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Der Bund der Trautheimer

Am Dienstag morgen schien die Sonne hell in die Fenster der Villa Trautheim. Im Garten sangen die Vögel ihre frohen Frühlingslieder. Emsige Liebe war geschäftig, dem Kranken im Wohnzimmer den Geburtstagstisch sinnig herzurichten mit vielen Blumen, einem naturgeschichtlichen Werk und einer Sammlung Kunstblätter von Schwind, für den Bernd besonders schwärmte. Die jungen Mädchen fügten noch Süßigkeiten und blühende Topfgewächse, die Schwestern kleine Handarbeiten hinzu. Auf den Zehen bewegten sie sich hin und her, um den Kranken, dessen Zimmer nebenan lag, nicht zu stören.

Da ertönte seine Klingel, viel früher als sonst. Schnell ging die Mutter zu ihrem Sohn.

»Ist dir nicht wohl, Berni?« fragte sie unruhig.

»Doch, liebe Mutter, besonders wohl sogar, da ich sehr gut geschlafen habe. Bitte, laß mir die Sonne herein!«

Die Vorhänge glitten zurück, die Sonnenstrahlen fluteten ungehindert in das hohe, luftige Gemach. Ein Lächeln flog dem Kranken über das blasse Gesicht.

»Es wird ein schöner Tag heute, das freut mich für die Mädchen,« sagte er. »Ich soll ja am Nachmittag im Garten mit ihnen Kaffee trinken.«

»Wenn du dich wohl fühlst, Bernd. Doch nun, mein geliebter Sohn, nimm meine innigsten Segenswünsche! Der Herr gebe dir auch ferner Kraft, dein Leiden mit so vieler Geduld zu tragen, wie bisher.«

»Rühme mich nicht, Mutter! Laß es mich aussprechen, wie dankbar ich dir und unserem lieben Vater bin, daß ihr mich lehrtet, mein Leiden aus des Schöpfers Hand zu nehmen und auch darin seine Liebe zu erkennen. Was wäre wohl aus mir geworden, wenn ihr mich nicht auf den Sonnenschein, der auch auf meinen stillen Lebensweg fällt, aufmerksam gemacht und mir gezeigt hättet, wieviel des Schönen, Großen und Herrlichen es gibt, das auch ich genießen darf? Meine liebe Mutter, ich möchte dir heute von Herzen für alles Gute danken, das mir durch dich geworden ist.«

In tiefer Bewegung preßte Frau Winterfeld seine Hand. »Und ich danke Gott, der dich mir gegeben hat, mein lieber Sohn. Trotz deiner Jugend bist du mir doch schon eine treue Hilfe und Stütze geworden.«

Ein strahlendes Lächeln verklärte des Kranken Antlitz. »Wirklich, Mutter?« fragte er schnell.

»Wirklich, Bernd! Du bist mir weit mehr, als sonst ein Sohn in deinem Alter seiner Mutter sein kann. Dafür danke ich dir von Herzen.« Sie küßte ihn innig und war ihm dann behilflich, aufzustehen und sich anzukleiden.

Mit Jubel wurde er begrüßt, als die Mutter seinen Stuhl ins Wohnzimmer schob; mit herzlicher Freude nahm er seine Geschenke in Empfang. Klärchen war betrübt, daß sie zur Schule mußte, die Großen durften die gemütliche Kaffeestunde etwas länger ausdehnen als sonst. Dann aber forderte die gewöhnliche Morgenarbeit ihre Rechte. Bernd wurde mit seinen Geschenken auf den Balkon geschoben. Später kam die Post und brachte ihm Briefe und Karten, von Lenas Eltern eine Torte und einen Band kurzer Biographien moderner Meister.

An dieser Sendung nahm Lena lebhaften Anteil, da das Paket auch Briefe für sie enthielt und – o Wonne! – endlich die Nachricht, daß das Schiff, mit dem Erwin gereist war, in Swakopmund angekommen sei. Also erreicht hatte er das unheimliche Land, in dem die Sonne brannte, das Wasser knapp war und ein grimmiger Feind seiner wartete. Lena hatte sich bisher keine besondere Sorge um den Freund gemacht, aber nun befiel sie plötzlich eine seltsame Angst.

»Fehlt dir etwas?« fragte die Tante, als Lena auf eine Frage keine Antwort gab, sondern versonnen ins Weite schaute.

»Tante, er ist nun in Afrika,« sagte sie langsam.

»Vergiß nicht, liebes Kind, daß er auch dort allzeit im Schutz Gottes steht,« entgegnete die Tante herzlich.

»Es sind schon viele Offiziere gefallen und viele Ärzte am Typhus gestorben,« fuhr Lena mit zuckenden Lippen fort.

