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Kapitel 14.
In Schottland. Tod der Mutter. Verheiratung und Familienleben.

Am 12. Juli 1877 wurde mir das Ehrenbürgerrecht meiner Vaterstadt Dunfermline verliehen. Es war der erste Ehrenbürgerbrief, den ich erhielt und für mich die größte Ehre, die mir bis dahin erwiesen worden war. Ich war überwältigt. Nur zwei andere Namen standen in dem Ehrenbuch der Stadt zwischen meiner Unterschrift und der von Sir Walter Scott, der auch Ehrenbürger von Dunfermline gewesen war. Meine Eltern hatten ihn einmal gesehen, wie er das Kloster von Dunfermline skizzierte, und mir oft seine Erscheinung beschrieben.

Als ich mir die Rede, die ich bei der Überreichung des Ehrenbürgerbriefes zu halten hatte, überlegte, sprach ich mit meinem Onkel Bailie Morrison darüber und sagte, ich möchte so reden, wie mir ums Herz wäre; er selbst war ein glänzender Redner, und was er mir damals sagte, war klug. »Ja, genau so mußt du es machen, Andrew. Man soll immer so reden, wie einem tatsächlich zumute ist.« Diese Lehre habe ich mir für meine öffentlichen Reden gemerkt und möchte ich allen jungen Rednern empfehlen. Wenn man vor einem größeren Zuhörerkreise steht, dann soll man daran denken, daß da auch nur Männer und Frauen sitzen, und mit ihnen reden, wie man eben im gewöhnlichen Leben spricht. Wenn man nur nicht versucht, sich anders zu geben, als man ist, dann macht das Reden nicht mehr Schwierigkeiten, als ob man in seinem Bureau mit seinen Angestellten spricht. Es ist unwürdig, anders scheinen zu wollen, als man ist. Seid nur Ihr selbst, und dann vorwärts! Ich fragte einmal Oberst Ingersoll, den besten öffentlichen Redner, den ich je gehört habe, wie er diese Macht über seine Zuhörer gewonnen hätte. »Machen Sie um die Redekünstler einen weiten Bogen, und reden Sie so, wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist«, sagte er.

Dann habe ich in Dunfermline am 27. Juli 1881 wieder eine Rede gehalten, als meine Mutter dort den Grundstein zu der von mir gestifteten ersten Volksbibliothek legte. Mein Vater war einer der fünf Weber gewesen, die seinerzeit die erste Bibliothek der Stadt gegründet hatten, indem sie ihre Bücher den Nachbarn leihweise zur Verfügung stellten. Dunfermline nannte das von mir geschenkte Haus »Carnegie-Bibliothek«. Der Baumeister wollte wissen, welches Wappenschild ich hätte. Ich sagte, ich besäße keines, schlug ihm aber vor, über dem Eingang eine aufgehende Sonne einzumeißeln, die ihre Strahlen nach allen Richtungen sendet, und darunter das Motto: »Es werde Licht.« Diesen Vorschlag hat er dann ausgeführt.

Wir waren damals mit einer ganzen Gesellschaft zu Wagen nach Dunfermline gekommen. Als ich 14 Jahre vorher mit George Lauder und Harry Phipps durch England gezogen war, hatte ich den Plan gefaßt, einmal mit all meinen liebsten Freunden eine Wagenfahrt durch ganz Großbritannien von Brighton bis Inverneß zu machen. Nun war die Zeit für dieses langgeplante Unternehmen gekommen. Im Frühjahr 1881 fuhren wir, eine Gesellschaft von elf Personen, von Neuyork ab. Diese Reise bildet eine der glücklichsten Erinnerungen meines Lebens; sie war eine der Erholungspausen, die mich bei aller anstrengenden Arbeit jung und frisch erhalten haben und mehr wert sind als alle Medizinen der Welt.

