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Bild: Richard Gutschmidt

Lena Giese

»Nun, Lena, hast du mein Rezept gleich in die Apotheke gebracht, damit die Pulver nochmals angefertigt werden?«

»Nein, Mutter, ich habe es nur von Doktor Fischer unterschreiben lassen. Daß es auch zur Apotheke sollte, hast du mir nicht gesagt.«

»Aber mein gutes Kind, das ist doch selbstverständlich! Oder hast du geglaubt, daß es mir nur um Doktor Fischers Namenszug zu tun sei?«

Lena lachte. »Nein, Mutter, eigentlich nicht. Ich habe aber überhaupt nicht wieder an das Rezept gedacht, seitdem ich es in mein Täschchen steckte.«

Die Mutter schüttelte den Kopf. »Wann du wohl endlich denken lernst, Mädchen!«

»Das kommt auch noch, Mutti. Vati sagt ja immer, ich brauche zu meiner Entwicklung länger Zeit als andere Menschen.« Ihre dunklen Augen lachten schelmisch, die Mutter aber drohte ihr mit dem Finger.

»Leichtsinn du! Schlimmeres hätte der Vater gar nicht sagen können; nun hältst du dich am Ende gar zu allen möglichen Untugenden berechtigt. Ich an deiner Stelle würde meinen Entwicklungsgang etwas beschleunigen, um nicht schließlich für zurückgeblieben zu gelten.«

»Mutter!« Lena eilte hin, umfaßte die am Fenster Sitzende, und sah ihr in die heiteren blauen Augen. »Du glaubst ja selbst nicht, daß auch nur ein Mensch auf so etwas Schreckliches kommen könnte.«

»Im Ernst, Lena, ich würde an deiner Stelle mit aller Kraft gegen meine Gedankenlosigkeit zu Felde ziehen; so wie du jetzt bist, kommst du nicht durch das Leben.«

»Gut, Mutter, ich will es ernstlich versuchen – mein Ehrenwort! Um gleich den Anfang zu machen, laufe ich sofort zur Apotheke und hole deine Pulver.«

»Es dauert aber wenigstens eine halbe Stunde, bis sie fertig sind, Kind.«

»O, dann gehe ich so lange durch die Straßen; es ist ja wunderschönes Wetter.«

»Vergiß nur nicht, zum Mittagessen wiederzukommen!«

Lena drehte sich lachend auf dem Absatz herum und ließ die Blicke suchend umherschweifen.

»Wo ist denn mein Täschchen? Ich hatte es doch auf den Tisch gelegt!« Sie lief zwecklos im Zimmer umher und warf Bücher und Zeitungen durcheinander.

»Halt, Lena! Keine Unordnung, wenn ich bitten darf,« rief die Mutter streng. »Das dulde ich nicht.«

Lena verschwand. Sie suchte die ganze Wohnung ab und kam sehr kleinlaut wieder.

»Ich habe mein Täschchen sicher bei Steffen oder Arend liegen lassen; sonst bin ich nirgends gewesen. Kann Elise mal schnell hinlaufen und nachfragen, Mutter?«

»Jetzt – mitten aus der Arbeit heraus? Nein, Töchterchen, bemühe dich nur selbst hin!«

Ohne auch nur einen Blick in den Spiegel zu werfen, setzte Lena den Hut auf das krause, braune Haar. »Ich gehe dann gleich zur Apotheke, Mutter.«

»Schön, Kind.«

Es wurde still um Frau Professor Giese, doch nicht lange. Vom offenen Fenster herein tönte die Stimme ihres Jüngsten, des vierjährigen Rolf, der sie schmeichelnd einlud, »zoologischer Garten« mit ihm zu spielen und ihr die Rolle eines Schimpansen zuerteilte.

Die Mutter lachte. »Sehr schmeichelhaft, mein Sohn. Was habe ich denn als solcher zu tun?«

»Du mußt klettern und springen und mit den Zähnen fletschen, Mutti.«

»Junge, ich bin doch kein Affe.«

»Du brauchst auch nur so zu tun, Mutti. Ich bin der Vater und komme gleich mit dem kleinen Rolf nach dem Affenkäfig. Dann mußt du dem bange machen.«

Das schöne Spiel begann, und des Jungen heller Jubel verkündete, daß die Mutter ihre Rolle erfaßt hatte.

