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Die Neue

Am nächsten Morgen saß die Familie beim Frühstück, als Sophie die Postsachen brachte. Lena war sehr enttäuscht, daß nichts für sie darunter war. Sie vergaß ihren Kummer aber schnell, als die Hausfrau einen Ruf der Überraschung ausstieß.

»Paßt das aber schlecht! Hier schreibt mir Herr Frankental, daß Dorothee schon heute kommt, und bittet mich, sie in Halberstadt in Empfang zu nehmen, da er sofort nach Magdeburg zurück müsse. Kinder, so aus der großen Wäsche heraus!« Sie ließ den Brief sinken und sah sehr nachdenklich vor sich hin.

»Wann mußt du fort, Mutter?« forschte Bernhard.

Frau Winterfeld nahm das Schreiben wieder auf. »Nun, sie kommen erst gegen halb sechs Uhr nachmittags in Halberstadt an,« entgegnete sie schon ruhiger. »Kläre, schnell, hole das Kursbuch, und du, lieber Junge, siehst mal nach, wann ich fort muß.«

»Um vier Uhr sechsundzwanzig Minuten,« lautete dann die Auskunft. »Du tust jedenfalls gut, mit einem Hotelwagen hinauszufahren.«

»Da hast du recht, Bernhard; damit spare ich Zeit. Was meint ihr, Kinder, können wir wohl bis dahin mit dem Legen und Rollen fertig werden?«

»Kleinigkeit,« erwiderte Ilse.

»Liebste Mutter,« sagte Anna, »du darfst dich nicht überanstrengen, wenn du um vier Uhr fortfährst. Uns bleibt ja noch der ganze Nachmittag. Wir wollen sehr fleißig sein und unsere Sache so gut machen, als wärst du selbst dabei.«

»Ja, das wollen wir,« bekräftigte Ilse. »Ich werde meine Pflicht tun.«

»Gut, Ilse; du hältst dein Wort, das weiß ich.«

»Ich will auch meine fünf Sinne zusammennehmen, Tante, daß ich nicht wieder alles verkehrt mache,« versprach Lena.

»Deine fünf Sinne sind nur ein bißchen schwer zusammenzuhalten, Flattergeist,« neckte Ilse die Cousine. »Sie sind der reine Bienenschwarm.«

Lena stimmte heiter in das allgemeine Lachen ein.

»So, jetzt schleunig an die Arbeit,« gebot die Hausfrau, sich erhebend. »In Dorothees Zimmer muß auch noch alles in Ordnung gebracht werden.«

»Mutter, das laß mich tun,« bat Ilse. »Du sollst mal sehen, wie hübsch ich es ihr mit Deckchen, Blumen und Nippes zurechtmache!«

»Das glaube ich schon, liebe Tochter. Du mußt aber, wenn du das übernimmst, auch alles darin tun: sauber Staub wischen, und vielleicht die Fenster noch einmal putzen. Ja, mein Kind, es will alles gelernt werden; auch vor einer noch so ungewohnten Arbeit dürft ihr euch jetzt nicht scheuen,« setzte sie hinzu, als Ilse ein schiefes Gesicht zog.

»Tröste dich, Königskind: nach einem Jahr wirst du aus der Tretmühle der häuslichen Pflichten entlassen,« scherzte Bernhard.

»Kannst du mir sagen, Berni, was dann folgt?« fragte Ilse sehnsüchtig.

»Dann kommt der Ernst des Lebens,« erklärte Anna mit großem Nachdruck und trug das Servierbrett mit dem Geschirr hinaus.

»Die schreckliche Maus« – ärgerlich stampfte Ilse mit dem Fuße – »mich immer und ewig daran zu erinnern! Als ob ich diesen Ernst nicht längst und am tiefsten von uns allen begriffen hätte!«

»Ilse!« Bernd streckte ihr bittend die Hand hin. Beide waren allein im Zimmer geblieben.

Ilse kämpfte einen Augenblick mit sich, dann siegte ihre Liebe zum Bruder. Noch Tränen an den langen Wimpern, neigte sie sich über den Kranken. »Verzeih! Ich sollte nicht so leicht heftig werden und dich erschrecken. Es ist auch schon vorüber.« Um ihre blühenden Lippen spielte schon wieder ein Lächeln, während sie hastig die Tränen trocknete.