Meine gesamten Aufzeichnungen über diese Wagenfahrt bestanden in ein paar Zeilen, die ich jeden Tag in kleine Notizbücher eintrug. Genau wie bei »Rund um die Welt« habe ich auch in diesem Falle nicht daran gedacht, etwa ein Buch, sondern höchstens gelegentlich einmal einen Zeitungsartikel oder einen kurzen Bericht für die Reisegefährten zu schreiben. Als ich aber an einem häßlichen Wintertag es nicht der Mühe wert fand, den Weg von drei Meilen nach dem Neuyorker Bureau zu machen, und mir überlegte, wie ich die freie Zeit anwenden sollte, kam mir die englische Wagenfahrt in den Sinn, und ich begann ein paar Zeilen darüber niederzuschreiben, bloß um einmal zu sehen, wie es ging. Die Erzählung rückte jedoch flott vorwärts und, ehe noch der Tag zu Ende war, hatte ich bereits 3-4000 Worte geschrieben. Nun nahm ich mir die Arbeit, die mir große Freude bereitete, an jedem stürmischen Tage, wenn ich nicht ins Bureau gehen mußte, vor, und nach ausgerechnet 20 solchen Tagen hatte ich das Buch fertig. Ich übergab die Aufzeichnungen dem Verlag Scribner und bat diesen, mir ein paar hundert Exemplare als Privatdruck herzustellen. Der Band gefiel meinen Freunden ebenso wie »Rund um die Welt«.

Eines Tages erzählte mir Mr. Champlin, daß Scribner das Buch gelesen hätte und es gern für das große Publikum veröffentlichen möchte, auf seine eigene Rechnung, aber für mich mit einem Anteil am Erlös. Der eitle Autor läßt sich nur allzu gern davon überzeugen, daß sein Werk vortrefflich ist – und so willigte ich ein. Die Briefe, die ich nach der Veröffentlichung Als Privatdruck unter dem Titel Our Coaching Trip, Brighton to Inverness 1882 erschienen, als Buch unter dem Titel An American Four-in-Hand in Britain 1883 bei Scribner's Sons in Neuyork veröffentlicht; deutsche Übersetzung von I. M. Grabisch unter dem Titel »Vierspännig durch England«, Leipzig und Berlin, Franz Moeser Nachf. 1910. bekam, waren so zahlreich und einige davon so überschwenglich, daß meine Familie sie aufgehoben und in einer Mappe gesammelt hat, die von Zeit zu Zeit noch einige neue Briefe aufnimmt. Besondere Befriedigung gewährt es mir, daß so manche Kranken mir schrieben, denen das Buch in trüben Stunden Freude bereitet hatte. In England fand es eine sehr herzliche Aufnahme, im Spectator erhielt es eine besonders günstige Kritik. Ich bin aber überzeugt, daß das Buch nur deswegen so gut gelungen ist, weil ich mir keine Mühe gab, irgendeine Wirkung auszuüben. Ich schrieb es nur für meine Freunde. Und was man ohne Mühe tut, das gerät auch. Beim Schreiben empfand ich dieselbe Freude, die mir die Reise selbst bereitet hatte. –

Das Ende des Jahres 1886 brachte mir das schwerste Leid. Die glückliche, heitere Jugendzeit war nun zu Ende. Ich stand plötzlich ganz allein in der Welt. Meine Mutter und mein Bruder starben im November innerhalb weniger Tage, während ich selbst mit schwerem Typhus darniederlag, unfähig, mich zu rühren und, da ich selbst mit dem Tode rang, ohne volles Empfinden für die ganze Wucht dieses Schicksalsschlages.

Ich war als erster erkrankt, als ich gerade von einem Besuche in unserem Sommersitze in Cresson Springs, hoch oben im Alleghanygebirge, wo meine Mutter und ich so glückliche Sommertage verlebt hatten, zurückkehren wollte; schon vor meiner Abreise von Neuyork hatte ich mich ein paar Tage lang nicht recht wohl gefühlt. Jetzt stellte der Arzt Typhus fest, und der aus Neuyork gerufene Professor Dennis bestätigte diese Diagnose. Wir ließen sofort einen Arzt und eine Krankenschwester zur dauernden Überwachung kommen. Bald darauf brach meine Mutter zusammen, und aus Pittsburg wurde uns gemeldet, daß auch mein Bruder krank war.

Die Ärzte gaben mich auf, ich war zu entkräftet. Dann ging mit mir eine seltsame Wandlung vor; ich ergab mich in mein Geschick, versank in angenehme Gedanken, empfand nicht die geringsten Schmerzen. Von dem ernsten Zustand meiner Mutter und meines Bruders hatte man mir nichts gesagt; als ich dann erfuhr, daß sie beide mich für immer verlassen hatten, erschien es mir als ganz natürlich, daß ich ihnen folgen sollte. Wir waren immer zusammen gewesen; warum sollten wir es nun nicht mehr sein?!

