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Ein guter Gedanke

»Lena, wo bist du?« rief Ilse eines Morgens durch das Haus.

»Hier,« antwortete es von oben, »was soll ich?«

»Herunterkommen! Ich habe etwas für dich; bring Dodo gleich mit.«

»Sind Briefe eingetroffen? Wie fein! Dodo!«

Lena sah sich um, da lief das Eidechslein schon die Treppe hinunter.

»Etsch, Flattergeist, ich bekomme den meinen zuerst,« rief sie neckend zurück.

Hastig polterte Lena ihr nach; als sie aber ins Zimmer kam, tanzte Dodo schon mit ihrem Brief umher. »Von meinem Nück,« jubelte sie.

»Lena, kannst du raten?« fragte Ilse und hielt einen Brief in die Höhe.

»Aus Südwest?« schrie Lena aus und wurde rot vor Freude. »Schnell, gib her, Ilse!«

»Da, sieh nach!«

Lenas Augen glänzten. »Ja, das ist Erwins Handschrift! Aber aus Swakopmund kommt der Brief nicht, er hat ihn gewiß unterwegs geschrieben. Nehmt es nicht übel, ich möchte ihn erst allein lesen; dann erzähle ich euch den Inhalt.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie in ihr Zimmer, setzte sich und betrachtete lange ihren Brief, der aus so weiter Ferne kam und ihr die ersten Grüße des Freundes brachte. Dann las sie:

 

»Im April 1904.

Liebe, junge Freundin!

Seit vierzehn Tagen schwimmen wir nun schon auf hoher See. Der Anfang unserer Reise verlief für uns alle mehr oder weniger unangenehm, denn die Seekrankheit packte uns sämtlich sehr heftig. Wir hatten auch schlechtes Wetter. Der Sturm heulte, die See brüllte, und unsere ›Gertrud‹ schlingerte so stark, daß man in der Koje hin und her taumelte, sobald man sein Lager verließ. Es war ein abscheuliches Gefühl, das geradezu zur Seekrankheit herausforderte. Ich überwand sie ziemlich schnell und war froh, als ich mich mehr an Deck aufhalten konnte. Die unaufhörlich heranrollenden, oft haushohen Wogen gleich wütenden Ungetümen heranrasen zu sehen, war mir immer ein neues Vergnügen.

Es ist ein seltsames Gefühl, mitten auf den wild empörten Fluten in einem verhältnismäßig kleinen Schiff zu schwimmen und doch den stürzenden Wassern ohne Furcht entgegensehen zu können. So stark der Sturm auch war, und so hoch die Wasserberge sich türmten, unserer ›Gertrud‹ konnten sie nichts anhaben. So genoß ich unsere Fahrt, erst den Sturm, dann die heitere Stille, mit wachen Augen und hohem Genuß. Viele meiner Mitreisenden behaupteten zwar, ein Tag vergehe wie der andere, denn um uns sei nichts als Wasser und wieder Wasser. Sie sitzen Tag für Tag beim Kartenspiel und machen die Augen selbst dann nicht auf, wenn es auch für sie etwas zu sehen gibt.

Als wir die Heimat verließen, war der Winter zwar bei uns vorüber, der Frühling jedoch noch nicht angebrochen. Die Nächte auf der See waren recht kalt. Nach achttägiger Fahrt strahlte der Himmel in tiefem Blau, die Sonne wurde leuchtender, die Luft weicher. Jetzt haben wir längst unsere Tropenanzüge aus leichtem, braunem Leinen angezogen und unsere Tropenhüte hervorgeholt. Madeira und die Kanarischen Inseln liegen schon hinter uns.

