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Kurz nach der Abreise des Bruders erhielt Lena wieder einen Brief aus Südwest; Erwin Holm schrieb:
»Den 26. Juni 1904.
Meine liebe Freundin!
Wir sind auf dem Weg nach Otjosondu, eine recht langweilige Reise. Wir würden mit der Truppenabteilung wohl zweimal so schnell unser Ziel erreichen, dürfen jedoch den Transport nicht schutzlos zurücklassen. Sobald die Feinde merken, daß ein solcher unterwegs ist, suchen sie ihn anzugreifen, um sich der Lebensmittel und des Schlachtviehs zu bemächtigen, das er mit sich führt. Also heißt es Geduld haben. Es ist ein mühseliger Marsch durch tiefen Sand, teils durch den Busch; der Pfad besteht meist nur aus Wagenspuren.
Gegen vierzig Ochsen ziehen den schwer beladenen Kapwagen und werden von dem Wagenführer mittels einer riesigen Peitsche, die an einem langen Bambusrohr sitzt, nicht eben sanft an ihre Pflicht gemahnt. Neben ihnen her laufen die sogenannten Tauleiter und Treiber, um die Tiere mit ohrenbetäubendem Geschrei zur Hergabe ihrer ganzen Kraft anzufeuern. Trotzdem muß manchmal alle halbe Stunde gehalten werden, um den Ochsen eine Ruhepause zu gönnen. Vor dem Zug her schreitet ein Herero, der uns treu ergeben ist, ein riesengroßer, schön gewachsener Mann, der den Boden nach verdächtigen Fußspuren prüft und mit Argusblicken das undurchdringlichste Dickicht durchspäht. Keine Spur entgeht ihm.
Es ist jetzt Abend. Wir müssen für einige Stunden rasten und unsere Abendmahlzeit zu uns nehmen. Der Marsch geht meist des Nachts vor sich, wegen der größeren Sicherheit, denn eigentümlicherweise greifen die Herero niemals in der Dunkelheit an. Während der größten Tageshitze ruhen wir. Wir lagern hier auf einer Buschsteppe. Links ist unsere Feldküche aufgeschlagen; lodernde Feuer verkünden, daß unsere Soldaten bereits in voller Tätigkeit für unser Nachtmahl sind.
Ich sehe der sinkenden Sonne gerade in das glühende Antlitz. Der ganze westliche Himmel ist in ein leuchtendes Farbenmeer getaucht, vom reinsten Gold bis zum tiefsten Violett. Ich muß immer wieder aufsehen und mich des schönen Schauspiels freuen. Nicht weit von mir sitzt Schwester Suse vom Roten Kreuz, die Hände gefaltet im Schoß, Andacht auf den milden und doch entschlossenen Zügen.
Ich bewundere diese junge Dame immer von neuem. Sie zeigt einen Mut, eine Unerschrockenheit, Umsicht und Willenskraft, die uns oft verblüfft und ihr unser aller Hochachtung einträgt. Ein guter, tapferer Kamerad ist sie uns, eine Trost und Frieden spendende Helferin für unsere Kranken. Im Lazarett war großer Jammer, als sie abkommandiert wurde.
Man ruft mich zum Essen. Nachher will ich vor unserem nächtlichen Marsch noch ein Stündchen ruhen.
»Den 27. Juni.
Heute hatten wir ein Erlebnis. Es war frühmorgens, als unser Führer plötzlich ein Zeichen gab. Sofort hielt unser Gespann. Das Geschrei der Ochsentreiber verstummte; die Soldaten nahmen Aufstellung zu einem etwaigen Kampf. Da verschwand unser Riese mit leise gleitenden Bewegungen im Dornbusch. Höchste Spannung hielt uns gefangen. Aus den Augen der Leute leuchtete die Lust nach einem kleinen Gefecht, als willkommene Abwechslung auf dem langweiligen Marsch.
Da erschien der Riese wieder, zeigte grinsend seine weißen Zähne und brachte uns in seinen Armen – ein Kind, einen halb verschmachteten kleinen Jungen von vielleicht zwei Jahren, den er bei einer toten Frau, jedenfalls der Mutter, gefunden hatte. Mit lautem Hallo wurde der schwarze Findling von der Mannschaft begrüßt und dann von Schwester Suse sofort liebreich in die Arme genommen. Sie ließ eine Ziege melken und flößte dem Kinde von der Milch ein. Anfangs konnte das Geschöpf keinen Tropfen durch die ausgedörrte Kehle bringen; dann trank es mit wahrer Gier. Wir alle fühlten uns tief bewegt. Was mochte das hilflose kleine Wesen gelitten haben! In Schwester Suses Augen sah ich Tränen glänzen; keine Mutter hätte ihr weißes, wohlgenährtes Kindchen zärtlicher ansehen können, als sie dieses elende schwarze Geschöpf. Glücklicherweise konnte ich feststellen, daß es außer völliger Erschöpfung gesund sei.
›Was soll nun damit geschehen?‹ fragte ich, obwohl ich ihre Antwort schon im voraus wußte.
›Ich behalte den Kleinen natürlich unter meiner Obhut, bis ich ihn später einer Missionsstation übergeben kann,‹ antwortete sie ohne Besinnen. Wir nannten das Bürschlein Nathanael, ein bei den Eingeborenen beliebter Name.
Wir hatten gehofft, heute eine der Wasserstellen, die auf unserem Wege liegen, zu erreichen, jedoch vergeblich. Waschen können wir uns nicht mehr; unser Wasservorrat reicht nur zum Kochen und zur Not für das Vieh.«
»Den 28. Juni.
Auch heute noch kein Wasser! Dazu scheint es im Dornbusch nicht recht sicher; es tauchten manchmal verdächtige Gestalten auf, die jedoch eilig entschlüpften, sobald unsere Leute sie verfolgten.«
»Den 29. Juni.