Aber das Schicksal wollte es anders. Langsam wurde ich wieder gesund. Die Zukunft begann meine Gedanken zu beschäftigen. Nur einen Hoffnungsstrahl und einen Trost sah ich vor mir, an den ich immer denken mußte. Schon seit einigen Jahren kannte ich Miß Louise Whitfield. Ihre Mutter hatte ihr gelegentlich gestattet, mit mir im Central Park zu reiten; wir waren beide leidenschaftliche Reiter. Ich kannte ja auch noch andere junge Damen und ritt, da ich treffliche Pferde hatte, öfters mit der einen oder anderen von ihnen im Park oder in der Umgebung von Neuyork spazieren. Aber all diese anderen erwiesen sich am Ende doch nur als Durchschnittsnaturen. Miß Whitfield allein erschien mir immer als die vollkommenste von allen. Schließlich wurde ich mir darüber klar, daß sie allein der schwersten Probe standhielt, die ich schon an einige schöne Damen im Lauf der Zeit angelegt hatte: sie als einzige! Jeder junge Mann sollte, ehe er einen Antrag macht, diese Probe versuchen. Nur wenn er wirklich, so wie ich, die Wahrheit der folgenden Verse empfindet, nur dann ist alles in Ordnung:

»Gar manches Fräulein
Betrachtet' ich mit Fleiß, und manches Mal
Bracht' ihrer Zungen Harmonie in Knechtschaft
Mein allzu emsig Ohr. Um andre Gaben
Gefielen andre Fraun mir. Doch keine
So ganz von Herzen, daß ein Fehl in ihr
Nicht haderte mit ihrem schönsten Reiz
Und überwältigt' ihn: doch Ihr, o Ihr,
So ohnegleichen, so vollkommen, seid geschaffen
Aus aller Schöpfung Bestem.« Ferdinand zu Miranda in »Der Sturm« von Shakespeare, 3. Aufzug, 1. Szene.

In meiner tiefsten Seele fanden diese Worte vollsten Widerhall. Heute, nachdem ich 20 Jahre an der Seite dieser Frau gelebt habe, könnte ich mit gutem Gewissen noch stärkere Worte gebrauchen, wenn ich sie fände.

Mein Antrag wurde nicht gleich angenommen. Sie hatte noch mehr Bewunderer, und mancher von diesen war jünger als ich. Mein Reichtum und meine Zukunftsaussichten sprachen bei ihr gegen mich. Ich war reich und mir fehlte nichts; sie glaubte daher, sie könnte mir nichts sein. Ihr Ideal war es, einem jungen, ringenden Menschen ein wirklicher Kamerad zu sein, dem sie unentbehrlich sein könnte und würde, so wie es ihre Mutter für ihren Vater gewesen war. Ihr Vater war gestorben, als sie 21 Jahre alt war, seitdem hatte die Sorge für ihre Familie im wesentlichen auf ihr gelegen. Jetzt war sie 28 Jahre alt und hatte eine fest gegründete Lebensanschauung. Zeitweilig schien sie meiner Werbung mehr geneigt und standen wir im Briefwechsel. Aber einmal schickte sie mir meine Briefe zurück und schrieb, sie wüßte nun, daß sie nicht mehr daran denken dürfe, meine Frau zu werden.

Professor Dennis und seine Gattin nahmen mich, sobald ich transportfähig war, von Cresson mit in ihr eigenes Heim nach Neuyork. Ich lag dort noch einige Zeit unter der persönlichen Fürsorge des Professors. Miß Whitfield besuchte mich dort, denn von Cresson aus hatte ich die ersten Worte, die ich zu schreiben vermochte, an sie gerichtet. Jetzt sah sie, daß ich ihrer bedurfte. Ich stand ganz allein in der Welt. Jetzt konnte sie mir in jeder Beziehung Kamerad sein. Jetzt waren ihr Herz und ihr Verstand miteinander einig. Der Tag der Hochzeit wurde bald festgesetzt; am 22. April 1887 sind wir in Neuyork getraut worden. Unsere Hochzeitsreise machten wir nach der Insel Wight.

Sie war entzückt, als sie wilde Blumen fand. Oft hatte sie von Männertreu, Stiefmütterchen, Primeln, Thymian und all den traulichen Namen gelesen, aber bis jetzt waren ihr das bloße Namen gewesen. Alles erregte ihre Freude. Onkel Lauder und einer meiner Vettern kamen aus Schottland, um uns zu besuchen, und dann fuhren wir bald nach der Wohnung in Kilgraston, die sie als Sommeraufenthalt für uns ausgesucht hatten. Von Schottland war sie offenbar ganz begeistert. Als Mädchen hatte sie viel über Schottland gelesen, Scotts Romane und seine »Schottische Helden« waren ihre Lieblingsbücher gewesen. Jetzt wurde sie bald noch schottischer gesinnt als ich. All das war für mich eine Erfüllung meiner schönsten Träume.

