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Der Winter gebärdete sich strenge in diesem Jahr. Es war jetzt Mitte Februar. Seit Weihnachten gab es mit kurzen Unterbrechungen Frost oder es hatte geschneit. Der Jugend war das sehr recht; zum echten Winter gehören Schnee und Eis. Herrschte draußen aber Kälte und stürmisches Wetter, dann war es in Villa Trautheim um so behaglicher. Das empfanden alle Trautheimer immer von neuem. In dem engen Beisammensein des Winters hatten sich alle Glieder des kleinen Kreises fest aneinander angeschlossen; alle dachten schon mit Wehmut an Ostern, wo dem Trautheimer Bund das Auseinandergehen drohte.
Gertrud wollte nach Wolfenbüttel in das Schloßseminar, da die Preise dort verhältnismäßig billig waren. Frau Welzin hatte die Tochter bereits angemeldet, und Gertrud freute sich, wenngleich ihr die Trennung schwer fiel, auf ihren ersten Flug in die Welt, der ihr die Grundlage zu ihrem späteren Beruf bedeutete. Frau Winterfeld hatte noch keine jungen Mädchen wieder in Aussicht; sie besaß aber ein so starkes Gottvertrauen, daß sie nicht zum wirklichen Sorgen kam. »Mit Gott voran«, dieser Wahlspruch war den Trautheimern so in Fleisch und Blut übergegangen, daß er ihnen in allen Lagen stets frischen Mut und neue Zuversicht gab.
Eine Quelle großer Freude blieben Ilses Berichte. Immer schrieb sie gleich befriedigt und beglückt. Sie wechselte lange Briefe mit dem Bruder, aus denen er immer neue Anregung schöpfte. Sie zeichnete jetzt nach der Natur und modellierte, wovon sie voller Begeisterung erzählte.
»Ilse ist die klügste von uns,« bemerkte Lisi eines Tages, als Bernd den Mädchen in der Handarbeitstunde aus einem langen Brief vorlas.
»Merkst du das jetzt erst, Dickchen?« fragte Gertrud lächelnd. »Daß Ilse die bedeutendste von uns ist, wissen wir längst. Sie ist wirklich eine Große!«
Gegen Abend rief Frau Winterfeld Lisi zu sich.
»Möchtest du noch länger bei uns bleiben, Kind?«
»Ja, gern, aber warum fragst du, Tante? Es geht Mutti doch nicht schlechter?«
»Nein, Herz, Ursache zur Sorge ist nicht da. Dein Vater hat nämlich einen Brief von dem Arzt erhalten, der deine liebe Mutter in Gries behandelt. Dein Vater soll sie im Frühling heimholen. Ja, Lisi, das ist sehr erfreulich. Der Arzt fügt jedoch hinzu, daß Mutti auf keinen Fall sofort in die große Wirtschaft dürfe; sie müsse in ein möglichst ruhiges Haus. Dein lieber Vater war nun heute mittag hier und sagte mir, daß er Mutti zu ihren Eltern bringen wolle. Dort auf dem Lande in der guten Luft der Thüringer Berge wird sie sich erholen. Zu den Sommerferien sollst du dann die Großeltern und Mutti besuchen.«
»Ei, das ist fein! Dann fährt Kläre mit. Ja, Tante?«
»Nein, Lisi, das könnte zuviel für deine Mutter werden; es ist auch hübscher, ihr seid mal wieder allein beieinander. Den nächsten Winter muß Mutti nochmals nach Gries; dann hoffen die Ärzte, daß sie wieder ganz gesund wird. So lange nun sollst du noch mein liebes Töchterchen sein.«
Lisi schlang beide Arme um ihre gütige Pflegmutter. »Das will ich gern, Tante Marie, und nicht wahr, ich bin nicht mehr so unordentlich wie früher? Mutti soll doch Freude an mir erleben, wenn ich im Sommer bei ihr bin.«
Frau Winterfeld lachte belustigt. »So unordentlich wie anfangs, nein, Lisi, das bist du nicht mehr; aber sieh einmal deine Schürze an, Töchterlein, ob die ganz einwandfrei ist?«
Lisi schaute an sich hinunter und schüttelte den Kopf. »Ich habe sie vorhin rein vorgebunden, Tante; sie ist bloß ein bißchen geknittert. Ach so« – sie errötete verlegen – »ja, der Knopf ist abgerissen, und ich hatte keine Zeit, ihn schnell anzunähen, weil es gerade zu Tisch klingelte. Da habe ich die Schürze mit einer Nadel festgesteckt. Ich nähe ihn gleich wieder an, Tante.«
»Aber dergleichen darf nicht vorkommen, wenn deine Mutter sich wirklich über dich freuen soll.«
»Ich will gewiß brav und ordentlich werden, du sollst mal sehen! Wenn ich dann aus der Schule bin, möchte ich bei dir wirtschaften lernen, Tante Marie; nachher werde ich Muttis Stütze und ihre rechte Hand.«
»Recht so, Lisi! Deine Mutter wird sich gewiß über deinen Vorsatz freuen; sie kann später eine umsichtige Hilfe gut gebrauchen. Aber dann mußt du noch viel gewissenhafter werden, mein Töchterchen.«
»Das bringst du mir schon bei, Tante,« erklärte Lisi zuversichtlich. »Vati sagte auch, in besseren Händen könnte ich nirgends sein.«
»Das freut mich, mein Herz. Um mir aber wirklich Ehre zu machen, mußt du vor allen Dingen auf Ordnung halten.«
Das gelobte Lisi feierlich und ging dann, Kläre zu verkünden, daß sie noch über ein Jahr in Villa Trautheim bleiben werde. Darüber freute sich nicht allein Kläre, denn alle hatten die stets gleichmäßig heitere, gutherzige Lisi sehr gern.