Gottlob, nach einer entsetzlich kalten Nacht erreichten wir heute kurz vor Sonnenaufgang endlich die Wasserstelle! Schnell wurde geschöpft, getrunken, abgekocht und sich an der Feuerstelle gewärmt, dann in den Mantel gewickelt und zum Schlaf hingelegt, Gewehr und Revolver zur Seite. Unser Findling, der kleine Nathanael, ist wohlauf und schon recht zutraulich, besonders gegen seine gütige Pflegemutter.«
»Den 10. Juli.
Heute in Otjosondu angekommen. Das kleine Lazarett ist überfüllt mit Typhuskranken und Verwundeten. Es sind zwei Arzte hier, völlig abgearbeitet und, wie mir scheint, selbst krank. Schwester Suse und ich haben uns sogleich an die Arbeit gemacht. Jetzt werde ich nur noch selten schreiben können.
Gegen Norden erhebt sich in der Ferne der Waterberg, ein breiter, massiver Felsriese, der fast senkrecht aus der Ebene aufsteigt. Dort soll sich die ganze feindliche Macht zusammengezogen haben. Unser Lager samt dem Lazarett ist dicht am Otjosonduberge aufgeschlagen. Wir liegen hier sehr günstig, da in der Gegend gutes Wasser sein soll, was für unsere Kranken von größter Wichtigkeit ist.«
»Den 14. Juli.
Der Typhus breitet sich leider immer mehr im Lager aus. Die Truppen sind abgerückt; bei uns ist nur eine geringe Bedeckung zurückgeblieben. Schwester Suse macht sich großartig; es ist, als ob sie keine Ermüdung kenne. Wenn ich sie zum Schlafen fortgeschickt habe, finde ich sie bald darauf an einer anderen Stelle wieder, immer geduldig, trostbereit, heiter und hoffnungsvoll.«
»Den 15. Juli. Morgens.
Ein Posten brachte die Meldung, daß in der Nähe geschossen wurde und eine Abteilung Herero sich dem Lager nähere. Einen Augenblick herrschte Bestürzung, dann ergriff unser Oberarzt das Kommando. Die Außenposten wurden verstärkt und sogar die Verwundeten bewaffnet, soweit sie noch eine Waffe halten konnten. Ich werde niemals den Anblick vergessen, wie Schwester Suse, den fröhlich spielenden Nathanael zu ihren Füßen, einen Revolver in der Hand, blaß, aber mit fest entschlossenem Ausdruck, neben dem Lager eines schwerkranken Offiziers stand, bereit, sein Leben bis zum äußersten zu verteidigen. Der Gedanke, daß unseren Verwundeten ein Ungemach zugefügt werden könnte, war mir so unerträglich, daß ich hinauseilte zu den Posten, bereit, jeden niederzuknallen, der es versuchen würde, in das Lager zu dringen.
Bange Minuten verstrichen. Mit Spannung harrten wir der Rückkehr der zwei Mann, die als Patrouille ausgeschickt waren. Warum kamen sie nicht? Waren sie den Feinden in die Hände gefallen? Zog dieser in solcher Übermacht heran, daß wir ihm nicht widerstehen konnten? Wie dem aber auch sein mochte, jeder von uns war bereit, sein Leben und das der Kranken so teuer wie möglich zu verkaufen.
Immer noch hörten wir Schüsse in der Ferne. Endlich kam der eine Mann von der Patrouille zurückgesprengt.
›Es sind Freunde,‹ rief er atemlos, ›deutsche Truppen, die ein kleines Gefecht mit den Herero hatten. Der Feind ist nur schwach, für uns ist keine Gefahr.‹
So schnell ich konnte, lief ich ins Lager, unsere Kranken zu beruhigen. Eine wahre Erlösung sprach aus Schwester Suses Zügen, als sie mir mit feucht schimmernden Augen die Waffe zurückgab. Nun die Gefahr vorüber war, begann sie zu zittern. Aber mit wunderbarer Selbstbeherrschung ging sie dennoch von Lager zu Lager, den erregten Kranken liebreich zuzusprechen und ihnen Stärkungsmittel zu reichen.«
»Den 20. Juli.
Der Typhus wütet weiter. Ein Arzt liegt bereits krank, der Oberarzt und ich leiden auch an Fieberanfällen; wir können aber unserer Arbeit nachgehen. Schwester Suse ist gesund. Es werden uns immer mehr Kranke und Verwundete gebracht.«
»Den 10. August.
Am Waterberg scheint es bald zur Entscheidung zu kommen. Ich kümmere mich jetzt merkwürdig wenig um den Stand der Dinge, komme kaum zur Besinnung vor Arbeit. Hätten wir Schwester Suse nicht, ich wüßte nicht, wie wir alles bewältigen sollten.«
»Den 11. August.
Heute traf ein Transport von der Küste ein; er brachte gottlob zwei weitere Arzte, einige Pfleger und – Ihren lieben Brief, Lena. Es war für mich der schönste Augenblick in Südwest, als ich ihn in der Hand hielt und Ihre Schriftzüge erkannte. Haben Sie Dank, liebe Freundin, für jede Zeile!«
»Den 12. August.
Mein Kopf ist seltsam schwer; ich fürchte, ich habe den Typhus. Schwester Suse drängt darauf, daß ich mich niederlege. Leben Sie wohl, liebe Lena! Herzlichen Dank für alles Gute und Schöne, das mit Ihnen in mein Leben getreten ist.
Ihr dankbarer
Erwin Holm.«
Es war ein köstlicher Herbsttag, an dem Lena jenen Brief erhielt und sich damit zu einem versteckten Plätzchen im Garten zurückzog, ihn in aller Stille zu lesen. Nun saß sie regungslos, die Briefbogen im Schoß, die Hände darüber gefaltet und blickte ins Weite. Sie sah nichts von den Sonnenstrahlen, die auf den gegenüberliegenden Bergen das herbstlich gefärbte Laub der Wälder in goldenen und purpurnen Lichtern aufflammen ließen; sie hörte nicht das fröhliche Zwitschern der Vögel, noch merkte sie, daß ein welkes Blatt ihr auf die Hände fiel. Ihre Gedanken weilten im fernen Lande bei einem schwerkranken Manne, über den sich das milde und doch charaktervolle Antlitz der Schwester Suse neigte. Es entging ihr auch völlig, daß Dodo leise heranschlich und mit neugierigen Augen durch die Büsche spähte, gleich darauf aber erschrocken davonlief.