»Komm, ich schiebe dich auf den Balkon, und mache dir alles bequem. Ist es gut so, und hast du alles?«

»Danke, Schwester, alles!«

»Dann gehe ich und stürze mich in die Arbeit. Auf Wiedersehen, Berni!«

Als sie in die Waschküche kam, herrschte dort schon emsige Tätigkeit. »Ilse,« raunte Anna ihr zu, »ich wollte dich nicht kränken.«

»Ich weiß das, Maus; ich brauche ja auch nicht gleich in Feuer und Flamme zu geraten, wenn ich von dem Ernst des Lebens höre.«

»Und ich sollte ihn nicht immer ins helle Licht rücken. Ich werde es nicht wieder tun.«

Sie waren nun alle sehr fleißig. Aber obgleich jede ihr Bestes tat, wurde doch nicht alles fertig, denn das Hauswesen wollte auch besorgt sein. Schließlich durfte die Hausfrau nicht länger zögern, sich für ihre kurze Reise anzukleiden. Sie riß sich nur schwer los, die jungen Mädchen versprachen jedoch, alles aufs schönste zu besorgen, und Sophie, die mit der Familie vor vier Jahren nach Wernigerode gekommen war, wußte ja mit allem genau Bescheid.

Die drei schafften emsig weiter. Auch Lena nahm sich zusammen, trotzdem mußte Anna sie öfters erinnern, und ihre Gedankenlosigkeit trug viel zur allgemeinen Heiterkeit bei.

Als es Abend wurde, war alle Wäsche sauber gelegt und gerollt, der Teetisch zierlich gedeckt und mit kalten Speisen besetzt. In größter Spannung sah man dann der Ankunft der »Neuen« entgegen. Wie »sie« sein mochte, das war die brennende Frage des Augenblicks.

»Ich wollte, sie wäre recht fügsam,« sagte die gute Anna in Gedanken an die Mutter.

»Bloß keine Tranliese,« rief Ilse. »Lieber soll sie etwas zu viel Temperament haben, als gar keins. Da – da kommt schon der Wagen.«

Als erste eilte sie hinaus. An der Pforte standen aber schon Klärchen und Lisi und musterten neugierig das zierliche Mädchen, das leichtfüßig aus dem Wagen hüpfte und nun Frau Winterfeld die Hand zum Aussteigen reichte. Ein dicker schwarzer Zopf baumelte der Neuen im Nacken und machte alle lebhaften Bewegungen seiner Eigentümerin mit.

»Da bin ich wieder, Kinder,« sagte die Mutter freundlich. »Guten Abend! Gleich mache ich euch miteinander bekannt.«

Sie lohnte den Kutscher ab. Aber Ilse, zu lebhaft, dies abzuwarten, trat auf die junge Fremde zu und streckte ihr mit anmutigem Lächeln die Hand hin.

»Willkommen, Dorothee! Ich bin die Ilse; hier ist meine Schwester Anna, genannt die Maus, und das ist Cousine Lena. Diese beiden Würmer sind Kläre und ihre Busenfreundin Lisi. Alles schon erledigt, Mutter,« rief sie fröhlich, als diese zu ihnen in den Garten trat.

Dorothee ließ die glänzenden, schwarzbraunen Augen lebhaft von einer zur anderen gleiten und drückte jeder so kräftig die Hand, wie niemand es dem nur mittelgroßen, zierlichen Persönchen zugetraut hätte.

»Ihr könnt euch gar nicht denken, wie ich mich auf euch gefreut habe,« versicherte sie lebhaft, »und ein gut Teil neugierig war ich auch!«

»Wir auch, Dorothee,« entgegnete Ilse lachend.

»Bitte, nennt mich nicht so feierlich Dorothee! Zu Hause tun sie es nur bei besonderen Anlässen; für gewöhnlich heiße ich Dodo. Wir nennen uns doch alle du?«

»Mit Vergnügen!«

Sie schüttelten sich alle noch einmal die Hände, dann geleiteten die fünf Mädchen Dodo die Treppe hinauf in ihr Zimmer.