Da wurde die Tür geöffnet; Lena erschien wieder, eine Falte auf der Stirn.

»Ich habe mein Täschchen nirgends gefunden, Mutter; ich muß es verloren haben. Es war das neue, das du mir zum Geburtstag geschenkt hast. Bist du sehr böse?«

»Mehr um deine Unachtsamkeit als um das Täschchen, das zu ersetzen ist. Siehst du ein, wie recht ich hatte, als ich vorhin sagte, du müßtest deine grenzenlose Gedankenlosigkeit mit dem größten Ernst bekämpfen?«

»Ja, Mutter. Ich will es ja auch. Hätte ich jetzt nur mein Täschchen wieder! Zum Glück war nur ein Taschentuch drin, mein Portemonnaie mit dem Rezept und ein paar Pfennige. Mutter, muß ich nun noch einmal zu Doktor Fischer?«

»Gewiß, aber für heute ist es zu spät; seine Sprechstunde ist längst zu Ende. Es ist mir recht ärgerlich, daß ich meine Pulver nun erst morgen bekomme.«

»Es tut mir herzlich leid, Mutter! Aber könnte nicht einer der Jungen vielleicht morgen zu Doktor Fischer gehen? Es ist ja Sonntag. Mich würde er recht necken.«

»Nein, mein Kind; es ist mir lieber, du gehst.«

Lena seufzte tief; vor dem necklustigen Doktor hatte sie Angst. Sie sah so unglücklich aus, daß Rolf, der längst hereingekommen war, mitleidig ihre Hand streichelte.

»Arme Lena, bist du unartig gewesen? Sag schnell, daß du's nicht wieder tun willst, dann ist Mutti gut.«

»Ach, Bubi, so einfach ist das nicht,« rief Lena kummervoll aus. »Mutter, woher mag es nur kommen, daß ich meine Gedanken nie beisammen habe?«

»Weil du dir noch nie ernstlich Mühe gegeben hast, liebe Tochter.«

»Das mag sein, Mutter. Aber jetzt will ich, denn ich glaube wirklich, es kann mir einmal etwas Unangenehmes dadurch entstehen.«

»Ich freue mich, daß du zu dieser Einsicht kommst, Lena. Was gibt es, Elise?« fragte sie das eintretende Mädchen.

»Frau Professor, entschuldigen Sie – da ist ein Schutzmann, der die gnädige Frau selbst sprechen will.«

Erstaunt erhob sich die Frau Professor und trat auf den Flur, begleitet von der neugierigen Lena und dem ganz entsetzten Rolf, der sich ängstlich an Mutters Hand klammerte und einmal über das andere versicherte, daß er heute den ganzen Tag »furchtbar brav« gewesen sei.

In diesem Augenblick kamen die beiden älteren Söhne des Hauses, Werner und Helmut, aus der Schule und blieben offenen Mundes neben dem Manne des Gesetzes stehen. Der verbeugte sich höflich und ersuchte die Frau Professor, ihm zum nächsten Polizeibureau zu folgen, und ein Täschchen, das dort abgegeben wurde, in Empfang zu nehmen. Ein Rezept habe Aufschluß über die Eigentümerin gegeben.

Ein Lächeln flog Frau Professor über das Gesicht.

»Nicht mir gehört das Täschchen, sondern meiner Tochter,« entgegnete sie. »Du hast es verloren, Lena; also geh mit und hole es dir wieder.«

Lena war sehr rot geworden, sie lachte aber. Im Grunde schien es ihr ein ungewöhnlicher Spaß, von einem Schutzmann abgeholt zu werden. Rolf hingegen faßte die Sache entschieden ernster auf. Er brach in ein lautes Geschrei aus und umklammerte die Schwester.