Einige wunderschöne Tage verlebten wir auch in Dunfermline. Wir suchten die Schauplätze aller wichtigen Ereignisse meiner Kindheit auf und ich erzählte ihr haarklein jede Einzelheit. Überall hörte sie nur Gutes und Schmeichelhaftes über ihren Mann; das setzte mich natürlich auch in ihren Augen in ein günstiges Licht.

Gelegentlich unserer Weiterreise verlieh mir die Stadt Edinburg das Ehrenbürgerrecht, Lord Rosebery hielt dabei die Festrede. In der Stadt war es wie bei einem großen Volksfest. Ich hielt im größten Saale eine Ansprache an die Arbeiter und bekam ein Geschenk von ihnen; ebenso überreichten sie meiner Frau ein solches in Gestalt einer Brosche, die sie hoch in Ehren hält. Sie hörte und sah die Dudelsackpfeifer in ihrer vollen Pracht und bat, wir möchten doch auch in unserem Hause einen solchen haben, der uns mit seinem Spiel des Morgens wecken und zum Essen rufen sollte. Sie erklärte, wenn sie verurteilt wäre, auf einer einsamen Insel zu leben und sich da nur ein Musikinstrument halten dürfte, dann wäre es bestimmt der Dudelsack. Einen Sackpfeifer bekam ich schnell. Er ging pfeifend vor uns her, als wir in Kilgraston in unser Haus einzogen.

Es gefiel uns sehr in Kilgraston, obwohl meine Frau sich einen Aufenthalt wünschte, der noch tiefer im wildromantischen Hochland läge. Matthew Arnold besuchte uns, ebenso Mr. und Mrs. Blaine, Senator Eugene Hale mit seiner Gattin und viele andere Freunde John Hay schrieb am 25. August 1887 aus London an seinen Freund Henry Adams folgendermaßen über die Gesellschaft in Kilgraston: »Danach besuchten wir Andy Carnegie in Perthshire, der sich auf der Hochzeitsreise befand. Er hat ein hübsches Mädchen geheiratet. Das ganze Haus ist voll Besuch; als wir abfuhren, waren 16 Personen da, – wir blieben aber nur drei Tage; die anderen waren 14 Tage dort. Unter diesen waren auch unsere Freunde Blaine und Hale aus Maine. Carnegie gefällt das so gut, daß er es jeden Sommer so halten will und sich alle großen Besitzungen in der Grafschaft ansieht, ob er eine davon kaufen oder pachten kann. (Thayer, »Life and Letters of John Hay«, Bd. 2, S. 74.) [Van Dyke.]. Meine Frau wollte meine Verwandten aus Dunfermline gern bei uns sehen, besonders die alten Onkels und Tanten. Alle waren von ihr entzückt und äußerten mir ihre Überraschung, daß diese Frau mich geheiratet hätte; aber ich konnte ihnen die Versicherung geben, daß ich nicht weniger überrascht sei. Wir waren sicher vom Schicksal füreinander bestimmt.

Als wir nach Neuyork zurückfuhren, nahmen wir den Dudelsackpfeifer und auch einige unserer Bediensteten mit. Mrs. Nicoll ist noch immer bei uns und gilt jetzt nach 20jähriger treuer Dienstzeit wie zur Familie gehörig. Auch George Irvine, unser erster Diener, kam ein Jahr später zu uns hinüber und gehört ganz zu uns, ebenso Maggie Anderson, eines der Dienstmädchen. Sie alle sind treue Seelen von prächtigem Charakter und wirklicher Anhänglichkeit.

Im nächsten Jahre wurde uns Schloß Cluny angeboten. Unser Dudelsackpfeifer konnte uns viel davon erzählen, da er dort geboren und aufgewachsen war. Es ist wohl mit auf seinen Einfluß zurückzuführen, daß wir dieses Schloß für mehrere Sommer zum Aufenthalt wählten.