Eines Sonntagnachmittags saßen alle im Eßzimmer. Man hatte sich die Zeit mit Gesellschaftsspielen vertrieben. Nun kam die Dämmerung auf leisen Sohlen ins Zimmer. Die jungen Mädchen rückten enger aneinander, um zu plaudern. Ruth aber schlüpfte ins Wohnzimmer, öffnete das Klavier und begann ein Notturno von Chopin.
Da wurde es still nebenan. Alle lauschten Ruths musikalischen Darbietungen gern, besonders Bernd, für den sie stets eine wahre Erquickung bedeuteten. Ruth wußte das, und hauptsächlich um ihm eine Freude zu machen, spielte sie. Das junge Mädchen war gut beanlagt und hatte ein feines Verständnis für Musik.
Bernd lehnte den Kopf gegen die Stuhllehne; aus seinen Zügen sprach ein so stilles Glück, daß seine Mutter ihn voll heimlicher Freude betrachtete. Wie hatte sich doch alles über Erwarten günstig gestaltet! Statt daß das frische Leben, das die jungen Mädchen ins Haus brachten, nachteilig auf des Sohnes Gesundheit einwirkte, wie sie gefürchtet hatte, tat es ihm augenscheinlich wohl. Wie schwer es ihm oft geworden war, sich dem frohen Kreise anzupassen, hatte er in seiner Selbstlosigkeit sogar der Mutter zu verbergen gewußt. Seit er sich aber kräftiger fühlte, war ihm das Zusammensein mit den jungen Mädchen eine Freude und Anregung. Er wiederum wirkte durch seine Reife und große Güte günstig auf sie alle ein. Sie verehrten sämtlich den durch seine Krankheit schwer geprüften jungen Mann; kein Entschluß wurde zur Ausführung gebracht, ohne daß er ihn gut hieß. Unbewußt strebten die Mädchen ihm, dem Präses ihres Bundes, nach; alle wollten gute und tüchtige Menschen werden. Bernd selbst, viel zu bescheiden, ahnte nichts von dem Einfluß, den das geduldige Ertragen seines Siechtums auf die Mädchen ausübte.
Seit Ilse fort war, widmete Ruth ihm öfter ein Stündchen. Ihr feiner Kunstsinn überraschte ihn immer aufs neue; obgleich sie selbst gar kein Maltalent besaß, besprach er doch oft neue Ideen zu seinen Karten mit ihr. Klärchen konnte ihm darin noch nicht helfen; sie war zu jung und überdies jetzt in der höheren Klasse so mit Arbeiten überbürdet, daß die Mutter das Zeichnen zu Hause nicht mehr duldete.
»Ruth,« bat Dodo, als die letzten Töne des Notturno leise verhallt waren, »spiele noch ein paar Volkslieder, daß wir singen können.«
Alle stimmten eifrig bei, und nun erklang eines der alten bekannten Lieder nach dem anderen. Nur Lena vergaß das Singen. Sie sah träumerisch in die wirbelnden Flocken und dachte des kranken Freundes in Südwest. Außer einer kurzen Nachricht von Schwester Suse, daß es ihm verhältnismäßig gut gehe, die Schwäche aber noch immer nicht weichen wolle, hatte sie nichts wieder gehört. Ob er nicht doch schon hätte schreiben können, wenn auch nur ein paar kurze Zeilen?
Sie war so in ihre Gedanken vertieft, daß sie völlig die schlanke Gestalt übersah, die durch den Garten schritt und mit fröhlichen Augen zu ihr hinaufsah. Durch das Singen überhörten auch alle Sophies freudigen Ausruf und Uboffs Jubelgeheul, das jedoch kurz abbrach.
Leise wurde die Tür geöffnet. In den dämmrigen Raum hinein trat ein junger Mann, und seine frische Stimme sagte: »Habe die Ehre, meine Damen, mich gehorsamst als soeben ernannter Referendar zu melden.«
Einen Augenblick gab es überraschtes Schweigen, dann folgte frohes Aufjubeln.
»Hans, du bist da?« rief Klärchen und stand auf, ehe sich Lena völlig aus Südwest zurückgefunden hatte.
Da kam auch Sophie, die brennende Lampe in der Hand, strahlend vor Entzücken, denn dem Hans war jedermann gut, wohin er auch kam. Nun wurde er umringt, beglückwünscht und mit Fragen überschüttet.
»Wissen es die Eltern schon?« fragte Lena.
»Freilich! Die haben sofort ein Telegramm erhalten, hier aber wollte ich als persönliche Überraschung wirken.«
Er sah über Lena hinweg. Zwischen der roten Portiere des Wohnzimmers stand Ruth, einen warmen Schein in den dunklen Augen. Fast ungestüm schob Hans seine Schwester beiseite, um Ruth zu begrüßen, die langsam nähertrat.
Gleich darauf saßen alle beisammen im frohen Kreise, und der Abend gestaltete sich immer heiterer. Einen stillen Augenblick fand Hans aber doch, um Lena zu erzählen, daß er einen Brief von Schwester Suse erhalten habe; er sei von Erwin wenigstens teilweise diktiert.
»An mich hat er sie allein schreiben lassen,« entfuhr es Lena gekränkt.