»Du sollst nicht gehen, Lena! Bitte, bitte, lieber Mann, laß meine Lena hier; sie will auch gar nicht wieder unartig sein! Nimm sie bloß nicht mit, bitte, bitte, lieber Mann!«

»Sei nur ruhig, Kleiner, deiner Schwester geschieht nichts,« tröstete der Schutzmann, aber Rolf ließ sich nicht beruhigen und schrie, so laut er konnte, trotz der Mutter Versicherung, daß Lena ja bald wiederkomme.

»Dummer Bub, ich gehe mit; ich laß Lena schon nichts geschehen,« rief Helmut und stürmte Lena und dem Schutzmann nach.

»Ich will auch mit,« erklärte Werner und lief, so schnell er konnte, hinterher, die drei noch einzuholen.

»So, Flattergeist, das hast du davon,« sagte Helmut vorwurfsvoll und drängte sich an ihre linke Seite.

»Ich glaube gar, sie freut sich noch,« bemerkte Werner tadelnd, der eben hinzukam.

»Selbstverständlich! Ich hatte meinem entzückenden Täschchen schon sehr nachgetrauert: nun bin ich selig, es zurück zu erhalten, und wie ich wieder in seinen Besitz gelange, das ist einfach wonnig.«

Bild: Richard Gutschmidt

Auf dem Wege zum Fundbureau.

»Mädchenauffassung! Aber was wißt ihr von Ehrbegriff!«

»Ja, ein solcher Tugendbold wie du bin ich leider nicht, geliebter Tipps.«

Werner wurde rot. Er spielte sich gern bei allen Gelegenheiten Lena gegenüber etwas auf und tadelte sie viel; im übrigen aber ließen weder er noch Helmut etwas auf die Schwester kommen.

»Dürfen wir nicht mit hineingehen?« bat Helmut, als sie vor dem Polizeibureau angelangt waren.

»Nein, mein Junge, das darf ich nicht erlauben,« entgegnete der Schutzmann; »aber ihr könnt ganz ruhig sein, dem Fräulein geschieht nicht das geringste!«

Lena nickte den Brüdern lustig zu und folgte ihrem Führer in das Wachtzimmer der Schutzleute. Der Mann hieß sie warten und ging, sie zu melden. Ein wenig klopfte ihr doch das Herz, als man sie gleich darauf zu dem Wachtmeister beschied.

Ein lustiges Lachen aber flog ihr über das Gesicht, als sie auf dem Tische vor dem Beamten ihr Täschchen entdeckte, daneben alles, was sich darin befunden hatte.

»Frau Professor Giese?« fragte der Wachtmeister höflich.

Lena biß sich auf die Lippen. »Nein,« entgegnete sie, mühsam die Heiterkeit unterdrückend, »bloß die Tochter, Lena Giese. Das Täschchen gehört mir; ich habe es verloren.«

»Gut. Was enthielt es?«

»Ein Taschentuch, ein Geldtäschchen mit siebenundsechzig Pfennig und ein Rezept von Herrn Doktor Fischer für meine Mama.«

»Sie erkennen die Gegenstände hier als die Ihrigen an?«

Ja.«

»Und es fehlt nichts?«

»Nein.«

Lena mußte an sich halten, nicht zu lachen, als der Beamte ihr die siebenundsechzig Pfennig vorzählte und sich von ihr durch Namensunterschrift den Empfang ihres Eigentums bescheinigen lieh. Sie erfuhr noch, daß ein Student ihr Täschchen gefunden und keinen Finderlohn beansprucht habe; dann war sie entlassen. Ihr Täschchen lustig in der Hand schwenkend, eilte sie zu den Brüdern auf die Straße.

»Hurra, da hab' ich's, und der Musenjüngling, der es gefunden hat, verzichtete großmütig auf Finderlohn! Wahrscheinlich hält er die Frau Professor Giese für eine sehr arme Dame. Ein edler junger Mann! Die siebenundsechzig Pfennig aber, die ihn sichtlich zum Erbarmen anspornten, Jungen, die legen wir sogleich in Kuchen an!«

»Na – hör mal – jetzt kurz vor dem Essen,« ließ sich Werner vernehmen. Er wurde aber so lebhaft von den beiden überstimmt, daß er sich überreden ließ.

»Man muß die Feste feiern, wie sie fallen,« erklärte Lena, als sie sich beim nächsten Konditor gütlich taten.