»Oh, wie reizend!« rief sie und eilte von einem Fenster zum anderen. »Aber hier soll ich doch nicht ganz allein hausen?«

»Vorläufig, ja,« belehrte Ilse, »bis deine Schwester kommt. Wie geht es ihr?«

Das strahlende Gesicht Dorothees wurde plötzlich sehr ernst, und zum Schreck aller perlten ihr Tränen über die blassen, schmalen Wangen. »Sie ist sehr krank,« sagte sie leise. »Halb zu Tode habe ich mich geängstigt, und wenn sie gestorben wäre, meine Ruth, dann hätte ich auch nicht mehr leben mögen! Aber nun – gestern sagte unser Arzt, wir seien über den Berg, und ich sollte machen, daß ich fortkäme, sonst würde ich vor Aufregung auch noch krank. Ich wollte durchaus nicht reisen, habe stundenlang geweint und Papa angefleht, mich daheim zu lassen; es half mir aber nicht. Die Mama habe ich nicht mehr gesprochen, seit Ruth krank ist. Nur vom Garten aus durfte ich sie manchmal sehen; sie kam dann ans Fenster und nickte mir zu. So haben wir auch Abschied voneinander genommen. Ihr glaubt nicht, wie schwer das alles für mich war.«

Voll Teilnahme umdrängten sie die Mädchen; ein jedes wollte sie trösten. Dodo lächelte und trocknete ihre Tränen.

»Bei euch werde ich wieder vergnügt,« sagte sie hoffnungsfroh. »Papa hat mir auch versprochen, mir täglich Nachricht über Ruth zu geben, Mama darf mir ja wegen der Ansteckungsgefahr nicht einmal schreiben.«

»Willst du dich nun nicht fertigmachen, Dodo,« bat Anna. »Meine Mutter wartet gewiß schon mit dem Tee auf uns, wir müssen uns beeilen.«

»Ja, natürlich, ich mache sehr schnell. Kinder, wie reizend ich eure Mutter finde, kann ich gar nicht sagen! Sie war so gut zu mir wie eine richtige Mutter, als ich bei Papas Abschied weinen mußte. Ich darf auch Tante zu ihr sagen und du, damit ich mich schneller einlebe. In fünf Minuten bin ich unten.«

Es ging ziemlich lebhaft im Eßzimmer her, als Dodo eintrat, ein heiteres Lächeln auf den Lippen. Die Hausfrau machte sie mit Bernd bekannt.

»Sie sagen Dodo zu mir, nicht?« bat sie. »Ich bin ja noch ein richtiger Backfisch, erst fünfzehn Jahre alt. Daher auch noch der Hängezopf, den Mama zu Ostern durchaus aufstecken wollte. Ich jammerte aber und Papa fand mich mit der hohen Frisur so garstig, daß ich den Zopf rettete.«

»Weshalb bist du so früh aus der Schule gekommen?« erkundigte sich Lena.

»Unser Arzt wollte es, weil ich etwas bleichsüchtig bin und wir Schwestern in gute Luft sollten. Meine Eltern wußten gar nicht, wohin mit uns; da hörten wir durch eine befreundete Dame von dir, Tante Marie, und nun freue ich mich sehr, daß ich gerade zu dir gekommen bin.«

»Ich auch, mein liebes Kind. Hoffentlich wirst du hier frisch und gesund. In den nächsten Tagen wirst du dich freilich ein bißchen bei uns langweilen; wir hatten nämlich eine große Wäsche und müssen plätten. In dieser Hinsicht triffst du es etwas unglücklich.«

»Aber, Tante, ich plätte mit, selbstverständlich! Ich soll ja auch wirtschaften lernen und freue mich riesig darauf.«

»Hast du schon jemals ein Plätteisen in der Hand gehabt, Dodo?« fragte Ilse neckend.

»Unzählige Male! Ich habe meine Puppenwäsche stets allein besorgt. Bitte sehr, ihr braucht gar nicht zu lachen; ich plätte entzückend, sagte unser Stubenmädchen mir jedesmal. Morgen werde ich es euch zeigen.«

Frau Winterfeld, die neben dem Sohne saß, sah voll Besorgnis, wie sehr ihn die lebhafte Unterhaltung angriff; sie gab daher Ilse einen Wink. Während diese ihn aus dem Zimmer schob, erklärte Frau Winterfeld: »Bernd zieht sich meist zurück, sobald er fertig ist, liebe Dodo. Sehr oft ißt er auch allein auf der Veranda.«

»Wie sie voller Leben ist,« sagte Bernd seufzend, als er in seinem Zimmer war.

»Ja, sie wird dich noch oft recht sehr ermüden, armer Junge! Man kann ihr aber gar nicht böse sein, so niedlich ist sie.«

»Geh jetzt, Ilse,« bat er matt und lehnte den Kopf gegen den Stuhl.