Ein Lächeln huschte Hans um die Lippen. »Er wird dir bald selbst schreiben wollen,« sagte er begütigend. »Die Hauptsache ist, daß es ihm besser geht; darüber sollen wir uns freuen. Leider will er, sobald er sich wieder frisch genug fühlt, mit gegen die Hottentotten.«
»Das habe ich ja gewußt,« rief sie erschrocken. »Ach, Hans, wann wird dieser schreckliche Krieg ein Ende nehmen und wir von allen Sorgen frei sein!«
»Jedenfalls währt er schon länger, als man anfangs dachte. Haben unsere Truppen aber die Herero besiegt, werden sie wohl auch mit den Hottentotten noch fertig. Was übrigens Erwin anbetrifft, so können wir stolz sein, daß er unser Freund ist.«
Lena antwortete nicht. Sie wäre lieber etwas weniger stolz gewesen und hätte ihn in Sicherheit in Otjosondu gewußt, als auf einem nochmaligen Zug immer tiefer in das feindliche Land hinein. Sie wußte ja, daß er, sollten es die Verhältnisse fordern, mit der Waffe in der Hand in den Kampf ziehen würde, statt sich auf das Verbinden von Wunden zu beschränken. Sie hätte es sich auch nicht anders denken mögen; aber dennoch – wie froh wollte sie sein, wenn er nach der schweren Krankheit heimkam, sich zu kräftigen!
Am nächsten Tage war der Himmel klar. Es hatte gefroren; die Sonne schien.
»Tante,« sagte Hans am Kaffeetisch, »darf ich für die jungen Damen um einen freien Tag bitten? Dann bleibe ich noch hier – selbstverständlich mit deiner gütigen Erlaubnis – und wir machen einen hübschen Ausflug. Ich möchte die Damen zu einer Schlittenfahrt einladen.«
»Aber mein liebster Junge,« rief Frau Winterfeld.
»Verzeihung, Tante Marie, aber aus deinem Entsetzen lese ich deutlich die Vermutung, daß es in meinem Oberstübchen nicht ganz richtig ist. Meist trifft es ja zu, daß ein leerer Beutel unbedingt zu einem Bruder Studio gehört; heute bin ich jedoch in der angenehmen Lage, den Referendar würdig feiern zu können. Also laß mir die Freude! Ich schlage vor, wir essen etwas früher zu Mittag; ich bestelle inzwischen zwei Schlitten und um zwei Uhr fahren wir nach Drübeck. Dort besehen wir das Kloster, trinken im Krug Kaffee und kehren dann zurück. Einverstanden, meine Damen?«
»Hans, du bist der klügste und netteste Referendar auf der ganzen Welt,« rief Klärchen begeistert. »Aber daß heute Sonnabend ist und Trude und wir beide auch mitkönnen, das ist das allerschönste! Nicht wahr, Hans, du nimmst uns doch auch mit?«
»Versteht sich! Du gibst deine Erlaubnis, Tante Marie?«
»Ich muß wohl, wenn ich nicht eine allgemeine Enttäuschung hervorrufen will. Aber mein lieber Hans, ein wenig leichtsinnig beginnst du deine Laufbahn als Referendar.«
Er lachte, daß seine weißen Zähne unter dem braunen Bart hervorblitzten. »Wer von den jungen Damen ist der gleichen Ansicht?« fragte er, aber keine einzige meldete sich.
»Entzückend finden wir alle diese Ihre erste Tat, Herr Referendar,« versicherte Dodo lebhaft. »Zu nett ist es, daß Sie gleich hierhergekommen sind und wir Ihr Examen mitfeiern dürfen.«
»Nun aber schnell, Kinder,« mahnte Frau Winterfeld, sich erhebend. »Wenn wir eine Stunde früher essen wollen, müssen wir uns tummeln. Was es für eine Hausfrau heißt, am Samstag um zwei Uhr unverhofft an einer Schlittenfahrt teilzunehmen, davon hast du, mein guter Junge, keine Ahnung.«
»Ich traue deinem und der jungen Damen Geschick zu, daß dennoch alle Arbeit bewältigt wird, Tante. Sollte es übrigens erwünscht sein, will ich mich gerne am häuslichen Werke beteiligen.«
»Danke, Hans; ich fürchte, du würdest nur grenzenlose Verwirrung und Verzögerung durch deine Hilfe hervorrufen,« erwiderte die Tante heiter.
»Gut, dann bleibe ich bei Bernd,« entgegnete er und setzte sich zum Vetter.
»Glücklicherweise haben wir beide die Küchenwoche; da geht alles geschwind und es wird nichts vergessen,« sagte Anna leise und ein wenig selbstgefällig zu Ruth.
Punkt zwei Uhr fuhren unter fröhlichem Schellengeläute die beiden Schlitten ab, im ersten Anna, Gertrud und die beiden Jüngsten, im zweiten Frau Winterfeld, Lena, Ruth und Dodo, Hans auf dem Bock.
Das Wetter war herrlich. Auf den Bäumen flimmerte der Schnee im Sonnenlicht. Im Walde herrschte tiefes Schweigen. Die Bächlein lagen gefesselt unter Eis und Schnee; alles Leben schien erstorben. Aber die Sonnenstrahlen, die über die Schneedecke huschten, zauberten warme Lichter über den stillen, träumenden Wald und weckten mit ihrem goldenen Glanz die Hoffnung auf den kommenden Frühling.