»Meinetwegen kannst du jetzt öfter mal was verlieren,« sagte Helmut. »Ich gehe gern wieder mit zum Polizeibureau.«

»Das glaube ich dir auch ohne Versicherung, mein Junge,« erwiderte Lena fröhlich. »Aber nun schnell, daß wir nach Hause kommen!«

Selbst Rolf söhnte sich mit der Polizei aus, als er sein »Mitgebrachtes« in Empfang nahm. Er hielt fortan den Schutzmann nicht mehr für seinen größten Feind, sondern erklärte Elise, sehr zu deren Mißvergnügen, daß die unartigen Kinder auf der Wache Kuchen bekämen, sobald sie versprächen, es nicht wieder zu tun.

Der Frau Professor Hoffnung aber, daß Lena sich dieses Erlebnis etwas zu Herzen nehmen und ihre Gedanken mehr im Zaum halten werde, erwies sich als falsch. Dazu war das kleine Abenteuer zu heiter ausgeklungen. Sie ließ nach wie vor ihre Gedanken ausflattern wie wilde Vögel, statt sie auf das Nächstliegende zu richten, und vernachlässigte die kleinen Pflichten, die ihr die Mutter als halb erwachsener Haustochter übertragen hatte.

»Woran denkst du nur immer?« fragte die Mutter eines Morgens ernstlich erzürnt, als man beim Kaffee saß und Lena vergessen hatte, den Brüdern ihr Frühstück zu schneiden.

»Ach!« Lena hielt im Streichen inne und sah begeistert empor. »An gestern abend, Mutter! Der Sonnenuntergang am Schlachtensee war einfach zauberhaft, und bei Familie Bernau ist es immer zu wonnig.«

Helmut stieß sie unsanft in die Seite. »So mach doch! Wir kommen entschieden zu spät, wenn du dich noch lange mit unnützen Reden aufhältst.«

Hastig wickelte Lena das Butterbrot ein, und die Jungen liefen davon.

»Ja, es war gestern abend sehr schön, liebe Tochter,« bemerkte Professor Giese und legte einen soeben gelesenen Brief auf den Tisch. »Es ist dies jedoch kein Grund, den Jungen das Frühstück vorzuenthalten.«

»Nein, Vater, gewiß nicht,« gab Lena beschämt zu und sah bittend zur Mutter hinüber. »Sei nicht böse, Mutti,« bettelte sie.

»Ich bin verdrießlich, Lena. In den letzten Tagen warst du von einer Vergeßlichkeit, die mich fast zur Verzweiflung brachte. Was soll noch aus dir werden?«

»Nun, nun, Mutter,« begütigte der Professor, der seine Frau nicht ärgerlich und seine Einzige nicht betrübt sehen konnte. »Das Kind wird sich zusammennehmen; es fängt ja eben erst an, sich wirtschaftlich zu betätigen. Lehrwerk ist kein Meisterstück, nicht wahr, Maus?«

»Ach, Väterchen, du goldenes!« Lena sprang auf und umarmte den Vater. »Wie lieb von dir, mich immer zu entschuldigen! Nicht, Mütterchen, du bist mir auch wieder gut?«

»Noch nicht ganz, Lena; denn ich sehe keinen guten Willen zur Besserung.«

»Ach, ich will ja so gern! Wenn du mir doch glaubtest, Mutti!«

»Natürlich glaubt Mutter dir,« fiel der Professor schnell ein, »aber, Flatterlenchen, zeigen mußt du es in Zukunft, daß es dir ernst ist; das kann die Mutter billig verlangen. Nun hört aber, was unser Hans schreibt! Er fragt an, ob er zu den Ferien einen Freund mitbringen dürfe. Was meinst du, Mutter?«

»Seinen geliebten Erwin?« rief Lena lebhaft. »O, auf den bin ich brennend neugierig. Weißt du, Vater, das ist noch eine solche Freundschaft wie zu Schillers Zeiten. Fein! Da können wir vielerlei unternehmen. O, laß ihn kommen, Vater!«