Es war ein wunderbarer Anblick, als ich eines Morgens zu besonders früher Stunde auf Deck kam und gerade der Pik de Teyde aus dem Wasser aufstieg. Anfangs vom Nebel verborgen, enthüllte sich dann über den Wolken der schneegekrönte breite Gipfel, der Piton (Zuckerhut). Wie ein Gebilde aus der Märchenwelt hob er sich gegen den leuchtend blauen Himmel ab, von den ersten Sonnenstrahlen gestreift, die uns noch nicht erreichten. Eisiges Schweigen umgab ihn, wie er so, scheinbar losgelöst von der Mutter Erde, über den Wolken zu schweben schien. Unterhalb des ewigen Schnees strahlte das Gestein einen rötlichen Schimmer aus, der einen wirkungsvollen Gegensatz zu dem eisgekrönten Haupte schuf. Tiefer hinab umwob ihn ein düsteres Nebelmeer, das nur zeitweise zerriß und einen Blick auf die riesige Felsmasse gestattete, die steil und schroff aus dem Meere aufsteigt.

Ich werde diese frühe Morgenstunde nie vergessen und wünsche, Sie hätten sie mitgenießen können, Lena. Gerade an Sie und Ihren Bruder habe ich damals lebhaft gedacht, auch an unser Gelöbnis. Freude, wie Sie es vermögen, liebe Freundin, kann ich dort drüben freilich niemandem ins Haus bringen; aber meine ganze Kraft meinen leidenden Mitmenschen weihen, das vermag ich. Möchte es mir beschieden sein, recht viel Schmerzen zu lindern und durch treue Pflege und Pflichterfüllung manch wertvolles Leben zu retten! Gott helfe mir dazu.

Durch unseren deutschen Vertreter, der in Las Palmas an Bord kam, hörten wir, daß es sehr ernst in Südwest aussieht. Die Unseren haben einen schweren Stand und ersehnen unser Kommen. Es ist ein wilder, erbarmungsloser Feind, gegen den sie zu kämpfen haben; viel kostbares deutsches Blut ist bereits geflossen. Wären wir nur erst dort! Wir alle sind voller Ungeduld. Die große Karte, die an der Treppe hängt und uns täglich zeigt, welche Strecke wir bereits zurückgelegt haben, ist immer sehr umlagert.

Das Leben an Bord spielt sich ziemlich gleichmäßig ab. Die Mannschaft hat ihre militärischen Übungen, einige der Soldaten werden auch im Dienst an den Signalapparaten ausgebildet. Stimmung und Gesundheit sind vorzüglich. Ich bin in einen sehr angenehmen Kreis hineingekommen; alle, Offiziere wie Kollegen, sind äußerst liebenswürdig gegen mich jungen Dachs, der ich mich doch erst bewähren soll. Wir führen oft sehr anregende und hochinteressante Gespräche, die mir viel Nutzen bringen, und so fördert schon die Reise meine Kenntnisse in jeder Beziehung. Dessen bin ich froh, denn lernen und Neues in sich aufnehmen muß der Mensch, solange er lebt. Ein jeder Stillstand bedeutet einen Rückschritt für unseren inneren Menschen.

Wir halten jetzt südöstlich auf Afrika zu; die Küste kann täglich in Sicht kommen. Für heute Schluß.«

 

»Den 1. Mai; abends.

An Bord herrscht ein buntes Leben. Heute morgen ertönte der Ruf ›Land in Sicht‹ und führte alle schnell an Deck. Jeder wollte so bald wie möglich das Land sehen, das ihn für längere oder kürzere Zeit – vielleicht für immer – aufnehmen sollte. Ich glaube aber, an dies ›für immer‹ dachte niemand; ich sah nur frohe, erwartungsvolle Mienen, hörte nur freudige Ausrufe.