In Drübeck angekommen, wurde im Krug Kaffee bestellt. Dann gingen alle in die alte Klosterkirche, die im sächsischen Basilikenstil erbaut ist und eine Krypta aufweist. Der Klostergärtner, der sie herumführte, brachte sie auch in den verschneiten Garten zu einer uralten Linde und zu einer Taxuslaube, die besonders dazu angetan schien, längst vergangene Zeiten vor der Phantasie der Jugend erstehen zu lassen.
»Wie interessant sind doch so alte Bauten,« sagte Ruth, als sie neben Hans dem Kruge wieder zuschritten. »Wie eine andere, längst versunkene Welt mutet uns dies alles an. Ich kann mir gut vorstellen, wie die dunklen Gestalten der Schwestern lautlos durch den stillen Garten huschten, um in der versteckten Taxuslaube einen Augenblick mit sich selbst und ihren Gedanken allein zu sein. Wie schön, daß wir gerade hierhergefahren sind! Ich kannte Drübeck noch nicht.«
»Es ist mir eine besondere Freude, wenn es Ihnen gefallen hat, Fräulein Frankental.«
»Sehr! Ich habe übrigens zu Weihnachten mit meinen Eltern über Ihren Vorschlag wegen der Krankenpflege gesprochen. Vorläufig wünscht Mama es nicht; sie hat auch schon eine Arbeit für mich in Aussicht. Ich soll mich für das neue Fürsorgeheim verpflichten. Mama gehört nämlich zu den Vorstandsdamen. Es werden dort schwache und kränkliche Kinder gegen geringe Bezahlung oder, falls die Verhältnisse sehr schlecht sind, auch unentgeltlich aufgenommen und gepflegt, bis sie wieder gesund und kräftig sind. Seit kurzem sind dort Kurse für junge Mädchen eingerichtet, die Kinderpflege zu erlernen. Man geht morgens hin und kommt abends wieder nach Hause. Mama wünscht, daß ich ein halbes Jahr lang am Vormittag hingehe; den ganzen Tag möchte sie mich nicht entbehren. Ich freue mich auf diese Zeit, denn ich habe Kinder sehr gern. Später soll ich Gesangstunden nehmen. Dann müssen Dodo und ich uns auch viel den Großeltern widmen. Großmama ist nämlich auf einem Auge blind und sieht mit dem anderen sehr schlecht; darum liebt sie es, wenn wir ihr vorlesen und sie unterhalten.«
»Kann die alte Dame denn nicht operiert werden?«
»Ja, sie war nur bisher stets recht schwach, so daß der Arzt es immer wieder aufschob. Sobald sie sich einmal wohler fühlt, soll die Operation sofort erfolgen.«
»Da wird Ihr Leben ja vollständig ausgefüllt sein, Fräulein Frankental.«
»Ja, und ich bin sehr glücklich darüber. Außerdem haben wir auch noch unsere zahlreichen Arbeiter, um deren Familien Mama sich sehr kümmert, besonders in Todes- und Krankheitsfällen. Wir freuen uns schon beide darauf, ihr darin beizustehen.«
»Und im Winter kommen die Gesellschaften, Theater, Konzerte und Bälle,« bemerkte Hans. »Da werden Ihre Gedanken so in Anspruch genommen sein, daß Sie die Trautheimer, und was mit ihnen in Verbindung steht, bald vergessen dürften.«
Ruth lächelte. »O nein, niemals! Das glauben Sie auch selbst nicht, Herr Referendar.«
Hans kam zu keiner Antwort; sie waren beim Kruge angelangt, wo der Kaffee ihrer harrte.
Auf der Rückfahrt wußte Hans eine Menge zu erzählen. So oft er sich den Damen zuwandte, sah er gerade in Ruths reizendes Antlitz, und das Interesse, das er in ihren dunklen Augen las, spornte ihn zu immer neuen Berichten aus seiner Sommerreise an. Die Laternen brannten bereits in den Straßen, als sie Wernigerode erreichten; am westlichen Himmel stand die halbe Mondscheibe, und der Abendstern flimmerte in hellem Glanze.
»Es wird eine kalte Nacht,« bemerkte Frau Winterfeld, als sie durch den Garten schritten.
»Ein wundervoller Abend,« rief Ruth gleichzeitig aus. »Seht nur die weißen Berge, wie geheimnisvoll sie gegen den blauen Himmel dastehen, viel schöner noch als im Sommer! Ich habe ihn gern, den Winter.«
»Ich auch,« stimmte Hans zu, »denn er bringt die Menschen einander näher. Was geht wohl über die gemütlichen Abende im Familienkreise?«
»Nächstes Jahr gibt es außerdem die Theaterloge und Konzerte,« rief Dodo. »So etwas darf ich dann schon mitmachen, aber Gesellschaften und Bälle noch nicht, weil ich noch immer ein Backfisch bin. Eigentlich recht schade!«
Hans sah Ruth an. »Es gibt etwas Besseres als solche Vergnügungen, nicht wahr, Fräulein Ruth?« fragte er leise.
Sie nickte nur.
»Was würden Sie sagen,« fuhr er fort, »wenn ich vielleicht in der Nähe oder auch in Magdeburg selbst als Referendar Beschäftigung fände? Würde es Sie freuen?«
Ruth stand auf der Schwelle und betrachtete den Abendstern.
»Ja,« entgegnete sie, aber Hans wußte nicht, ob sie ganz bei der Sache war, »es wäre sehr nett.«
Der junge Mann war ziemlich enttäuscht. »Nur nett?« fragte er gedehnt.