»Der Herr kann ihn vor Krankheit schützen und gesund zurückführen, Lena. Gib dich nicht schweren Gedanken hin, damit wäre der junge Arzt gewiß nicht zufrieden. Meinst du nicht auch?«

Lena nickte.

»Den Kopf hoch, Töchterlein, dem gütigen Schöpfer vertrauen und den Freund in seinen Schutz stellen! Das macht das Herz leicht und froh und gibt freudige Zuversicht. Doch nun frisch an die Arbeit, mit allen Gedanken, Lena; heute darf nichts mißraten!«

»Tante, ich will mich gewiß zusammennehmen. Aber nicht wahr, so sehr in Gefahr wie ein Offizier ist ein Arzt nicht?«

»Bewahre, Kind, sie geraten nur selten mitten ins Gefecht.«

»Ach, ich bin sehr froh, daß du mit mir gesprochen hast. Ich bekam schreckliche Angst, aber du kannst schön Mut machen und trösten, Tante.«

»Das freut mich, Töchterchen. Bist du also mal wieder trostbedürftig, wende dich nur wieder an mich; ich bin jederzeit bereit.«

»In drei Wochen kann ich nun Nachricht von Erwins Hand haben. Wie langsam das doch geht und wie viele Geduld dazu gehört!«

»Die kann man nie zu viel haben im Leben und nun, Lena –«

»Ja, ja, Tante, ich fliege in die Küche!« Sie eilte aus dem Zimmer.

Nachmittags kam Gertrud. Im Garten vor dem Balkon, wo Schatten herrschte, war der Kaffeetisch gedeckt und mit einem Feldblumenstrauß geschmückt. Klärchen und Lisi waren sehr stolz, daß Bernd diesen Wunsch geäußert hatte. Er sah heute wohler aus als sonst und fühlte sich auch frischer. Der Gedanke, daß sein Leben nicht unnütz war und er trotz seiner Hilflosigkeit der Mutter und den Schwestern eine Stütze sein konnte, machte ihn dankbar und glücklich.

»Wollt ihr jetzt nicht spazieren gehen?« fragte er nach dem Kaffee.

»O nein, heute bleiben wir hier und schließen unseren Bund,« erwiderte Ilse. »Du, Berni, wirst unser Präses.«

Lebhaft stimmten alle zu, und sie ging, Papier und Schreibzeug zu holen.

»Wird es dir auch nicht zu viel, mein lieber Junge?« fragte die Mutter besorgt.

»O nein, Mutter, es macht mir sogar viel Freude,« entgegnete er mit glänzenden Augen.

»Da kann ich also eine Stunde lang fortgehen? Ich möchte mich mal nach Lisis Mutter umsehen.«

»Ei, da wird sie sich aber freuen,« rief Lisi vergnügt.

Frau Winterfeld strich der Kleinen über das Haar und ging, sich anzukleiden. Als sie bald darauf durch den Garten schritt, war die große Beratung bereits in vollem Gange. Ilse erklärte Gertrud und den beiden Jüngsten, um was es sich handelte.

»Wir wollen uns zusammenschließen,« begann sie, »um uns untereinander zu helfen, recht gute und brauchbare Menschen zu werden.«

»Ja, wie fängt man das an?« fragte Klärchen.

Ilse stampfte ungeduldig mit einem Fuße. »Ich hab's ja gleich gesagt, daß die Kinder ausgeschlossen werden müßten,« sagte sie heftig. »Was wissen die von hohen Zielen!«

»Ilse,« bat Bernd mahnend.

»O nein, bitte, laßt uns dabei sein,« rief Klärchen. »Wir möchten doch auch gut werden, nicht, Lisi?«

»Erst will ich wissen, was ich da alles tun soll,« erwiderte diese vorsichtig.

Dodo lachte. »Das sage ich mit dir, Dickchen, denn eigentlich bin ich nicht klüger als du. Nimm es nicht übel, Ilse, aber du mußt es uns etwas näher erklären, wie du dir das alles denkst!«

»Ach, wie könnt ihr nur so beschränkt sein,« rief Ilse, förmlich zitternd vor Ungeduld.