Wir kamen der Küste schnell näher. Ja, das war Afrika, wie es uns vorgeschwebt hatte! Hohe Palmen, eine üppige Vegetation, kleine, malerische Hütten, ein hügeliges Gelände, am Ufer zahllose Menschen, die uns neugierig entgegenschauten, als wir in Monrovia vor Anker gingen. Hier nahmen wir hundert Neger an Bord, die in Südwest zu allerlei Arbeiten gebraucht und von fast allen Schiffen dorthin mitgenommen werden. Häßliche, schmutzige Menschen sind es, mit schwarzem, wolligem Haar, wulstigen Lippen und schleichenden Bewegungen. Jetzt ist die gewohnte Ruhe und Ordnung wieder eingekehrt. Die Schwarzen sind unter Deck gegangen und richten sich dort ein.

Wie mag es Ihnen gehen, junge Freundin? Haben Sie sich bei den Verwandten in Wernigerode gut eingelebt und Ihnen zusagende Gefährtinnen gefunden? Und wie steht es mit Ihrem Vetter Bernhard? Der junge Mann, der ein wahres Martyrium in aller Stille trägt, interessiert mich am meisten. Ich bitte, ihn herzlich zu grüßen.

Doch nun muß ich Ihnen Lebewohl für heute sagen, liebe Freundin. Es bietet sich hier die erste Gelegenheit, meinen Brief in die Heimat zu senden. Das Boot soll unseren Vertreter an Land zurückbringen und unsere Briefschaften mitnehmen. Sobald ich an meinem Bestimmungsort angelangt bin, schicke ich die Fortsetzung meines Berichtes. Die herzlichsten Grüße von Ihrem

Erwin Holm.«

 

Lenas Wangen glühten, als sie die Blätter sinken ließ. Sie saß regungslos und überdachte alles, was der Freund ihr geschrieben hatte; dann ging sie hinunter zu den anderen.

Für sämtliche Mädchen war ihr Brief ein Ereignis.

»Ach,« rief Dodo, »ich wollte, ich hätte auch einen Freund in Afrika und bekäme auch so interessante Briefe.«

»Sei froh, daß das nicht der Fall ist,« entgegnete Lena ernst. »Ich muß immerfort an die wilden, unbarmherzigen Feinde denken, von denen Erwin Holm schreibt.«

»Aber der kommt doch ins Lazarett und hat persönlich gar nichts mit den Herero zu tun,« tröstete Ilse sie, auch Bernd und die Tante bestätigten es.

Lena glaubte es nur zu gern, so gewann die Freude über ihren Brief bald die Oberhand. Sie wurde indessen schnell wieder gedämpft, als die Tante ihr sagte, daß sie einen Brief von ihrer Mutter erhalten habe, mit der unwillkommenen Nachricht, daß des Vaters Halsleiden sich wieder bemerkbar mache.

Lena nahm erschrocken die für sie bestimmte Einlage in Empfang. »Der Vater leidet jeden Frühling daran,« sagte sie. »Es kommt vom vielen Sprechen. Nach den großen Ferien ist er immer wieder frisch. Wenn die Eltern nur schon hier wären!«

»Liebes Herz, deine Mutter schreibt es dir gewiß auch, sei nicht zu enttäuscht,« versetzte Tante Marie. »Euer Arzt wünscht für deinen Vater dringend einen Aufenthalt auf Amrum.«

»Amrum?« Lena machte ein sehr bestürztes Gesicht. »Das klingt ja recht ausländisch. Wo liegt denn das?«

Ilse lachte. »Geographische Kenntnisse schwach! Besinne dich doch, Flattergeist. Es ist eine der nordfriesischen Inseln im Westen von Schleswig in der Nordsee, südöstlich von Föhr. Bist du nun einigermaßen unterrichtet?«

Da schrie Dodo erschrocken auf. »Sie fängt an zu weinen! Lena – liebe –«

Aber Lena stieß sie etwas rücksichtslos zurück und eilte, ihre Briefe in der Hand, hinaus.

»Laßt Lena in Ruhe, Kinder! Allmählich wird sie sich zufrieden geben. Die Enttäuschung ist natürlich groß, nach der Freude auf das baldige Wiedersehen. Geht an eure Arbeit und überlaßt Lena eine Weile sich selbst, das wird sie am schnellsten zu sich bringen.«

Diese Vermutung erwies sich als richtig. Als Lena wieder erschien, hatte sie zwar rote Augen, aber sie verrichtete ruhig ihre Arbeit.