Da wandelten Ruths Blicke von dem flimmernden Stern und blieben an seinem Antlitz hängen. Sie sah die große Enttäuschung darauf. Ein Lächeln flog ihr über die Lippen, als sie nun wiederholte: »Es wäre wirklich sehr nett, Herr Referendar!« Dann schlüpfte sie schnell an ihm vorüber ins Haus.
Fröhlich kamen die jungen Mädchen ins Zimmer, Bernd zu begrüßen und ihm von der Fahrt zu erzählen.
»Ich habe auch etwas Schönes erlebt,« verkündete er, froh lächelnd. »Lena, es gilt dir. Kannst du wohl erraten, was ich für dich habe?«
»Oh, Bernd,« rief sie und sah ihn voll Spannung an.
»Hier,« sagte er und gab ihr ein Schreiben, »es ist von ihm selbst.«
»Siehst du, Schwesterlein, wie recht ich hatte?« Hans wollte sie in übergroßer Freude in die Arme ziehen, aber sie wehrte ab und eilte mit ihrem Brief in ihr Zimmer hinauf.
Nach so vielen, langen Monaten wieder seine Handschrift! Das Herz klopfte ihr, als sie den Umschlag aufschnitt und die Briefblätter herauszog.
»Feldlazarett Otjosondu, 3. Januar 1905.
Meine liebe Freundin!
Nun endlich fühle ich mich kräftig genug, Ihnen selbst zu schreiben und für Ihre lieben Briefe zu danken.
Zu Anfang Dezember bekam ich, weil ich zu früh aufstand, einen leichten Rückfall und lag abermals acht Tage lang im Fieber. Mit ins Hottentottenland zu ziehen, mußte ich zu meinem Kummer endgültig aufgeben. Mit dem nächsten Krankentransport, vielleicht im März, soll ich nach Okahandja zurück. Kräftigt sich dort mein immer noch schwaches Herz nicht nach Wunsch, werde ich unbarmherzig heimgeschickt.
Ich habe Schwester Suse im Verdacht, daß sie dahintersteckt. Sie leugnete es zwar lachend und verwies mich an unseren Stabsarzt, der mir gestern nach einer Untersuchung diese wenig tröstliche Weisung gab. Verstehen Sie mich nicht falsch, Lena; es zieht mich ja mächtig in die Heimat. Aber sehr schwer wird es mir doch, aus gesundheitlichen Rücksichten meinen Posten hier verlassen zu müssen. Noch hoffe ich jedoch auf eine schnelle und völlige Genesung, um wenigstens in Okahandja bleiben zu können; dorthin werden viele Kranke geschafft und die Zahl der Arzte ist knapp.
Nun will ich Ihnen von unserer Weihnachtsfeier erzählen. Die Regenzeit war angebrochen. Jeden Morgen zogen schwere, drohende Wolken herauf und entluden sich unter Donner und Blitz über uns. Von einem Regen in den Tropen kann sich niemand einen Begriff machen, der ihn nicht selbst erlebt hat. Wie bei einem Wolkenbruch, so stürzten die Wassermassen mit elementarer Gewalt vom Himmel und überschwemmten die leeren Flußbetten in kurzer Zeit. Von den Bergen, von jeder kleinen Anhöhe kam es schäumend herab und sammelte sich in den Schluchten und Wasserlöchern.
Glücklicherweise war unser letzter Transport vor dem Feste mit Lebensmitteln, Geschenken und Briefen aus der Heimat schon morgens in der Frühe, kurz vor dem Ausbruch des Regens, angelangt; wir hatten sehnsüchtig nach ihm ausgeschaut. Mit lautem Hallo wurde er begrüßt; jeder einzelne hoffte ja auf eine Sendung aus der Heimat. In Spannung und Erregung umdrängte alles, was nicht ans Bett gefesselt war, den großen Kapwagen, ich natürlich auch. Hoch beglückt kehrten wir dann mit den erhaltenen Schätzen ins Lager zurück.
Wie reich bedacht war ich doch, trotzdem ich wohl mit der einsamste von allen bin! Außer einem Brief vom Onkel fand ich eine Sendung von Ihren lieben Eltern, eine von Hans und auch die Ihre, Lena. Wie glücklich fühlte ich mich, als mir aus all den lieben Briefen so herzliche, warme, unverdiente Freundschaft entgegenströmte! Danken Sie auch dem Trautheimer Bunde in meinem Namen, jedem einzelnen Mitglied, für die freundlichen Grüße und guten Wünsche, sowie für die eßbaren und die praktischen Gaben. Das hübsch gestickte Zigarettentäschchen von Ihrer Hand mit seinem auserlesenen Inhalt hat mich herzlich erfreut; ich danke Ihnen sehr, liebe Lena.
Alles, was Sie mir schreiben, interessiert mich lebhaft. Die liebe deutsche Heimat wird mir dadurch so deutlich vor Augen gezaubert, daß ich dort zu sein glaube. Nun aber weiter in unserer Weihnachtsfeier!