Am 30. März 1897 wurde uns unsere Tochter geboren. Als ich sie zum erstenmal erblickte, sagte meine Frau: »Sie soll Margaret heißen, wie Deine Mutter. Und nun möchte ich Dich um etwas bitten.« – »Was möchtest Du denn, Lou?« – »Wir müssen doch jetzt, wo wir das Kleine haben, auch eine ständige Sommerwohnung besitzen. Wir möchten nun doch nicht nur eine mieten, bei der wir an einen bestimmten Tag für den Ein- und Auszug gebunden sind, sondern sie sollte unser Eigentum sein.« – »Aber gewiß!« stimmte ich mit Freuden zu. – »Aber eine Bedingung stelle ich.« – »Welche nämlich?« fragte ich. – »Unser Haus muß im schottischen Hochland liegen.« – »Gott segne Dich«, war meine Antwort. »Das ist ja auch mein sehnlichster Wunsch. Du weißt, daß ich heiße Sonne nicht vertrage. Wo könnten wir ihr besser entfliehen, als in meinem geliebten Hochland? Ich will mich gleich nach einem passenden Hause umsehen und Dir Bericht erstatten.« So kauften wir Schloß Skibo.

Es sind nun zwanzig Jahre her, seit meine Frau, wenige Monate, nachdem ich durch den Tod meiner Mutter und meines Bruders ganz vereinsamt war, in mein Leben hineintrat und diesem eine ganz neue Richtung gab. Sie hat mich so glücklich gemacht, daß ich mir ein Leben ohne ihre treue Fürsorge gar nicht mehr vorstellen kann. Ich glaubte sie schon damals ganz zu kennen, als sie der Probe Ferdinands bezieht sich auf das Zitat aus Shakespeares »Sturm« auf S. 143. standhielt; aber da hatte ich ja erst die Oberfläche ihres prächtigen Charakters zu sehen bekommen. Die volle Reinheit, Heiligkeit und Klugheit ihres Wesens hatte ich damals noch nicht ergründet. In jeder Lage unseres bewegten, wechselvollen und späterhin gewissermaßen in der Öffentlichkeit sich abspielenden Lebens, in all ihren Beziehungen zu anderen, auch zu ihrer und meiner Familie, hat sie sich stets als die geschickte Friedenshüterin bewährt. Milde und Güte bezeichnen ihre Fußspuren, soweit sich ihr segenspendender Einfluß erstreckt. In den seltenen Fällen, wo energisches Auftreten angebracht ist, ist sie die erste, die entschlossen ihren Platz behauptet.

Mein Friedensengel hat in seinem ganzen Leben nie einen Streit gehabt, nicht einmal mit ihren Schulkameradinnen; und unter allen, die sie kennen, ist auch nicht ein einziger, der auch nur die geringste Veranlassung hätte, sich über Vernachlässigung zu beklagen. Nicht etwa, daß sie es nicht verstände, die Besten heranzuziehen und unerwünschte Gäste mit feinem Takt abzuwehren – denn keiner ist im Verkehr wählerischer als sie –, aber sie läßt sich weder durch Rang noch durch Reichtum oder gesellschaftliche Stellung auch nur im geringsten beeinflussen. Zu einem groben Wort oder einer jähzornigen Handlung ist sie nicht imstande; alles an ihr zeugt von feinem Takt. Aber dennoch sorgt sie dafür, daß das Niveau nicht sinkt. Zu ihren Vertrauten hat sie nur die Besten. Immer denkt sie, wie sie ihrer Umgebung etwas Liebes erweisen kann; wenn Not am Mann ist, steht sie jedem mit Rat und Tat zur Seite, und in ihren Ratschlägen und in der Wahl ihrer Geschenke ist sie so klug, daß sie alle in Erstaunen setzt.

Ich kann mir nicht denken, wie ich diese 20 Jahre ohne sie hätte leben können; aber ebenso unerträglich ist mir der Gedanke, sie zu überleben. Das habe ich nach dem Naturlauf der Dinge wohl nicht zu befürchten. Aber dann ist mir wieder der Gedanke qualvoll, wie es ihr, die die liebevolle Fürsorge und den guten Rat eines tatkräftigen Mannes braucht, ergehen wird, wenn sie allein steht; oft wünsche ich, ich könnte ihr die Last abnehmen, die dann auf ihr ruhen wird. Aber dann hat sie ja unsere geliebte Tochter, und das wird ihr vielleicht helfen, stark zu bleiben. Überdies braucht Margaret ihre Mutter nötiger als mich. Warum, ach, warum müssen wir den Himmel, den wir hier auf Erden gefunden haben, verlassen und in ein unbekanntes Jenseits gehen! Denn ich kann wohl mit Jessica sagen:

»Es schickt sich wohl,
Daß Don Bassanio fromm sein Leben führe;
Denn da sein Weib ihm solch ein Segen ist,
Find't er des Himmels Lust auf Erden schon.«


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