»Ein Glück,« seufzte Dodo erleichtert. »Ich glaubte schon, du würdest toben, Lena. Du kannst unangenehm heftig werden, und dann bekomme ich immer eine regelrechte Augst.«

»Ach, was nützt hier alles Toben? Mir tut nur der Vater leid. Die Mutter schreibt, er habe abends oft so heftige Schmerzen, daß er nur flüstern könne. So schlimm ist sein Hals noch gar nicht gewesen. Er soll bis in den Herbst hinein auf Amrum bleiben, um sich mal ordentlich auszuheilen. Kämen nur wenigstens die Jungen her! Aber die Eltern wollen sie mitnehmen. Die Mutter würde sich zu sehr beunruhigen, wenn sie die wilde Gesellschaft nicht um sich hätte; Werner ist überdies so schnell gewachsen, daß auch ihm das Baden gut tun soll. Was mit Hans wird, weiß die Mutter noch nicht, natürlich kommt der aber auch nicht hierher. Es ist zu dumm!«

»Mach kein so trauriges Gesicht, Lena,« bat Dodo und streichelte sie. »Der Tag fing wunderhübsch an, obgleich der garstige Regen nur so herunterklatscht. Denke doch an den Brief von deinem Freunde, und heute nachmittag gibt Trude uns einen Kaffee! Ob sie wohl genug Kuchen hat? Ich bekomme immer riesigen Appetit, wenn es Kuchen gibt; du auch?«

Aber Lena sah hinweg über die Freundin in den grauen Himmel hinauf. »Es ist alles so schwer, Dodo,« entgegnete sie langsam. »Der Vater krank und Erwin in Feindesland! Ich kann nicht wieder recht von Herzen froh und vergnügt sein.«

Dodo war gleich außer sich und holte die anderen zu Hilfe.

»Was,« rief Ilses frische Stimme, »verzagen will sie so schnell? Lena, besinne dich! Eine so schwache Seele bist du ja gar nicht! Es liegt auch kein vernünftiger Grund vor. Deines Vaters Leiden ist erfreulicherweise heilbar, und deinem Freunde geht es vorzüglich. Darum sei so gut und setze ein anderes Gesicht auf, Herzenslena!« Sie legte der Cousine beide Hände auf die Schultern, und als Lena in das schöne Antlitz, in die glänzenden Augen blickte, aus denen ihr so viel herzliche Zuneigung entgegenstrahlte, lächelte sie auch.

»Ich wußte es ja,« rief Ilse erfreut. »Du bist kein Angsthase, der sich beim ersten Schuß in die Büsche verkriecht. Du wirst schon mit Sorge und Enttäuschung fertig. Mit Gott voran, Lena!«

»Ja, Ilse, ich will unseren Wahlspruch nicht wieder vergessen. Mir ist schon wieder anders zumute.«

»Und du wirst heute nachmittag bei Trude ein bißchen vergnügt sein? Sie freut sich riesig, uns mal bei sich zu haben; von ihr wie von ihrer Mutter ist es beinahe ein Opfer, uns zu bewirten.«

»Ja – ja – selbstverständlich will ich vergnügt sein, ich habe Trude sehr gern und ihre Mutter finde ich reizend.«

Lena hielt Wort. Sie war nicht nur heiter, sondern las der neuen Freundin und deren Mutter auch aus ihrem Briefe vor. Dadurch wurde die Unterhaltung sehr angeregt.