Wir hatten als Christbaum eine Aloe für uns und eine für unsere Kranken angeputzt. Mit ihren Lichtern und den zahlreichen Wattebäuschchen konnte man bei viel Phantasie und gutem Willen Weihnachtsbäume in ihnen sehen. Jedenfalls erfüllten sie ihren Zweck und stimmten uns weihnachtlich, als die Lichter brannten und Schwester Suse anhub zu singen: ›O du fröhliche, o du selige!‹ Wir fielen alle ein, und ich sah in manchem Auge unserer Kranken Tränen glänzen. Sie mochten an Vater und Mutter, an Weib und Kind denken. Dann verteilten wir die aus Deutschland eingetroffenen Gaben so passend wie möglich. Später saßen wir Ärzte mit den Offizieren in anregendem Gespräch in unserem Zelt bei einigen Flaschen Wein, jeder sich dem langentbehrten Genusse einer guten Zigarre hingebend – Wein und Zigarren, Liebesgaben aus der Heimat! Ich mußte freilich den Zuschauer spielen, da ich augenblicklich weder rauchen noch Wein trinken darf. Aber den übrigen guten Dingen, die noch eingetroffen waren, durfte ich alle Ehre antun.
Ein bißchen fühlten wir uns auch durch das ungewohnte gute Leben in die Heimat versetzt. Die Nahrungsmittel hatten nämlich schon angefangen, recht knapp zu werden. Erst mußte immer für die Pflege unserer Kranken gesorgt werden – ich gehöre gottlob nicht mehr dazu, sondern stehe wieder in der Arbeit – da konnten die Rationen uns anderen nur klein bemessen werden. Hat man sich aber erst daran gewöhnt, braucht man überraschend wenig.
Bevor ich mich am Heiligen Abend zur Ruhe legte, ging ich noch einmal ins Freie, das Nachtbild, das ich sehr liebe, in mich aufzunehmen. Es war Vollmond; die Landschaft lag im hellen Lichte vor mir. Hinter unserem Lager erhoben sich schwer und dunkel die Umrisse des Otjosonduberges; vor mir breitete sich bis in weite Ferne die flache Buschsteppe aus, im Westen begrenzt vom Gebirge. Im Norden erhob der Waterberg sein trotziges Haupt in seiner ganzen Wucht gen Himmel; im Osten erstreckte sich die weite, wasserlose Wüste. Dort hat das arme verblendete Volk, das diesen unseligen Krieg herausforderte, größtenteils ein schreckliches Ende gefunden.
In tiefem Frieden wölbte sich bis in die unabsehbare Ferne der tiefblaue Himmelsdom mit seinen Milliarden Sternen, die in wunderbarem Glanze strahlten. Die tiefe, weihevolle Ruhe, die von dem leuchtenden Firmament ausging, erfüllte mir die Seele. Nie habe ich die Allmacht und die Majestät Gottes so tief empfunden als hier draußen in der heiligen Nacht. Wie losgelöst von allem Irdischen fühlte ich mich.
Da klang plötzlich ein leises Schluchzen an mein Ohr und rief mich auf die Erde zurück. Schnell wandte ich mich und erkannte zu meinem Schreck Schwester Suse. Sie stand nicht weit entfernt von mir, mitten im Mondlicht, die Hände gefaltet, regungslos, und sah zum Sternenhimmel auf. Dabei perlten ihr, ohne daß ein Muskel ihres lieben, sonst stets heiteren Antlitzes zuckte, langsam große Tränen über die Wangen. Was mochte sie so sehr bewegen, daß sie, sonst stets beherrscht, ihrem Kummer derart freien Lauf ließ? War es Heimweh, oder hatte sie ein tiefes Leid mit in das fremde Land hinausgenommen? Ich wußte es nicht, fühlte mich aber bis ins Innerste erschüttert und war froh, als es mir gelang, mich unbemerkt hinter den Baracken ins Zelt zu schleichen.
Am nächsten Morgen war sie die alte, nur etwas blasser als sonst und ihre Augen matter. Welche Kraft hat doch dieses Mädchen, sein Leid, wie es auch heißen mag, so tapfer zu tragen, daß selbst die nächste Umgebung nichts davon ahnt!
Und nun, liebe Lena, komme ich zum Schluß. Möge das neue Jahr Ihnen nur Gutes bringen und Gottes Güte Sie auf allen Ihren Wegen begleiten! Vielleicht ist uns auch ein Wiedersehen schon in diesem Jahre beschieden. Wie sich aber auch alles gestaltet, der Herr wird es schon recht machen.
Leben Sie wohl und nehmen Sie die herzlichsten Grüße entgegen! Stets der Ihre
Erwin Holm.«
Am nächsten Morgen reiste Hans ab. »Auf Wiedersehen,« riefen die jungen Mädchen ihm nach, als er mit Lena, die ihn zur Bahn begleitete, durch den Garten schritt. Eine Weile gingen die Geschwister schweigend nebeneinander her, dann zog er der Schwester Arm unter den seinen.
»Nun bist du doch ruhig um unseren Freund, nicht wahr?« fragte er liebevoll.
»Glaubst du, daß er ein schweres Herzleiden hat,« forschte sie mit banger Miene.