Eine Weile später kam Frau Winterfeld, warf einen prüfenden Blick auf das blasse Mädchengesicht und setzte sich neben die Nichte.
»Lena,« begann sie und umfaßte mit ihren warmen Händen die kalten über dem Brief, »mein liebes Kind, hast du schlechte Nachrichten erhalten?«
»Er hat Typhus, Tante,« entgegnete Lena eintönig, »vielleicht –« Ein Zittern ging durch ihre Stimme; sie schwieg.
»Schreibt er das selbst, Kind?«
Sie nickte nur. Plötzlich aber schlang sie beide Arme um die Tante und rief betrübt: »Tante, nun ist er todkrank und ich habe so selten an ihn geschrieben! Bloß Schwester Suse ist bei ihm.«
»Als Pflegerin? Mein gutes Kind, du kannst ja dem Himmel nur dankbar sein, wenn dein Freund sich in guter Pflege befindet,« tröstete Frau Winterfeld. »Darf ich deinen Brief lesen? Ich möchte gern völlig klar sehen.«
Schweigend reichte ihr Lena die Blätter und starrte wieder in die Sonnenstrahlen, ohne sich ihrer zu freuen.
Als die Tante fertig war, sagte sie lebhaft: »Zum Verzweifeln liegt aber wirklich kein Grund vor, Lena! Der junge Mann scheint allerdings krank zu sein; stünde es jedoch ernst mit ihm, dann hätte Schwester Suse dem Brief, den doch sicherlich sie abschickte, wohl einige Zeilen beigefügt.«
»Ach, Tante, ich glaube weit eher, daß es ihm sehr schlecht geht, denn hätte er nicht bewußtlos gelegen, würde der Brief sicherlich einige beruhigende Worte von ihm selbst enthalten. Er hat schon gefühlt, wie schwer krank er wurde, sonst hätte er mir das überhaupt nicht geschrieben.«
»Ja, darin magst du recht haben, liebe Lena, aber die Krankheit muß doch einen günstigen Verlauf genommen haben, sonst hätte sein Name in der Liste gestanden.«
»Ich habe in den letzten Tagen keine in der Zeitung gefunden,« warf Lena traurig ein.
»Laß sehen, aus welcher Zeit stammen eigentlich die letzten Zeilen! Vom elften August, und jetzt schreiben wir den sechsundzwanzigsten September! Da kann er längst die Krankheit überwunden haben. Wenn Typhuskranke glücklich über den kritischen Tag hinweg sind, tritt in den meisten Fällen Besserung ein. Da sein Name nicht in den Listen zu finden war – ach, zeige doch einmal den Umschlag! Abgestempelt in Swakopmund den vierundzwanzigsten August. Also kannst du bald bessere Nachricht bekommen. Freilich, vier bis sechs Wochen wirst du Geduld haben müssen, die Post von dort trifft recht unregelmäßig ein. Verliere aber den Mut nicht und vergiß auch nicht, daß dein Freund allezeit in des Herrn Hut steht.« So und ähnlich sprach die Tante, bis es ihr gelang, das junge Herz wieder mit neuer Hoffnung zu erfüllen.
»Ich habe übrigens auch einen Brief erhalten und zwar von deiner Mutter, der besonders Ilse sehr erfreut hat. Mir war es nämlich in einer schlaflosen Nacht eingefallen, ob es nicht besser sei, wenn Ilse schon zu Michaelis nach Berlin ginge. Nun teilt uns deine liebe Mutter mit, daß eine Hospitantin jederzeit, falls ein Platz frei ist, in die Kunstgewerbeschule eintreten kann; auch ist sie und dein lieber Vater mit Freuden bereit, unsere Große jetzt schon aufzunehmen. Herrn Frankental, dem ich auch darüber schrieb, wäre es gleichfalls lieber, da er so bald wie möglich eine Entlastung Fräulein Brands wünscht. Ilse, die von diesen Unterhandlungen nichts wußte, ist aufs höchste überrascht und sehr glücklich. Wir haben nun freilich große Eile, da noch manches für sie genäht werden muß. Hoffentlich wird sie aufgenommen. Jetzt gehe ich hinein und sage den anderen von deinem Brief, damit dich niemand mit Fragen belästigt.«
Als Lena im Haus erschien, drückten die Mädchen ihr teilnehmend die Hände oder sagten ihr ein gutes Wort, aber keine stellte irgendeine Frage, obgleich das Dodo und Lisi sehr schwer fiel. Lena aber wünschte Ilse herzlich Glück und sprach ihre Freude aus, daß sie jetzt schon nach Berlin gehen könne.
»Ja, ich bin sehr glücklich,« rief Ilse lebhaft aus. »So wie die Sachen liegen, ist mir um die Aufnahme nicht bange, wenn sie auch des großen Andrangs halber ein bißchen schwer sein soll. Ich will mir schon ein Plätzchen erobern.«
»Sei nur nicht zu sicher,« warnte Mutter.
»Unserer Großen wird es schon gelingen, darauf kannst du dich verlassen, Mutter,« sagte Bernd lächelnd.
An diesem Abend erwachte zum erstenmal nach langer Zeit wieder Dodos Furchtsamkeit. Sie hatte samt der Schwester schon eine Weile gelegen und war gerade im Begriff einzuschlafen, als sie ein Geräusch hörte. Erschrocken fuhr sie in die Höhe und lauschte. Richtig, da hörte sie es wieder. Ängstlich rief sie nach der Schwester.
»Ja, ich habe es auch vernommen,« erwiderte Ruth. »Es kam vom Fenster her.«
»Wenn nun jemand auf unseren Balkon geklettert ist und einbrechen will?«
»Unsinn! Wie sollte wohl jemand hier heraufkommen!«
»Das geht sehr gut, wenn man von dem unteren Balkon aus heraufklettert,« beharrte Dodo. »Ich habe furchtbares Herzklopfen vor Angst. Du nicht auch?«
»Nein!« Weiter sagte Ruth nichts, denn sie hörte jetzt deutlich ein Geräusch vor ihrem Fenster.