»Hast du eigentlich gute Nachrichten von Hause, Dodo?« fragte Anna. »Du bekamst doch auch einen Brief heute morgen.«

»Ach, wer fragt nach mir,« schmollte Dodo. »Lena hat ja mit ihrem Afrikaner so den Vogel abgeschossen, daß ich mich, wie ich nun mal bin, bescheiden in den Hintergrund zurückgezogen habe. Wer will etwas von meinem Nückbrief wissen? Ich habe es schon gar nicht mehr aushalten können, bis eine von euch fragte.«

»Ich – ich – wir alle!« riefen die Mädchen »Was schreibt dein Nück?«

»In vier Wochen kommt sie; Papa und Mama bringen sie, und dann soll unser Arbeiterheim eingeweiht werden. Ich freue mich unbeschreiblich. Wir alle sollen mit hinauf nach Braunlage, Mama will einige Wochen mit Ruth oben bleiben, und ich soll auch auf einige Zeit hinkommen. Das Schönste aber ist: ich darf eine von euch mitbringen. Wer soll es sein?«

»Am besten ist es, ihr lost,« schlug Gertrud vor.

»Nein, das dürfen wir dem Eidechslein nicht antun; seht nur das enttäuschte Gesicht,« entgegnete Ilse lachend. »Dodo hat ja eine so ausgesprochene Vorliebe für Lena gefaßt, daß die Frage ohne weiteres als entschieden gelten kann.«

»Ja, Dodo, wie kommt das eigentlich?« forschte Lena neugierig.

»Nun, mit dir kann man doch mal Unsinn treiben, wie es einem richtigen Backfisch zukommt. Die Maus ist für so etwas nicht zu haben und die Große« – sie sah zärtlich zu Ilse hin – »ich finde dich ja entzückend, Ilse, aber mal so ordentlich albernen Unsinn treiben, das versteht bloß Lena, Kläre und Lisi natürlich abgerechnet.«

»Ich gratuliere dir, Lena,« rief Ilse belustigt.

Lena wurde rot. »Das ist wohl ein sehr zweifelhaftes Lob?« fragte sie Frau Welzin, neben der sie saß.

»Lassen Sie es sich nur gefallen, Fräulein Lena,« entgegnete diese freundlich. »Lustig sein, auch mal einen kleinen harmlosen Scherz ausüben, ist ja das goldene Vorrecht der Jugend. Wie ist es übrigens, Fräulein Dodo, hat Ihr Herr Vater schon eine passende Persönlichkeit für sein Arbeiterheim gefunden? Gertrud hat mir davon erzählt.«

»Nein, noch immer nicht. Es laufen ja täglich Angebote ein, aber die Richtige herauszufinden ist sehr schwer. Ruth schreibt, Papa wolle fast nichts mehr davon hören, er sei schon recht verdrießlich und überlasse es völlig Mama, die Briefe zu lesen und die Wahl zu treffen. Wissen Sie vielleicht jemand, Frau Welzin?«

»Nein, Fräulein Dodo, es ist auch gar nicht leicht, eine geeignete Kraft zu finden. Die Hauptsache wäre meiner Meinung nach, daß sie ein warmes Herz für jeden einzelnen Arbeiter hätte.«

»Ja – ja, so eine Persönlichkeit sucht Papa gerade. Und jetzt fällt mir das richtige ein, Frau Welzin –« Dodo fuhr auf ihrem Stuhl herum – »Sie müssen nach Braunlage! Sie würden mit unseren Leuten gut sein und die sicher Respekt vor Ihnen haben.«

Lautloses Schweigen der größten Überraschung folgte diesen Worten.

»Bravo, Neck,« rief dann Ilse, »das ist der vernünftigste Einfall, den du je gehabt hast! Ja, Mama Welzin, sie hat recht. Sie würden sich zur Heimmutter eignen wie keine zweite.«

Auch die anderen Mädchen waren begeistert, nur Gertrud wehrte lachend ab. »Was denkt ihr denn! Meine Mutter kann doch nicht ganz von hier fortziehen. Was sollte dann aus mir werden?«

»Du kommst zu uns,« erklärte Anna rasch entschlossen.