»Schwer? Nein, es scheint mir durchaus unbedenklich, sonst ließen ihn die Kollegen nicht wieder tätig sein; denn wenn Erwin schreibt, daß er arbeitet, so steht er wieder mitten drin in seinem Berufe. Immerhin würde ich es für richtiger halten, wenn er zurückkehrte und sich ausheilte, damit aus dem akuten Leiden kein chronisches entsteht. Es wird auch wohl so kommen. Ich erwarte ihn bestimmt zum Sommer.«
»Darf man sich nun eigentlich freuen?«
»Natürlich! Ich hoffe schon viel von der Seereise für ihn. Weißt du, was eigentlich sehr nett wäre, Lena?«
»Nun?«
»Wenn du den Sommer über noch hier bliebst! Ich finde dich recht blaß und schmal; die Großstadtluft wäre ungesund für dich. Ich würde auch sehr oft herfahren und dich besuchen.«
»Aber Hans« – Lena war ehrlich erstaunt – »wie kommst du darauf? Mir geht es ausgezeichnet. Wenn wir beide bei den Eltern wohnten, wäre das doch das allerschönste.«
»Freilich! Es bleibt aber doch fraglich, ob ich dort Arbeit finde, die bezahlt wird. Ich möchte dem Vater nämlich nicht länger mehr auf der Tasche liegen. Aus diesem Grunde will ich versuchen, irgendwo einen Unterschlupf zu finden, sei es selbst in einem kleinen Neste, wenn nur meine Arbeit klingenden Lohn findet. Eine nette Gegend wäre freilich nicht zu verachten, so zum Beispiel hier der Harz.«
»Ja, das wäre schön, Hans. Ich möchte aber doch lieber zu Ostern nach Hause.«
»Vielleicht bist du im Sommer mal zu Besuch hier, Lena; dann komme ich auch her und wir machen einen Ausflug zur Höhe hinauf. Familie Frankental wird dann aller Voraussicht nach wieder in Braunlage sein, Fräulein Ruth sagte schon, sie hoffe das auch.«
»Ja, das könnte reizend werden. Vielleicht kommen die Eltern dieses Jahr ebenfalls her, dann wären wir alle zusammen. Das sollte ein lustiges Leben werden, Hans!«
Als Lena nach Hause kam, hörte sie, daß Herr Frankental seinen Besuch durch eine Depesche angekündigt hatte. Die Schwestern waren hoch beglückt, ahnten aber etwas Besonderes und stellten die seltsamsten Vermutungen auf.
Dodo empfing den Vater auch gleich mit der Frage: »Papa, willst du uns besuchen oder hast du irgend etwas vor?«
»Geduld, lieber Neck, laß mich vorläufig erst mal alle Damen begrüßen,« entgegnete der Papa in seiner gewohnten heiteren Art.
Dann gab es richtig eine gewaltige Überraschung. Der Papa wollte nichts geringeres, als Frau Winterfeld bitten, seine beiden Töchter noch bis zu Michaelis zu behalten. Großmama sollte im Mai operiert werden; Frau Frankental wollte während der drei Wochen dauernden Kur bei ihr in der Klinik bleiben und dann zur Erholung mit ihr und dem Großvater auf mehrere Monate nach Braunlage gehen.
»So liegen die Dinge,« schloß der Fabrikherr seinen Bericht. »Nun fragt es sich, verehrte Frau Winterfeld, ob Sie meine Mädchen noch behalten können.«
»Von Herzen gerne! Aber ich fürchte, die lieben Kinder werden beide sehr enttäuscht sein, zu Ostern nun nicht, wie sie gehofft hatten, nach Hause zu kommen.«
Dodo trocknete schnell einige Tränen und fiel ihr um den Hals. »Ich war bloß im ersten Augenblick enttäuscht,« gestand sie. »Nimm es nicht übel, liebe Tante! Aber wenn Mama mit den Großeltern in Braunlage ist, dürfen wir in den Sommerferien auch wieder hinauf, ja, Papa?«
»Wenn Großmama sich soweit wohl befindet, gewiß! Was sagst denn du, mein Nück?« Liebevoll zog er seine Älteste zu sich heran.
»Ich hatte mich auch sehr gefreut, nach Hause zu kommen, Papa, aber ich bleibe ebenso gern noch hier,« versicherte Ruth.
»Wenn doch Lena nun auch noch bliebe,« rief Dodo. »Wir bestürmen sie so lange, bis sie ihre Eltern bittet, nicht wahr, Ruth?«
Deren Augen leuchteten freudig auf. »Ja, das wäre herrlich! Ich habe Lena sehr lieb,« entgegnete sie.
Herr Frankental erzählte nun, daß er von Braunlage komme und sich wieder herzlich gefreut habe, in Frau Welzin eine sehr tüchtige Leiterin für das Arbeiterheim gefunden zu haben.
»Sind jetzt auch kranke Leute oben?« fragte Frau Winterfeld.
»Ja, einige meiner Beamten. Ich hatte von Anfang an gehofft, daß sie von dem Aufenthalt dort Gebrauch machen würden, natürlich zu mäßigen Preisen. Zu meiner Freude scheint die Sache jetzt Anklang zu finden; für den Frühling haben sich schon mehrere gemeldet, die dort ihren Urlaub verbringen wollen. Dadurch werden der Kasse neue Gelder zufließen, denn was bisher die besser gestellten Arbeiter zahlten, war nur gering. Gehen die Beamten erst zahlreicher hin, dann hoffe ich, daß sich das Unternehmen allmählich aus sich selbst erhalten kann. Tritt dieser Fall ein, kaufe ich später noch mehr Grund und Boden und erweitere das Ruth-Dorotheen-Heim, so daß die Beamten auch mit den Familien hingehen können. Das schafft dann wieder Mittel zu einem Heim für die Frauen und Mädchen meiner Fabrik.«
»Papa, wie schön wäre es, wenn das Heim so wachsen wollte,« rief Ruth hocherfreut.