»Still, Schwatzliese; die Mutter hat die Entscheidung, nicht du!«

»Meinetwegen kann der junge Holm kommen,« entgegnete Frau Professor. »Hans bat mich schon zu Weihnachten darum. Der junge Mensch entbehrt das Elternhaus, namentlich seit seine alte Tante tot ist.«

»Der Arme, daß er so allein in der Welt steht,« sagte Lena mitleidig. »Wir müssen sehr nett mit ihm sein, Mutti, als ob er zu uns gehörte, damit er sich bei uns ganz zu Hause fühlt.«

»Rechnest du dazu auch das gelegentliche Fasten, wenn du die Küchenwoche hast, Töchterchen?« fragte der Vater neckend. »Auf solche Weise wird er sich schnell heimisch bei uns fühlen.«

Lena lachte, wurde aber sehr rot. »Selbständig zu kochen brauche ich doch nicht, Mutti, wenn die großen Jungen da sind?« fragte sie.

»Nein, wenn die Notlage es nicht erfordern sollte, so wie neulich,« tröstete Mutter.

Die jungen Männer trafen ein, Hans, Student der Jurisprudenz, und Erwin Holm, Mediziner, beide schlank aufgeschossen, Anfang der Zwanzig stehend. Lena, die dem Fremden voller Spannung entgegengesehen hatte, war bitter enttäuscht, schon durch sein Äußeres. Erwin war durchaus keine Schönheit, wie Lena es doch mit Fug und Recht von einem jungen Manne mit einer Feuerseele erwarten konnte, sondern eher das Gegenteil.

Die vornehme Haarfarbe, von der Hans gesprochen hatte, erwies sich in ihren Augen als rot, dazu das blasse Antlitz mit Sommersprossen bedeckt und die dunklen grauen Augen, die entschieden zu ernst waren. Zum Unsinn machen war der Gast nicht zu gebrauchen. Schon in der ersten Stunde strich sie ihn aus ihrem Ferienprogramm. Was der lebhafte Hans an diesem Freunde fand, war ihr unerklärlich.

Es kam mit der Zeit noch etwas hinzu, ihr des jungen Mannes Besuch zu verleiden, nämlich des Bruders Liebe zu dem Freunde. Für niemand war er mehr zu haben, als für den häßlichen Rotkopf, wie Lena den jungen Mann in ihren Gedanken nannte. Der nahm ihn so völlig in Beschlag, daß für die Familie nichts übrig blieb. Immer waren die beiden zusammen, wanderten durch den Garten oder saßen lesend und eifrig redend nebeneinander und führten so gelehrte Gespräche, daß ein armseliges Backfischlein wie sie schleunigst das Weite suchte. Lena wünschte sehnlich, daß der Gast möglichst bald wieder abreise.

Sie hätte die Freundschaft der beiden sicher entzückend gefunden, wäre nicht ihr großer Bruder dabei im Spiel gewesen. Sonst hatte Hans ihr in den Ferien viel Zeit gewidmet; das war jetzt völlig vorbei. Um die einzige Schwester kümmerte er sich kaum; für die hatte er höchstens gelegentlich ein Scherzwort, eine kleine Neckerei. Lena kochte oft heimlich vor Zorn und Entrüstung; ihre Eifersucht wuchs von Tag zu Tag, und nichts konnte sie mehr reizen, als seine verwunderten, fragenden Blicke, wenn sie, wie oft jetzt, unliebenswürdig wurde. Da konnte sie sich zu ungezogenen Bemerkungen hinreißen lassen, die wieder Hans herausforderten und ihn heftig auffahren ließen. Sie weinte oft heiße Tränen. Anstatt der goldenen Ferienfreude gab es nun Mißstimmung im Hause. Daran war aber nur dieser unausstehliche Rotkopf schuld!

Völlig entsetzt war sie, als sie hörte, daß Erwin Holm sich entschlossen hatte, sein letztes Semester und sein Examen an der Berliner Universität zu machen. Ein kleiner Trost wenigstens, daß er nicht in Charlottenburg wohnen wollte, sondern in Zehlendorf bei seinem Vormunde, einem alten, vermögenden Herrn, der dort einsam und allein mit seinem Dienstpersonal in einer Villa hauste.


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