Später kam die Mutter und setzte sich neben ihn. Sorgenvoll sah sie in seine leidenden Züge. »Mein liebster Junge, das war immer meine geheime Sorge, es könnte zu viel für dich werden, wenn ich junge Mädchen ins Haus nehme. Ich habe viel hin und her gesonnen, ob sich mir nicht ein anderer Erwerbszweig biete, bei dem uns auch das Haus zunutze käme; aber die Pension blieb immer das einträglichste und entsprach auch am meisten meiner Neigung und Begabung. Sie wird es auch noch lernen, die liebe Dodo, bei den Mahlzeiten nicht mehr so lebhaft zu sein.«

»Meine gute Mutter!« Bernd streichelte ihr zärtlich die Wangen. »Sorge dich nicht um mich und sage Dodo ja nichts; sie kann ihr Zünglein doch nicht halten. Mädchen müssen eben immer lachen und plaudern. Es ist auch mehr ihre erstaunliche Beweglichkeit, die mich aufregte; ich glaubte jeden Augenblick, ihre Tasse oder Messer und Gabel segelten unter den Tisch. Sie ist das reine Eidechslein.«

»Lege dich lieber hin, mein Junge,« redete die Mutter liebreich zu und war ihm behilflich, schnell ins Bett zu kommen, wo er sich aufatmend ausstreckte.

Inzwischen wanderten die Mädchen im Mondschein durch den Garten. Lena mußte Dodo von Berlin, von den Eltern und Geschwistern erzählen, bis Frau Winterfeld sie hineinrief und zu Bett schickte.

»Ich schlafe doch nicht ganz allein oben?« erkundigte sich Dodo ängstlich.

»Nein,« entgegnete die Hausfrau lächelnd. »Nur ich schlafe mit Klärchen unten, damit Bernd nicht allein ist. Ihr großen Mädchen habt eure Zimmer alle im ersten Stock.«

»Und das meine liegt neben deinem, Dodo,« tröstete Lena.

»Wir lassen die Tür auf, nicht, Lena?«

»Gern, wenn dir das lieber ist.«

Anna und Ilse, die ein nach dem Hof zu gelegenes Zimmer teilten, trennten sich oben von den beiden.

Lena sah erstaunt zu, wie Dodo in ihrem Zimmer unter die Betten leuchtete und alle Ecken einer eingehenden Musterung unterzog.

»Ich bin nämlich schrecklich furchtsam,« erläuterte sie ihr Tun. »Du auch?«

»Keine Spur,« versicherte Lena.

»Das ist herrlich! An dem Mut anderer richtet sich der meine immer wieder auf. Weißt du was? Hier steht ja Ruths Bett fix und fertig; lege dich da hinein. Bitte, Lena!«

»Wenn es der Tante nur recht ist!«

»Oh, warum sollte es nicht? Ich sage es ihr morgen und bitte sie, daß du bei mir schlafen darfst, bis Ruth kommt. Nicht, Lena, du tust es?«

»Meinetwegen! Ich weiß nur nicht, vor was du eigentlich Angst hast.«

»Man kann doch nie wissen,« entgegnete Dodo etwas rätselhaft und schloß sämtliche Türen ab.

Nun wurde sie wieder recht vergnügt. Kaum aber lagen sie und hatten das Licht gelöscht, fragte sie leise: »Lena – was war das eben? Hast du nichts gehört?«

»Nein.«

»Aber so horch doch mal! Es raschelte merkwürdig – da – jetzt wieder! Oh, was für Herzklopfen habe ich!«

»Aber Dodo, das ist ja der Wind in den Bäumen!«

»Wirklich?«

»Natürlich! Hör doch nur ordentlich zu!«

»Es mag ja sein – ich ängstige mich aber schrecklich.«

»Wie kann dir nur so bange sein vor nichts und wieder nichts! Ich begreife das gar nicht.«

»Wollen wir nicht lieber das Licht brennen lassen?«

»Nein; das hat die Tante streng verboten.«

Einen Augenblick lagen sie still, dann fuhr Lena in die Höhe. »O jeh –«

»Was ist – was ist?« schrie Dodo entsetzt auf.