»Ich schreie um Hilfe,« flüsterte Dodo zähneklappernd.
»Das darfst du schon Bernds wegen nicht,« erklärte Ruth, stieg aus dem Bett und warf hastig ihre Kleider über. Dodo folgte zitternd ihrem Beispiel.
»Wollen wir zur Tante hinuntergehen?« fragte sie flüsternd.
»Nein, erst mal zu Lena; von ihrem Fenster aus können wir auf den Balkon sehen. Der Mond scheint so hell, daß man draußen alles erkennt.«
»Ich ängstige mich halb tot,« flüsterte Dodo und hielt sich dicht hinter Ruth, als diese die Tür zu Lenas Zimmer öffnete.
»Lena,« rief sie gedämpft.
Keine Antwort. Leise traten beide zu dem Bett, die Schläferin zu wecken, es war jedoch leer.
»Ruth – wie schrecklich! Was fangen wir an?« jammerte Dodo.
»Still« – Ruth sah sich um – »da – das Fenster steht auf.« Sie ging hin und sah hinaus. »Da steht sie auf dem Balkon, gerade vor unserem Fenster. Komm!«
Sie kehrten in das eigene Zimmer zurück und schlossen die Balkontür auf, wozu sie anfänglich nicht den Mut besessen hatten.
»Lena, was geisterst du hier herum?« rief Dodo. »Halb tot gegrault habe ich mich.«
Mit einem abwesenden Blick in den Augen wandte Lena den Schwestern das hell vom Mondschein beschienene Gesicht zu.
»Es war mir unmöglich zu schlafen,« entgegnete sie. »Ich bekam eine seltsame Angst im Zimmer; da bin ich durch das Fenster auf den Balkon gestiegen und hier auf und ab gegangen. Daß ich euch stören könnte, habe ich nicht bedacht; nehmt es, bitte, nicht übel!«
»Lena – liebe Lena!« Sie wurde von beiden Seiten umfaßt. »Es ist ja sehr traurig, aber du sollst mal sehen, dein Freund wird gewiß wieder besser; es kann gar nicht anders sein,« sagte Dodo mit voller Überzeugung. Unzählige Fragen brannten ihr auf der Zunge, aber keine einzige kam über die Lippen. Es gehörte dazu eine große Überwindung, aber um nichts in der Welt hätte sie ihre Lena gequält.
»Ja, es ist aber sehr schwer,« sagte diese leise und Tränen rollten ihr plötzlich über die Wangen. Dodo zerfloß sofort aus Mitgefühl gleichfalls in Wehmut, aber ihre und Ruths warme Teilnahme tat Lena doch wohl.
Dann saßen alle drei, Lena in der Mitte, auf dem breiten Fensterbrett ihres Zimmers und sie berichtete ihnen eingehend von den erhaltenen Nachrichten.
»Wie interessant,« seufzte Dodo.
Als sie später mit der Schwester wieder in ihrem Zimmer war, sagte diese schwärmerisch: »Es muß schön sein, einen Freund zu haben, um den man so sorgt und zittert.«
»Das kannst du dir wünschen?« Dodo schlug die Hände verwundert zusammen.
»So etwas kannst du dir wünschen? Ich danke! Ich will lustig und vergnügt sein und mir nicht vorstellen müssen, daß ein guter Bekannter jeden Augenblick totgeschossen werden oder an einer gefährlichen Krankheit sterben kann.«
»Du bist eben sehr leichtsinnig,« tadelte Ruth.
»Ach, lieber Nück, du glaubst ja nicht, wie gemütlich ich mich fühle, daß ich nicht nachts herumzugeistern brauche, aus Angst um einen Freund. Die arme Lena; sie tut mir sehr leid!«
Ruth antwortete nicht. Sie lag dann gleich Lena noch lange wach.
Am nächsten Nachmittag ging Ilse zu Lena und fand sie eifrig schreibend. »Hast du das Klingeln gänzlich überhört, Flattergeist? Ich komme, dich zum Kaffee zu holen.«
Lena hob das gerötete Antlitz. »Ich habe nichts gehört, Ilse! Ich schreibe an Hans und an die Eltern; vielleicht fährt der Vater mal nach Zehlendorf. Es könnte doch sein, daß Erwins Onkel eine Nachricht erhalten hat.«
»Kaum eine andere als du, Lena,« gab Ilse zu bedenken und trat neben sie. »Hast du schon nach Südwest geschrieben?«
Lena schüttelte den Kopf.
Ein leichtes Lächeln flog Ilse um die Lippen. »Soll ich dir wieder helfen?«
»Ach – es ist so schwer für mich,« klagte Lena. »Zu schreiben wüßte ich genug, aber –« Sie schwieg und wandte das Gesicht ab.
Ilse fuhr herzlich fort: »Denke nur an den Kranken, der jetzt doch sicherlich in der Genesung ist und nach einem Brief von dir sich sehnt. Laß ihn nicht vergeblich warten.«
»Ja, du hast recht! Habe Dank! Nun will ich gleich an ihn schreiben.« Sie setzte sich und ihre Feder flog über das Papier.
Ilse lachte leise. »Und der Kaffee? Aber ich sehe schon, daß ich dir augenblicklich nicht mit so unwichtigen Dingen kommen darf. Schreibe also ruhig weiter; ich stelle dir den Kaffee warm, bis du fertig bist.« Sie zögerte noch einen Augenblick, als aber keine Antwort erfolgte und Lena mit ihren Gedanken sichtlich ganz und gar in Südwest war, ging sie hinaus und schloß die Tür leise hinter sich zu.