Die Mädchen schwiegen. Erwartungsvoll sahen alle die Hausfrau an, deren sonst blasses Antlitz sich mit einer leichten Röte bedeckt hatte. Selbst die beiden Jüngsten fühlten, daß Frau Welzin vor einer Entscheidung stand.

Lange hielt indessen Dodo das nicht aus. Sie stand auf.

»Sagen Sie ja, Mama Welzin,« bat sie in ihrer lebhaften Weise. »Sie werden es gewiß nicht bereuen. Trude kommt nach Villa Trautheim und Sie – oh, Sie können im Heim großartig viel Segen stiften. Wäre nur mein Papa hier! Der könnte Ihnen das viel besser sagen; da täten Sie es gewiß, ohne sich lange zu besinnen.«

»Nein, liebes Kind, etwas Zeit müßte mir auch Ihr Herr Vater lassen, eine so schwerwiegende Entscheidung kann man nicht so schnell treffen, wie Sie meinen.«

»Aber Sie tun es vielleicht, liebe Mama Welzin?«

»Ich kann noch gar nichts sagen, Sie gutes Kind! Es kommt mir zu überraschend. So schnell könnte ich hier gar nicht fort und dann müßte ich vor allen Dingen erst wissen, Fräulein Anna, ob Ihre Mutter meine Gertrud wirklich nehmen würde.«

Ein wahres Hallo erhob sich, eine jede glaubte dafür einstehen zu können. Gertrud war am stillsten, sie konnte sich in einen so schnellen Wechsel noch nicht hineinfinden. Ihre Augen glänzten aber freudig auf, als Ilse leise sagte: »Dann könntest du ohne Sorge deinen Herzenswunsch zur Ausführung bringen.«

»Bloß eines wäre zu bedenken,« begann Dodo von neuem, aber kleinlaut. »Sagen Sie, Mama Welzin, sind Sie ängstlich?«

Bild: Richard Gutschmidt

»Und jetzt fällt mir das richtige ein, Frau Welzin: Sie müssen nach Braunlage!«

»Nein,« lautete die erstaunte Antwort. »Was hat das mit meinem Entschluß zu tun?«

»Ach, das Haus liegt ja fast mitten im Tannenwalde. Ich hätte keinen ruhigen Augenblick, wenn ich dort wohnen müßte, und wenn Sie furchtsam wären, könnte ich Ihnen nicht zureden.«

»Liegt das Heim denn völlig einsam?«

»O nein; es sind dort überall Häuser, aber ein paar Minuten liegen sie wohl alle auseinander.«

»Nun, dann wäre das kein Grund für mich, abzulehnen, Fräulein Dodo; denn furchtsam sind wir beide nicht, weder meine Trude noch ich.«

Dodo mußte sich nun mit ihrer Besorgnis weidlich necken lassen, aber sie lachte mit, Empfindlichkeit kannte sie nicht. In Eile ging es später im strömenden Regen nach Hause, Mutter und Bernd konnten nicht schnell genug Dodos großartigen Einfall erfahren.

»Nicht wahr, Mutter, du nimmst Trude gern?« fragte Ilse.

»Viel würde Frau Welzin wohl nicht zahlen können,« gab Anna zu bedenken. »Aber was meinst du, Mutter, vielleicht ginge es doch?«

»Ach, das unselige Geld,« rief Ilse in ihrer ungestümen Art.

