt, wie an jenem Morgen: »Wann werde ich das alles Wiedersehen?« Nur selten verging ein Tag, ohne daß ich im Geiste die Zauberbuchstaben aus dem Turm des Klosters sah: » King Robert the Bruce«. All meine Kindheitserinnerungen, alles, was ich vom Märchenland wußte, hatte zum Mittelpunkt das alte Kloster und seine Abendglocke, die jeden Abend um 8 Uhr zu läuten begann und für mich das Signal zum Schlafengehen bedeutete. Über diese Glocke habe ich, nachdem ich das Kloster wiedergesehen hatte, in meinem Buch »Vierspännig durch England« »An American Four-in-Hand in Britain«, Neuyork 1886; deutsche Übersetzung Leipzig 1910. folgendes gesagt:

Als wir die Pends entlang fuhren, stand ich bei dem Bürgermeister Wells vorn in der Kutsche; da hörte ich das Geläut der Klosterglocke, das meiner Mutter und mir zu Ehren erklang. Meine Knie fingen an zu zittern, die Tranen stürzten mir aus den Augen, und einen Augenblick war es mir, als sollte ich ohnmächtig werden. Aber ich bekam mich wieder in die Gewalt. Ich biß mir die Lippen wund und sagte zu mir: »Ach was! Ruhig Blut! Nimm dich zusammen!« Es gibt auf der ganzen Welt keinen Klang, der mich so tief ergreifen und meine Seele so mit seiner süßen, lieblichen, schmelzenden Musik gefangennehmen kann wie das Geläut der Klosterglocke von Dunfermline.

Beim Klang dieser Abendglocke hatte mich meine Mutter in meine kleine Wiege gelegt, und in kindlicher Unschuld war ich unter dieser Musik eingeschlafen. Und wenn sich Vater oder Mutter des Abends zärtlich über mich beugten, hatten sie mir abwechselnd erzählt, was das Geläut des Glöckchens zu bedeuten habe. So manches gute Wort hat mir durch ihren Mund die Glocke gesagt. Keine Unart beging ich den Tag über, von der mir ihre Stimme nicht vor dem Einschlafen im Namen des lieben Vaters im Himmel freundlich sprach; und die Worte waren so klar, daß ich wußte: die Macht, die sie hervorrief, hatte alles gesehen und zürnte mir nicht; sie war nie, niemals zornig, nur ganz, ganz traurig. Und noch heute spricht das Glöckchen zu mir, wenn ich seinen Klang höre. Noch immer hat es mir etwas zu sagen, und jetzt läutete es, um Mutter und Sohn, die aus der Fremde heimkehrten, wieder unter seinem liebevollen Schutz willkommen zu heißen. Die ganze Welt konnte uns nichts Herrlicheres und Beglückenderes bieten, als das, was uns die Klosterglocke gab, als sie uns zu Ehren läutete. Aber mein Bruder Tom – an den dachten wir sofort – hätte das auch hören sollen; ehe wir in die neue Heimat zogen, hatte auch er begonnen, die Wunder unseres Glöckchens zu begreifen.

Rousseau hatte den Wunsch, unter den Klängen süßer Musik zu sterben. Wenn ich wählen dürfte, was ich in meiner letzten Stunde hören möchte, – ich möchte ins Jenseits eingehen unter dem Klange unserer Klosterglocke, die mir vom Kampfe, der dann zu Ende, erzählen würde und mich, wie sie so oft den kleinen blonden Jungen gerufen hat, nun auch rufen möchte – zum letzten Schlafe.


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