»So sei doch still! Mir fiel bloß ein, daß ich vergaß, die Erbsen einzuweichen. Ich habe Küchenwoche und Tante hat es mir vorhin aufgetragen. Ich sollte es gleich nach dem Abendbrot tun, habe es aber natürlich verschwitzt.«

»Wozu solltest du denn aber so etwas Merkwürdiges tun?«

»Wir wollen doch morgen Erbsensuppe essen; wenn da die Erbsen nicht abends in kaltes Wasser kommen, ist irgendetwas mit ihnen los, ich weiß nur nicht mehr, was. Ich glaube, sie werden dann nicht ordentlich gar.«

»Was willst du denn, Lena?« rief Dodo erschrocken, als Lena Licht anzündete.

»Hinuntergehen, selbstverständlich; sonst gibt es morgen Schelte.«

»Dann gehe ich mit! Allein bleib' ich hier nicht,« erklärt Dodo.

Angetan mit ihren langen Wettermänteln, Lena das Licht in der Hand haltend, beide mit aufgelösten Haaren, so schlichen sie vorsichtig die Treppe hinunter.

»Mach nur keinen Lärm,« warnte Lena, als Dodo gegen das Geländer stieß. »Wenn Bernd gestört wird, schläft er die ganze Nacht nicht mehr, und dann setzt es morgen Schelte.«

»Ist die Tante sehr strenge?« forschte Dodo mit bangen Augen.

»Nun, das will ich nicht gerade sagen. Sie ist sogar sehr gut und ich habe sie lieb; aber man muß ihr aufs Wort gehorchen. Daher auch dieser nächtliche Spaziergang, weißt du.«

Sie waren an der Küchentür angelangt, die geräuschlos aufzuklinken Lena nach einigem Zagen glückte.

»Wenn ich jetzt die Unglückserbsen nur erst hätte,« sagte sie und ging in der Küche umher. »Tante sagte, sie habe sie mir hingestellt.«

Dodo steckte ihr Näschen in jede Schüssel, bis sie endlich triumphierend ausrief: »Hier sind sie; aber Lena, sie schwimmen schon.«

Lena machte kein besonders geistreiches Gesicht. »Wahrscheinlich hat es die Maus besorgt. Das hätte ich mir denken sollen.«

»Ja, das kommt davon, wenn man übergewissenhaft ist,« philosophierte Dodo.

Beide stiegen nun leise wieder die Treppe hinan. Aber wie auf Befehl standen sie plötzlich still und sahen einander erschrocken an. Von der Treppe, die zum Bodenraum führte, kam es »tapp – tapp« herab. Dodo, schreckensbleich, mit weitaufgerissenen Augen, umklammerte Lenas Arm und suchte hinter ihr Deckung. Auch Lena klopfte das Herz.

Da tauchte ein dunkler Schatten auf, fast hätte sie aufgeschrieen vor Freude. »Uboff – Dodo, es ist ja der Hund! Uboff, alter Geselle, was hast du denn noch im Hause umherzuschleichen?«

Das schöne Tier drängte sich schweifwedelnd an Lena und beschnupperte Dodo. Entsetzt quiekte diese auf.

»Aber, Dodo, so sei doch still; er tut dir nichts. Ruhig, Uboff, geh hinunter! Marsch!«

Das kluge Tier sah Lena schweifwedelnd an und trabte dann gehorsam die Treppe hinunter. Die Mädchen huschten lautlos wieder in ihr Zimmer. »Ich bin halbtot vor Angst,« stöhnte Dodo und sank auf den ersten Stuhl.

Lena lachte. »Wie du dich so gehaben kannst! Ich war doch bei dir. Uboff trabt jede Nacht einmal das ganze Haus ab, sonst schläft er vor Bernds Zimmertür. Nun mach aber, daß du ins Bett kommst, Dodo!«

»Bin ich froh, daß ich dich hier habe, Lena! Du bist mutig.«

»Schäme dich, ein solcher Hasenfuß zu sein! Du würdest schlecht nach Südwest passen.«

»Wohin?« fragte die andere staunend.

Aber Lena ließ sich nicht näher aus, und bald darauf verrieten ihre ruhigen Atemzüge, daß sie schlief. Da wußte Dodo nichts Besseres zu tun, als so schnell wie möglich ihrem Beispiele zu folgen.

»Gestern abend spät war Uboff einmal unruhig, habt ihr das auch gehört?« fragte Frau Winterfeld am nächsten Morgen beim Kaffee, der stets ohne Bernhard eingenommen wurde.

Lena und Dodo sahen einander an und brachen in ein fröhliches Lachen aus. Nun kam alles heraus. Frau Winterfeld schüttelte nur den Kopf, sonst kam Lena ohne Verweis davon.