»Mutter,« sagte Anna am nächsten Tage, »möchtest du Ilse nicht selbst nach Berlin bringen? Es wäre für dich eine hübsche Abwechslung und du wüßtest dann gleich, ob Ilse Aufnahme in der Schule findet.«
»Das ist ein vorzüglicher Gedanke, Maus,« rief Bernd erfreut. »Hoffentlich entschließt du dich zu der Reise, Mutter.«
»Wie gern täte ich es, Kinder; ich kann doch aber meine Mädchen nicht nur unter eurer Obhut lassen.«
»O Tante, wir wollen sehr vernünftig sein und alles tun, was die Maus anordnet,« versprach Dodo.
»Ja, Tante, ich will gar nichts herumliegen lassen und ganz ordentlich sein,« verhieß auch Lisi.
»Mutti, fahr mit,« bat Klärchen. »Lisi und ich helfen der Maus; es sind dann ja Ferien.«
»Und mich wird die Maus los,« sagte Gertrud. »Wer außerdem mit mir nach Braunlage fahren mag, ist meiner Mutter herzlich willkommen; sie hat es mir gesagt.«
»Ja, Mutter, begleite mich,« bat Ilse. »Ich würde mich zu sehr freuen.«
»Und meine Eltern erst,« setzte Lena hinzu. »Tu es, Tante Marie; ich will während deiner Abwesenheit meine fünf Sinne krampfhaft zusammenhalten, daß ich nichts Dummes anstelle.«
So vereinigten alle ihre Bitten. Nur Ruth sagte wenig; sie beobachtete aber die von ihr besonders verehrte Frau unauffällig. Sie hatte das freudige Aufleuchten in ihren Augen gesehen und den leisen Seufzer der Entsagung vernommen.
»Es geht nicht, Kinder,« entgegnete Frau Winterfeld endlich. »Es ist sehr lieb von euch, mir zuzureden, aber es hieße doch, meine Pflichten gröblich verletzen, wollte ich euch allein lassen.«
Ruth lächelte still in sich hinein. Sie hatte sich nicht geirrt; die Tante blieb sich getreu und zeigte sich ihnen wieder als ein Vorbild der Selbstverleugnung.
Zwei Tage später schrieb Frau Frankental und bat, ihr die Töchter für die Herbstferien nach Hause zu schicken, damit sie auf vierzehn Tage mit ihr an die See gehen könnten. Dodo jubelte laut auf; die Hausfrau aber sah fragend Ruth an.
»Davon war ja bisher noch gar nicht die Rede. Ruth, steckst du vielleicht dahinter?«
»Mamas Reise ist mir auch eine Überraschung, aber sonst – sei nicht böse, liebe Tante, ich wollte dir gern zu der Reise verhelfen. Da bat ich Mama, uns nach Hause zu rufen.«
»Mein gutes Kind!«
»Tante,« unterbrach Gertrud sie, »ich nehme Lena mit. Meine Mutter hat nun Zeit, mit uns spazieren zu gehen, und unsere herrliche Luft wird dem Flattergeist gut tun.«
»Na, dann muß ich eben auch nach Hause,« rief Lisi vergnügt. »Der Vater sagte erst neulich, eigentlich könnte ich in den Ferien zu ihm kommen, damit er mal wieder ordentlich was von mir hätte, und Tante Dora will es auch gern. Ich hab' nichts davon gesagt, weil – weil es hier doch viel lustiger für mich ist als zu Hause, wo ich immer allein bin; aber nun gehe ich hin. Komm, Kläre, wir laufen gleich runter und sagen es. Wird der Vater sich freuen!«
»Aber Lisi –« Ehe Frau Winterfeld indessen zu einem Vorwurf kam, waren die Mädchen verschwunden.
»Mutter, jetzt fährst du mit nach Charlottenburg,« frohlockte Ilse.
»Was sagst du, Bernd?« fragte die Mutter ihren Sohn.
Er wandte den Blick, der in warmer Freude auf Ruth ruhte, langsam der Mutter zu. »Du reisest, Mutter,« entgegnete er, »die Maus wird schon mit Kläre und mir fertig werden; zu unserem Schutz genügt die alte Sophie mit Uboff vollkommen.«
So war dann der Mutter Reise eine beschlossene Sache. Es entwickelte sich eine rege Tätigkeit im Hause. Koffer wurden vom Boden geholt und gepackt, und am nächsten Tage fand ein allgemeines Abreisen statt. Der Mutter wurde es nicht leicht, sich von ihrem Jungen zu trennen; Bernd ging es jedoch jetzt viel besser. Er war so frisch und heiter und bat sie so herzlich, so lange wie möglich zu bleiben, sich keinerlei Sorge um ihn zu machen und den Aufenthalt bei den Verwandten ungetrübt zu genießen, daß sie es versprach.
»Ich schicke dir täglich eine Karte, wie es uns geht,« verhieß Anna, als sie auf dem Bahnhof Abschied nahm.
»Wie froh bin ich, Mutter, daß du mich nicht allein fortgeschickt hast,« rief Ilse aus, als der Zug sie davontrug.
»Ja, liebe Tochter, ich kann dir freilich den Weg nicht bahnen, wie dein Vater es getan hätte; mit ganzem Herzen aber und vollem Interesse kann ich bei dir sein und deshalb freut es mich, dich auf diesem Schritt in deine Zukunft hinein begleiten zu können.«
Ilse drückte ihr heftig die Hand. »Ich weiß, daß es schwer für dich ist, Mutter,« entgegnete sie, »und danke dir ganz besonders, daß du trotzdem mit mir gekommen bist. Mir wird dadurch alles viel leichter.«
Die Mutter hatte wieder ihr altes, sonniges Lächeln im lieben Angesicht. »Nur Mut, mein Kind! Wir wollen vorwärts blicken und auf eine nutzen- und segenbringende Zukunft hoffen.«
In Charlottenburg wurden Mutter und Tochter mit großer Freude empfangen. Die Schwestern, die sich seit des Malers Begräbnis nicht gesehen hatten, waren glücklich, sich einmal wieder aussprechen zu können. Über den jungen Holm wußte auch die Familie Giese nichts. Der Professor hatte in Zehlendorf nur erfahren, daß der alte Herr, Erwins Onkel, in Sizilien weilte. Hans hatte mit demselben Schiff wie Lena einen Brief von dem Freunde erhalten, in dem noch nichts von dessen Erkrankung stand; also hieß es, Geduld haben und weitere Nachrichten abwarten.