Der Vater nickte ihr zu und erkundigte sich dann nach Ilse. »Ich habe es nicht anders erwartet,« entgegnete er, nachdem Frau Winterfeld ihm berichtet hatte, wie glücklich und befriedigt die Tochter stets schrieb. »Fräulein Ilse macht ihren Weg; die wird ein ganzer Mensch!«
»Das wollen wir auch, Papa,« erklärte Dodo wichtig, »das steht ja schon in unseren Statuten und wir nehmen alles sehr ernst. Du glaubst nicht, wie klug und tüchtig man bei Tante Marie wird!«
»Wir werden hoffentlich Menschen, die nicht nutzlos in den Tag hineinleben,« sagte Ruth ernst.
Lächelnd betrachtete der Fabrikherr seine blühenden Kinder.
»Meine Mädchen,« sagte er zärtlich und nahm eine rechts, die andere links in den Arm, »ihr ahnt gar nicht, wie sauer es eurem alten Papa wird, euch noch ein ganzes halbes Jahr entbehren zu müssen! Was meint ihr aber, wenn ich nun mit euch allen zum Konditor ginge?«
»Herrlich, Papa! Und dann machst du noch einen Spaziergang mit uns?«
»Auch das! So lange habe ich wohl gerade noch Zeit.«
Unter den Trautheimern herrschte große Freude, als sie hörten, daß Ruth und Dodo zu Ostern noch bleiben sollten. Lena, von beiden bestürmt, kämpfte mit ihrer Sehnsucht, bald heimzukommen, und dem Wunsche, den Freundinnen die Bitte zu erfüllen; schließlich schrieb sie an die Eltern. Alle Trautheimer setzten ihre Namen unter den Brief und fügten die Bitte hinzu, ihnen Lena noch zu lassen.
Schon nach zwei Tagen kam Antwort von der Mutter mit ihrer und des Vaters Einwilligung. Zwar fühlten sie sich enttäuscht, schrieb sie, ihre Tochter noch länger entbehren zu sollen, Hans habe jedoch so dringend dazu geraten, weil er Lena für recht schwach halte, daß sie sie schon aus diesem Grunde noch den Sommer über die schöne Harzluft genießen lassen möchten. Ferner teilte die Mutter mit, daß Hans durch gute Fürsprache am Charlottenburger Amtsgericht Arbeit gefunden habe, die gut bezahlt werde. Sie hätten sich herzlich gefreut, ihren Jungen daheim zu behalten. Hans hingegen scheine nicht vollständig befriedigt; er wäre sicher lieber in eine schöne Gegend gezogen.
So rückte der März ins Land. Die Frühlingsstürme brausten über die Berge; die Bäche rauschten und die schlummernde Natur rüstete sich zur Auferstehung. Da kam eines Tages eine Freudenpost ins Haus. Bernd erhielt von der Heidelberger Kunsthandlung eine Probesendung der von ihm gemalten Osterkarten und gleichzeitig das Honorar. Helle Freudenröte lag ihm auf den Wangen, als er vor seinem weit über Erwarten großen Reichtum saß. Er hörte kaum Annas herzlichen Glückwunsch, so erfüllt war er von dem, was in ihm vorging.
»Die Mutter,« rief er erregt, »rufe die Mutter, Maus!«
Mitten aus der Arbeit heraus eilte Frau Winterfeld ins Zimmer. »Was ist, Berni? Anna sagte mir, du hättest mir Gutes – ja, woher kommt das viele Geld?«
»Es ist mein, Mutter – für meine Karten! O Mutter!« Er streckte ihr die Hände hin, die sie mit festem Druck umfaßte.
»Mein Herzensjunge! Wie danke ich Gott für diese Freude! Und dir wünsche ich von Herzen Glück, Berni.« Sie beugte sich zu ihm nieder.
»Ich kann dir nicht sagen, wie glücklich und dankbar ich bin, Mutter! Nicht mehr unnütz sein – mir selbst mein Brot verdienen – nicht mehr völlig auf andere angewiesen sein, welche Gnade!«
»Bernd –«
»Ich weiß alles, was du sagen willst, gute Mutter. Aber denke dich an meine Stelle! Was es für mich als Mann, wenn ich auch ein siecher bin, bedeutet hätte, später einmal gänzlich auf die Schwestern angewiesen zu sein, wirst du begreifen. Ich muß ja ohnehin ihre Hilfe und Güte so viel in Anspruch nehmen und tue es auch gerne, da wir in inniger Liebe miteinander verbunden sind; aber immer zusehen müssen, wie sie alle vorwärts streben, sich eine Stellung erringen, ganze Menschen werden, und selber immer nur Drohne darunter zu sein, das, Mutter, hat schwerer auf mir gelastet als mein kranker Körper!«
»War es wirklich das, was dich bedrückte, Bernd? Ich bemerkte oftmals einen Schatten in deinen Augen und wußte ihn mir nicht zu deuten.«
»Vergib, liebste Mutter! Ja, es drückte mich, durch mein Leiden zur Untätigkeit verurteilt zu sein, denn das Fächerbemalen blieb doch nur eine Aushilfe. Aber jetzt – da lies den Brief, Mutter, den Herr Berthold mir eigenhändig schreibt. Alles soll ich ihm schicken, nicht nur Festkarten; ihm gefällt meine Art. Er will von dem, was ich male, mit Freuden so viel als möglich nehmen. O Mutter, nun kann ich arbeiten, schaffen und mit meinem kleinen Talent die Menschen erfreuen! Ich bin zu glücklich!«
»Mein geliebter Sohn!« Weiter konnte die Mutter vor Bewegung nicht sprechen; stumm drückte sie dem Kranken die Hand.