»Liebe Tante, ob du mir meine Gedankenlosigkeit wohl noch abgewöhnst?« fragte sie kläglich.

»Nur, wenn du mir durch festen Willen hilfst, Lena.«

»Ach, wenn du wüßtest!« Lena seufzte so tief, daß die Mädchen lachten.

Die Hausfrau erteilte nun jeder einzelnen ihre Tagesarbeit, dann wurde aufgestanden.

»Und ich?« fragte Dodo. »Mir allein hast du gar nichts aufgetragen, Tante. Was soll ich tun?«

»Du bist so blaß und schmal, daß du dich vorläufig ein paar Tage ausruhen magst. Aber um eins möchte ich recht sehr bitten: Du störst nur die anderen nicht in ihrer Arbeit!«

»Gib mir lieber auch etwas zu tun, Tante! Das ist sicherer, sonst verfalle ich auf Dummheiten, ich kenne mich ja.«

»Da magst du recht haben. Also wische hier im Zimmer Staub! Hast du das schon einmal getan?«

»Noch nie im Leben! Meine wirtschaftlichen Talente müssen alle erst von dir ans Licht befördert werden. Bekommst du keinen Schreck vor einem solchen Dummerchen?«

Bild: Richard Gutschmidt

»Uboff, alter Geselle, was hast du denn noch im Hause umherzuschleichen?«

»Durchaus nicht! Ich bin nicht schreckhaft und weiß, daß du guten Willen hast.« Sie nahm Dodos Kopf in beide Hände, sah lächelnd in die glänzenden schwarzen Augen und beugte sich nieder, einen Kuß auf die weiße Stirn zu drücken. »So wollen wir denn in Gottes Namen unser erstes gemeinsames Tageswerk beginnen, Dorothee,« sagte sie herzlich.

Dodo war es recht feierlich zu Sinn, als ihr ein Staubtuch und ein Wedel in die Hände gedrückt und die Fenster geöffnet wurden. Während sie nun ihre erste Lehrstunde empfing und Klärchen zur Schule lief, besorgten die anderen drei ihre Zimmer, die sie selbst in Ordnung zu halten hatten. Alle beeilten sich sehr, um noch morgens recht viel Zeit für das Plätten zu erübrigen, »denn,« sagte Ilse, »je eher wir heute nachmittag fertig sind, desto früher sind wir frei und können vielleicht noch einen Spaziergang machen. Ich bin schon halb krank vor Sehnsucht nach einem ordentlichen Marsch.«

Auch Dodo bot ihre Hilfe an; aber nachdem sie noch ihre Sachen ausgepackt und eingeräumt hatte, war sie froh, als Tante Marie sie in den Garten schickte, sich auszuruhen.

Nachmittags wollte sie jedoch durchaus mittun. Nach vielem Betteln erhielt sie auch einen kleinen Stapel Taschentücher zum Plätten. Sie stellte sich dabei viel weniger ungeschickt an als Lena, die durchaus nicht begreifen wollte, daß nicht mal ein kleines unschuldiges Fältchen mit unterlaufen durfte.

»Sie stöhnt herzzerreißend,« sagte Ilse belustigt, während ihr die Arbeit förmlich von der Hand flog, und dabei tadellos wurde, wie Lena, immer von neuem seufzend, feststellte.

»Ein gräßliches Stück Arbeit,« klagte diese. »Ich begreife nicht, wie ihr so vergnügt sein könnt. So etwas Mühseliges habe ich in meinem Leben noch nicht getan. Da – schon wieder ein Kniff! Während man hier einen ausbügelt, entsteht da ein anderer. Der Himmel weiß, wie das kommt!«

Ein fröhliches Gelächter erklang, und die Tante nahm ihr das Eisen aus der Hand. »Du mußt nur ein bißchen aufmerken, liebe Lena. Gib mal Wasser her!«

Da kamen Klärchen und Lisi gesprungen.

»Mutter, wir sind mit unseren Schulaufgaben fertig, dürfen wir nicht ein bißchen helfen?«

»Gern! Ich will euch Wäsche in Körbe packen, die könnt ihr in die Schrankkammer tragen und dort auf den Tisch stapeln. Aber sorgsam damit umgehen, Lisi! Das möchte ich besonders dir anempfehlen.«

»Ja, Tante, ich passe gewiß auf,« versicherte Lisi und hüpfte vergnügt von einem Fuß auf den anderen; sie war immer vergnügt und machte sich nie Sorgen.