Ilse hatte nun noch acht Tage vor sich, Berlin zu genießen. Morgens gingen sie in Museen und Galerien, nachmittags wurden bei schönem Wetter Ausflüge in die Umgegend gemacht. So sehr Ilse aber auch für die Natur schwärmte, die Morgenstunden waren ihr doch noch wertvoller, besonders wenn der Onkel sie begleitete, der ein sehr kunstverständiger Führer war.
Dann kam endlich der Tag, an dem sie, ihre Mappe unter dem Arm, mit klopfendem Herzen die Schwelle der Kunstgewerbeschule überschritt. Eine Treppe hoch gewiesen, fand sie die Tür zu der betreffenden Klasse dermaßen umlagert, daß an ein Weiterkommen nicht zu denken war.
»Was geht hier vor?« fragte sie die ihr zunächststehende Dame.
Ein nicht mehr junges, energisches Antlitz wandte sich ihr zu. »Der Kampf ums Dasein,« lautete die Antwort. »Die Klasse ist besetzt; es soll niemand mehr aufgenommen werden.«
Ilse bekam einen großen Schrecken. »Ich muß aber Aufnahme finden, sonst geht mir eine gute Anstellung verloren.«
Interessiert blickte die Fremde sie an, ein leichtes, spöttisches Lächeln um die Lippen. »Irgendeinen triftigen Grund führen sie alle an, die, von Hoffnungen beseelt, hierhergekommen sind. Sehen Sie nur, die Zahl mehrt sich noch immer. Gegen dreißig schätze ich uns Zurückgewiesene.«
»Ich kehre nicht um, ehe ich nicht von dem Lehrer selbst gehört habe, daß ich keine Aufnahme finde,« erklärte Ilse bestimmt und suchte sich Bahn zu brechen.
Die andere faßte nach ihrer Hand. »Da es sich auch bei mir um Sein oder Nichtsein handelt, werde ich mir erstmals den Eingang ins Heiligtum zu erzwingen suchen,« sagte sie. »Kommen Sie; da rechts gelangen wir am schnellsten zum Ziele. Sie gestatten,« sagte sie zu den ihr Zunächststehenden und schritt mit einer Selbstverständlichkeit der Tür zu, daß man ihr und Ilse schnell Platz machte, in der Meinung, beide gehörten zu den bereits aufgenommenen Schülerinnen.
Nun öffnete sich ihnen die Pforte; sie standen in einem hellen, großen Raum. Ein älterer Herr trat ihnen entgegen.
»Sie wünschen, meine Damen?« fragte er höflich.
»Wir bitten um Aufnahme, Herr Professor,« entgegnete Ilses Führerin, »ich als Hospitantin.«
»Ich auch,« rief Ilse schnell.
»Bedaure sehr, meine Damen, die Klasse ist, wie Sie sich durch den Augenschein überzeugen können, bis auf den letzten Platz besetzt.«
Ilse empfand eine so tiefe Enttäuschung, daß ihr fast Tränen in die Augen stiegen. Sehnsüchtig lieh sie die Blicke umherstreifen und da –
»Herr Professor,« bat sie rasch mit einer Dringlichkeit, von der sie selbst nichts ahnte, »dürfen wir uns da rechts auf den kleinen niedrigen Schrank setzen?« Sie sah nicht die vielen Gesichter, die sich nach ihr umwandten; sie schaute nur dem Lehrer flehend in die Augen.
Er lächelte. »Wenn den Damen der Platz genügt,« antwortete er freundlich, »können Sie es ja versuchen; ich habe nichts dagegen.«
»Oh, tausend Dank, Herr Professor!« rief Ilse mit einem Feuer, das auf manchem Antlitz ein Lächeln hervorrief.
Gleich darauf saßen beide auf dem Schränkchen, stützten die Mappen auf ein paar davorgeschobene Stühle und lauschten dem Vortrage des Lehrers oder zeichneten nach der Vorlage kleine und große Blätter und Blüten der Eiche, ihre Staubgefäße und Stengel.
Viel zu schnell verflossen die beiden Stunden für Ilses Lernbegier. Mit glühenden Wangen und glänzenden Augen stand sie wieder auf der Straße. Mit einem kräftigen Händedruck verabschiedete sich ihre Gefährtin.
»Leben Sie wohl, Kollegin, auf Wiedersehen morgen!«
»Auf unserem Schränkchen,« rief Ilse lachend und ging über die Straße, denn dort warteten die Mutter und der Onkel auf sie.
»Bist du aufgenommen?« fragte die Mutter aufgeregt.
»Jedenfalls haben wir uns vorläufig einen Platz erobert, jene Dame dort und ich. Sie behauptet, in vier Wochen werde es erst entschieden, ob wir wirklich aufgenommen sind. Ehe du abreist, sollst du aber jedenfalls Gewißheit erhalten. Dann gehst du auch mit mir zu Professor Wagner, nicht wahr, Onkel?«
»Natürlich, mit Vergnügen,« versicherte Onkel Giese bereitwillig.
In ihrer ganzen Lebendigkeit erzählte Ilse daheim ihr kleines Erlebnis. Die »Schrankdame« nannten die Jungen sie, als sie hörten, welchen Platz sie sich erobert hatte.
Die Mutter war sehr glücklich, als sie sah, mit welcher Freudigkeit Ilse jeden Nachmittag in den Unterricht ging. Ihre Studienblätter mehrten sich; fast täglich kam ein neues Blatt hinzu. Was nicht während des Unterrichts fertig wurde, vollendete sie daheim. Bald durfte sie mit Stilisierübungen beginnen.