»Ja, was denkt ihr denn eigentlich von meinem guten Papa,« rief Dodo eifrig. »Der wird doch Trudes Mutter so stellen, daß sie sich keine Sorgen um Trudes Erziehung zu machen braucht. Kinder, ich freue mich unbändig und ich schreibe gleich an ihn.«

»Liebe Dodo, willst du nicht Frau Welzin erst zu einem Entschluß kommen lassen?«

»Und inzwischen verpflichtet Papa jemand anders? Nein, Tante, ich schreibe sofort und morgen mittag ist Papa hier.«

Am nächsten Tage ging Frau Winterfeld von der Kirche zu Frau Welzin und kam mit der Nachricht heim, daß diese nach reiflichem Überlegen nicht abgeneigt sei, die Stellung anzunehmen. Dodo tanzte vor Entzücken im Zimmer umher und lief dann, nach dem Vater auszuspähen. Am liebsten wäre sie zum Bahnhof gegangen, auf ihre bloße Vermutung hin erhielt sie jedoch nicht die Erlaubnis dazu, da das Wetter noch immer schlecht war. So viel sie aber auch ausspähte, es erschien kein Wagen, der den Vater brachte. Schließlich fing sie gar an zu weinen.

»Sei nicht so verzogen,« schalt da Ilse. »Du beträgst dich wie ein kleines Kind, dem ein Wunsch abgeschlagen wird.«

»Das sagst du wohl! Du bist auch nicht in der Fremde wie ich und – und – wenn ich mich doch so gefreut habe – auf meinen Papa!« Vor Schluchzen konnte sie kaum sprechen.

Ilse hockte vor ihr nieder. »Heimwehkrank, Neck? Komm, laß dir die Äuglein trocknen, armes Wurm, du! Ja, ich habe gut reden; ich sitze bei Mutter und Geschwistern im warmen Nest, das dir leider noch kein Nest geworden ist.«

»Doch – doch! Ach, Ilse!« Stürmisch warf sich Dodo ihr in die Arme. Ilse, darauf nicht vorbereitet, verlor das Gleichgewicht und beide fielen auf den Teppich. Dodos silberhelles Lachen klang bis ins Nebenzimmer und lockte Lena herbei.

»Was treibt ihr da?« fragte sie verwundert.

»Faxen,« erwiderte Ilse und trat zu Bernd, der die kleine Szene lächelnd beobachtet hatte.

»Ich wollte, Mutter brauchte keine jungen Mädchen ins Haus zu nehmen,« sagte sie, während Lena und Dodo zu Anna, Klärchen und Lisi gingen.

»Du hattest aber wirkliches Mitleid mit dem Eidechslein, Ilse,« versetzte Bernd.

»Ja, aber sie ist doch recht oberflächlich, ein Kind des Augenblicks! Es ist keine Tiefe in ihr, sie lacht mit einem Auge und weint mit dem anderen.«

»Du urteilst zu schroff, Schwesterlieb: denke an Lisi! Ich glaube, es ist Dodo wirklich eine Herzenssache, Frau Welzin die gute Anstellung zu verschaffen. Doch nun rufe sie alle herein, ich will gern mitspielen.«

»Wirklich, Bernd?«

»Gewiß! Es macht mir Freude.«

Sie schüttelte den Kopf. »Berni, ich glaube, du willst dich nur opfern.«

»Nicht doch! Ich sehe gern frohe Gesichter um mich, das ist mir wirklich ein Vergnügen, Ilse.«

Am anderen Nachmittag waren die Unterrichtsstunden gerade beendet, als Klärchen und Lisi im Sturmschritt aus der Schule kamen.

»Dodo, dein Vater ist da! Wir sahen ihn eben um die Ecke biegen,« berichtete sie atemlos.

Dodo schrie laut auf. »Wo – wo?« rief sie, eilte aus dem Hause, durch den Garten und rannte die bergige Straße hinab, gerade dem Vater in die Arme.

»Hallo, Töchterlein, wohin?«

»Zu dir! O Papa, wie freue ich mich! Willst du zu Frau Welzin?«

»Ich komme soeben von ihr. Es ist alles klipp und klar.«

»Papa, hat sie zugesagt?«

»Ja, das war wirklich ein gescheiter Einfall, kleiner Neck! Gerade so eine Frau kann ich brauchen. Nun habe ich noch ein Stündchen Zeit für dich.«

Arm in Arm schritten sie dem Hause zu.


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