Mit Anspannung aller Kräfte gelang es, die Wäsche bis sechs Uhr zu bewältigen.

»Mutter, nun dürfen wir gehen, nicht wahr?« bat Ilse.

»Ja, aber nicht über die nächste Umgebung hinaus, das wißt ihr ja, Kinder. Sobald ich einmal Zeit habe, mache ich einen weiten Ausflug mit euch. Nehmt auch den Hund mit!«

Fröhlich begaben sich die sechs Mädchen auf den Weg, durchschritten das Viertel mit den neueren Villen und freuten sich der Blumen, die in allen Gärten, von den warmen Sonnenstrahlen gelockt, ihre Kelche dem siegenden Lichte öffneten, weit früher als sonst, wie die Schwestern behaupteten.

»Lena hat den Frühling mitgebracht. Seit sie bei uns ist, haben wir unausgesetzt gutes Wetter,« sagte Anna.

»Ich möchte jetzt auf den Annaberg,« erklärte Ilse. »Dort hinauf erlaubt uns Mutter ja glücklicherweise allein zu gehen. Komm, Uboff!« Sie eilte mit ihrem vierfüßigen Freunde voraus, einem bergan führenden Wege zu, die anderen flink hinterdrein.

»Du sollst nicht laufen, Ilse,« bat Anna, »und zu schnell steigen dürfen wir auch nicht, wegen Dodo. Sie sieht recht blaß aus.«

»Ich ängstige mich um Ruth. Papa hatte mir sicher eine Karte versprochen und ich habe noch keine bekommen.«

»Sie kann ja heute abend eintreffen,« tröstete Anna. »Vielleicht ist sie schon da, wenn wir zurückkommen.«

Dodo, die nicht lange traurig sein mochte, ließ sich gern trösten. Als man eine gewisse Höhe gewonnen und freien Ausblick hatte, freute auch sie sich des anmutigen Landschaftsbildes.

Zu ihren Füßen lag die eng zusammengedrängte Stadt mit Röschenrode und dem sich langhin erstreckenden Hassenrode inmitten reizender Gärten, die alle in frohem sprossendem Grün standen. In weitem Kranze reihten sich Berge mit ihren dunklen Tannen: dazwischen schoben sich Laubwaldungen, wie mit zarten, grünen Schleiern überhangen. Im Hintergrunde erhob sich der wild zerklüftete Kamm des Hochgebirges mit dem Brocken, schon von dem bläulichen Duft des Abends umhüllt. Durch das Tal floß von der einen Seite der Zillierbach, von der anderen die Holtemme rauschend und brausend. Im Hochsommer oft fast versiegend, führten die Bäche jetzt eine Wassermenge daher, die sie kaum bewältigen konnten, und trugen damit sehr zur Verschönerung der Landschaft bei.

Ilse, die als erste die Höhe erreichte, wandte sich plötzlich rasch um und lief den Weg zurück.

»Was hat sie nur?« fragte Lena und wollte ihr nach, Anna aber hielt sie auf.

»Laßt sie eine Weile allein,« bat sie. »Sie denkt an unseren lieben Vater und an die weiten Wanderungen, die sie oft allein mit ihm gemacht hat. Sie kennt keine Ermüdung und war ihm deshalb ein willkommener Wandergenosse. In den Ferien brachen sie oft schon früh morgens auf und kehrten erst nach Sonnenuntergang heim. Wie froh und angeregt waren dann beide, wieviel Schönes hatten sie gesehen, was viele gar nicht bemerken! Was alles wußten sie zu erzählen! Ja, die arme Ilse hat in jeder Beziehung viel mit unserem guten Vater verloren.«

Anna zuckten die Lippen. Sie wandte sich ab, die Tränen zu verbergen, die ihr heiß in die Augen stiegen.

Schweigend gingen die Mädchen den Weg zurück, sie waren aber schon weit hinuntergestiegen, als sie Ilse trafen. Sie schob ihren Arm unter den Lenas und begann, sich mit ihr zu unterhalten, sie war aber blasser als sonst und ein Schatten lag in ihren dunklen Augen. Die mühsam bekämpfte Sehnsucht nach dem geliebten Vater war wieder übermächtig in ihrem Herzen wach geworden.

So kehrten alle von dem fröhlich begonnenen Spaziergang in ernster Stimmung heim, jede hing ihren eigenen Gedanken nach.


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