»Nun ist das Musterentwerfen nicht mehr weit, Mutter,« rief sie froh, als sie eines Tages heimkam. »Du glaubst gar nicht, was für entzückende Sachen da gezeichnet werden und wie dankbar ich dem Vater bin, daß er mich so gut vorgebildet hat. Mir fällt es dadurch viel leichter als zum Beispiel meiner Schränkchenkollegin.«
»Das freut mich von Herzen! Aber hoffentlich wirst du aufgenommen und nicht nach Verlauf der vier Wochen doch noch zurückgewiesen.«
Ilse tat zwar sehr sicher, im Grunde aber bangte sie sehr, wie es werden mochte. Als darum am folgenden Nachmittag der Professor zum Unterricht in die Klasse trat, faßte sie sich ein Herz und ging zu ihm.
»Entschuldigen Sie, Herr Professor,« bat sie, »ich möchte nur wissen, ob Fräulein Becker und ich angenommen sind oder ob wir noch zurückgewiesen werden können.«
Ein belustigtes Lächeln flog dem Herrn über das bärtige Antlitz. »Nachdem Sie sich so tapfer einen Platz erobert haben? Nein, Fräulein Winterfeld, Sie und Fräulein Becker zählen zu meinen Schülerinnen.«
Strahlend sah sie zu ihm auf. »Ich danke Ihnen, Herr Professor! Ich werde mich bemühen, eine gute Schülerin zu sein.«
»Ich darf von Ihnen, wenn mich nicht alles täuscht, noch mehr erwarten,« entgegnete er gütig.
»Mir ist ganz wirbelig vor Freude,« flüsterte Ilse ihrer Gefährtin zu, als sie wieder neben ihr auf dem Schränkchen saß.
»Sie sind ein tüchtiges Menschenkind; aus Ihnen wird noch etwas! Der Professor hat ganz recht,« entgegnete Fräulein Becker anerkennend.
Nach dem Unterricht gingen beide auf der Straße noch etwas auf und ab, ehe sie sich trennten. Ilse teilte der Genossin ausführlich mit, welche Aussichten sich ihr für die Zukunft eröffneten.
»Sie Glückliche,« entgegnete das ältere Mädchen seufzend, »mir fällt das Glück nicht so in den Schoß; ich muß mir erst mühsam einen Platz erobern. Nach dem plötzlichen Tode meines Vaters befanden sich unsere Verhältnisse infolge eines Bankkrachs in einer so traurigen Verfassung, daß ich mich entschlossen habe, schnell mein kleines Talent auszubilden, um es zu ermöglichen, meiner Mutter das Leben wieder lebenswert zu machen. Ich will später Tapetenmuster entwerfen; man soll dabei gut verdienen. Dann könnte ich auch bei meiner Mutter bleiben, sie hegen und pflegen.« Eine so warme Liebe sprach aus ihrem blassen, unschönen Antlitz, daß Ilse ihr die Hand drückte.
»Sie werden sicher Ihr schönes Ziel erreichen,« sagte sie herzlich. »Talent haben Sie, Ausdauer und Willenskraft auch. Nun mit Gott voran, liebes Fräulein Becker!«
Die Mädchen schüttelten sich kräftig die Hände, dann eilten beide heim.
Beruhigt konnte Frau Winterfeld am nächsten Tage abreisen und den Kindern daheim die gute Nachricht bringen. Aber auch Bernd wußte Gutes zu berichten. Der Heidelberger Kunsthändler hatte ihm seine Studienblätter zurückgeschickt mit der Aufforderung, Entwürfe für Oster- und Pfingstkarten zu malen.
»Ich gratuliere dir!« Die Mutter beugte sich nieder, dem Sohne die Stirn zu küssen. »Ich freue mich sehr des Glückes. Eures Vaters Segen und Gottes Güte sind so sichtlich mit euch, daß wir nicht dankbar genug sein können. Aber Berni, jetzt nur die Arbeit nicht übertreiben, damit du mir nicht schwach wirst! Du arbeitest ja nicht ums tägliche Brot.«
»Überlaß das nur mir, liebe Mutter. Glaube mir, der Gedanke, mich wenigstens teilweise selbst erhalten zu können, wird mir ein köstliches Gefühl von Kraft und Befriedigung geben.«
»Ich möchte dir das auch keineswegs nehmen, Bernd, nur vor Überanstrengung will ich dich bewahren.«
»Ich verspreche dir, die Arbeit ruhen zu lassen, sobald ich mal einen schlechten Tag habe. Bist du nun zufrieden?«
»Vollkommen, mein Junge. O Kinder, wie schön ist es doch wieder daheim bei euch! Nur unsere Große werden wir alle sehr entbehren; sie war ein besonders belebendes Element im Hause. Aber die Freude über ihren so gut begonnenen Studiengang muß alles überwiegen.«
»Mutter, die Reise hat dich erfrischt und angeregt,« bemerkte Anna erfreut.
»Ja, gute Maus, ich bin froh und dankbar, daß die Zukunft meines Vögelchens, das zuerst das Nest verlassen hat, nach menschlichem Ermessen gesichert ist. Dazu kommt, daß ich das nun auch von Bernd hoffen kann.«
»Mit dem Unterschiede, daß du diesen Vogel im Neste wohl oder übel behalten mußt,« sagte Bernd scherzend; die Seinen hörten jedoch den wehmütigen Unterton, womit er das sagte, sehr wohl heraus.
Klärchen umfaßte ihn zärtlich. »Ohne dich könnten wir auch gar nicht fertig werden,« versicherte sie. »Ohne dich wäre unser Nest nur halb so schön, nicht, Mutter?«
Bernd schwieg. Auf seinen feinen Zügen lag eine tiefe Bewegung und aus seinen dunklen Augen leuchtete ein stilles, reines Glück. Es war ein schöner Abend, den Mutter und Kinder unter sich verleben durften.
Am nächsten Tage rückten die jungen Mädchen wieder ein und brachten frisches Leben mit sich. Nur Lena war blaß und nicht so lebhaft wie sonst; aber sie trug ihren Kummer in einer Weise, daß sie niemand damit lästig fiel. Die Tante sorgte auch dafür, daß gerade sie immer Arbeit fand und abends müde genug war, um gleich einzuschlafen. Es wurden noch Früchte eingekocht, Äpfel, Birnen und Pflaumen gedörrt, eine große Wäsche gehalten und das ganze Haus reingemacht.
Darüber verging die Zeit. Vier Wochen waren bereits verstrichen, seit Lena den Brief mit der Schreckenskunde von des Freundes Erkrankung empfangen hatte. Hans schickte ihr jedesmal Nachricht, sobald er eine Liste mit den Toten und Verwundeten las und Erwins Namen nicht darin fand. Immer mehr wuchs ihre Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang seiner Krankheit und zauberte wieder einigen Glanz in ihre Augen.
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam da plötzlich in den Zeitungen die Nachricht von dem Aufstande der Hottentotten und versetzte Lena in neue Aufregung. Die Verwandten begriffen sie nicht.
»Ich weiß,« beharrte sie völlig niedergeschlagen, »sobald er sich nur wieder rühren kann, geht er mit nach dem Süden.« Sie hatte gehofft, er würde, wie mancher andere Genesene, zur völligen Kräftigung in die Heimat zurückkehren; nun zog er sicher in den zweiten Krieg und mit ihm Schwester Suse, von der er so begeistert schrieb. Unter vielen Tränen weinte sie sich an diesem Abend in den Schlaf.
Einige Tage später saß sie neben Bernd auf dem Balkon, mit einer Stickerei beschäftigt, während er emsig malte. Die Tante hatte den sonnigen Tag benutzt, mit den anderen sechs Mädchen einen größeren Spaziergang zu machen. Nur Lena hatte es vorgezogen, daheim zu bleiben.
Da klirrte die Gitterpforte. Beide hoben den Kopf und sahen den Briefträger eintreten.
»Bernd – jetzt kommt eine schlechte Nachricht,« rief Lena erschrocken, »ich fühle es.«
Bernd antwortete nicht. Auch ihm wurde unbehaglich zu Sinn. Lena war nicht imstande, wie sonst dem Briefträger entgegenzulaufen; in angstvoller Spannung harrten beide. Da ging die Stubentür auf, Sophie kam auf den Balkon.
»An Fräulein Lena,« sagte sie vergnügt und fügte wichtig hinzu: »Ein ausländischer!«
Lena erhob sich, aber kaum hatte sie einen Blick auf die Aufschrift geworfen, sank sie auf den Stuhl zurück. »Bernd – die Aufschrift ist von ihr – von Schwester Suse! Die teilt mir mit, daß er – tot ist!«
»Das kannst du doch nicht wissen, liebe Lena,« tröstete Bernd, nahm ihr den Brief aus der zitternden Hand und öffnete den Umschlag. »Da, lies,« mahnte er teilnahmsvoll. »Mach der Pein ein schnelles Ende! Der Brief kann ja auch Gutes bringen.«
Lena flimmerte es vor den Augen; sie konnte die Buchstaben kaum erkennen.
»Bernd – er lebt – er ist außer Gefahr,« jubelte sie aber, sobald sie die ersten Zeilen überflogen hatte.
Er streichelte ihr lächelnd die Hand.
»Ja, Lena, Gottes Güte ist groß, wir sollen niemals irre daran werden,« entgegnete der junge Mann ernst.
Ein verträumter Ausdruck lag um seine Lippen, als die Cousine ihm den Brief vorlas.
»Feldlazarett Otjosondu, 3. September 1904.
Liebes Fräulein Giese!
Auf Herrn Doktor Holms Wunsch richte ich heute einige Zeilen an Sie. Vor allem anderen die Mitteilung, daß unser lieber Kranker außer aller Gefahr ist. Er lag zwei Wochen in heftigstem Fieber und war in seinen Phantasien meistens daheim. Seit einigen Tagen ist er bei klarem Bewußtsein und hat soeben Briefe aus der Heimat erhalten, darunter auch einen von Ihnen, der ihm sehr große Freude bereitete.
Zu seinem Schreck hat mein Pflegling – der es mir augenblicklich gar nicht leicht macht, da seine Energie zeitweise wieder erwachen will – entdecken müssen, daß sein letzter Brief durch den Burschen mit der inzwischen abgegangenen Feldpost an Sie gesandt worden ist. Der Herr Doktor hatte das Schreiben, mit Umschlag und Adresse versehen, in seine Brieftasche gelegt, aber ungeschlossen, um am nächsten Tags noch etwas hinzuzufügen. Da hat sein braver Bursche, der dies zufällig sah, es dann für seine Pflicht gehalten, den Brief zu schließen und fortzuschicken. In welch unnötiger Sorge mögen Sie gewesen sein!
Heute geht ein Transport halb genesener Kranker nach Okahandja zurück; da ist die Gelegenheit günstig, unsere Korrespondenz mitzugeben. Bitte, richten Sie Ihre Antwort bis auf weiteres auch dahin; ich denke, meinen Pflegling mit dem nächsten Transport gleichfalls nach dem dortigen Lazarett schicken zu können. Doktor Holm will freilich nichts davon wissen; er läßt Ihnen sagen, er hoffe, sobald er sich halbwegs kräftig fühle, seine Arbeit wieder aufzunehmen. Unsere Baracken sind auch überfüllt; aber es hat noch gute Weile, bis unser Doktor wieder tätig sein kann.
Während ich schreibe, sitzt mein kleiner Nathanael bei ihm auf dem Bette, ihn zu belustigen. Daraus schon sehen Sie, daß es unserem lieben Doktor nach Wunsch geht. Schreiben wollte ich ihn aber heute noch nicht lassen, das würde ihn zu sehr anstrengen. Das nächste Mal also!
Herzliche Grüße soll ich Ihnen und den lieben Ihren bestellen und vielen Dank für Ihren Brief. Und nun keine Sorgen mehr um den Kranken, liebes Fräulein Giese; er ist wohl matt und schwach, aber auf dem besten Wege zur Genesung. Wir alle sind glücklich und danken Gott, der uns den von uns allen hochgeschätzten tüchtigen Arzt und treuen Kameraden erhalten hat.
Ich grüße Sie herzlich!
Schwester Suse Wieland.«