»Wartet, ich will es euch sagen,« fiel Lena ein und stand auf. »Ich weiß noch alles, was Erwin damals sagte, als ob es gestern gewesen wäre. Wir wollen uns bemühen, mit Ernst unsere Fehler zu bekämpfen – ein jeder seine besonderen – damit wir wachsen im Guten, das heißt in Geduld, Liebe, Güte, Nachsicht, Freundlichkeit und Gerechtigkeit. Aus eigener Kraft können wir das nicht, wir brauchen dazu Gottes Segen und Hilfe. Darum laßt uns ihn bitten, jeden Tag aufs neue, und niemals darin müde werden! In ihm zu leben und zu bleiben, laßt allezeit unser Streben sein. Dazu gehört ferner selbstlose Liebe zu unserem Nächsten, Mildtätigkeit und Erbarmen für Schwache, Kranke und Hilflose. Und dann noch eins, das unserem Leben not tut, wie der Tau der Blume: die Freude an allem Großen und Schönen. Ich meine damit das wirklich Gute und Erhabene, das die Seelen erquickt und erhebt und neue Spannkraft und Frische für die Werktagsarbeit gibt. Liebt das Gute und werdet stark und tüchtig, damit ihr zum Segen eurer Nächsten und unseres geliebten Vaterlandes als ganze Menschen schaffen und wirken könnt, ein jeder nach seinem Vermögen und in seinen Grenzen, auch wenn sie ihm eng gezogen sein sollten! Dazu helfe uns allen der Vater im Himmel!«

Lena setzte sich, erregt und doch froh, daß sie alle Worte Erwin Holms so gut behalten hatte.

Es herrschte tiefe Stille nach dieser Rede. Ilse stand plötzlich auf, drückte Lena die Hand und ging dann im Garten auf und nieder. Lisi seufzte tief.

»Ach,« rief sie aus Herzensgrunde, »ein Mensch, der so viel kann, werde ich nie.«

»Ich auch nicht, Dickchen,« stimmte Dodo ihr kläglich bei. »Was Nück wohl sagt, wenn ich ihr schreibe, was hier in aller Geschwindigkeit aus ihrem Neck gemacht werden soll?«

»Ist das Spott?« fragte Lena und erhob sich mit blitzenden Augen.

»Lena,« erinnerte Bernd sanft, »zwei der Tugenden, die du genannt hast, heißen Nachsicht und Geduld.«

Lena wurde rot und setzte sich wieder.

»Man darf doch aber nicht verspotten lassen, was einem von Herzen wert und teuer ist,« sagte sie kampflustig. »Das werde ich nie und nimmer zugeben!«

Dodo war hinter ihren Stuhl getreten und umfaßte sie. »Liebe Lena, beruhige dich,« schmeichelte sie. »Ich wollte gewiß nicht spotten; ich fühle mich nur als ein winzig kleines Menschlein und noch meilenweit entfernt von der ersten Stufe zu der von dir geschilderten Vollkommenheit, daß ich nichts Besseres weiß, als mich in deinen Schutz zu begeben.«

»Da kommst du gerade an die rechte! Geh zu Bernd, der ist von uns allen am weitesten!«

Inzwischen erzählte Anna Gertrud von Lenas Bruder Hans und von dessen Freund Erwin Holm; dann kam Ilse wieder und setzte sich.

»Wir wollen aufschreiben, was du vorhin gesagt hast, Lena,« schlug sie vor, »und es uns, wenn wir versammelt sind, öfter verlesen, damit wir nicht lässig werden. Seid ihr alle willens, in den Bund einzutreten und euch zu bemühen, gute, wackere Menschen zu werden?«

Ein einstimmiges »Ja« erscholl.

»Dann will ich alle Namen aufschreiben,« fuhr sie fort und zog einen Bogen Papier hervor. »Ja – wie nennen wir aber unseren Bund?«

Die Mädchen sahen einander ratlos an.

»Laßt ihn uns nach unserem geliebten Trautheim nennen, das wir des Vaters Liebe verdanken,« schlug Bernd vor. »Wie gefällt euch: der Bund der Trautheimer?«

Alle waren einverstanden, und Anna sagte herzlich zu Gertrud: »Hoffentlich wird auch dir unser Trautheim ein rechtes Heim.«

»Das wird mir nicht schwer fallen. Ich fühle mich so glücklich in eurem Kreise, daß ich es nicht aussprechen kann. Ich danke euch von ganzem Herzen, daß ihr mich in euren schönen Bund mit aufnehmt. Aber wollen wir uns nicht noch ein Geleitwort wählen, an das wir immer denken können, wenn uns etwas recht schwer fällt?«

»Das ist ein guter Gedanke –«

»Ja – aber was nur?«

Auffordernd sahen alle Bernd an, als könne er allein die Frage lösen.

Eine leichte Röte flog ihm über das Antlitz. »Ich weiß ein köstliches Wort, das mir in all den letzten Jahren Trost und Hilfe bot,« entgegnete er bewegt. »Wenn unser guter Vater des Morgens in mein Zimmer kam und mich verzagt und elend fand, dann drückte er mir kräftig die Hand und sagte in seiner herzlichen Weise: ›Nur immer mit Gott voran, mein alter Junge!‹ Dies Wort: ›Mit Gott voran!‹ möchte ich weitergeben an euch.«

»Wie lieb von dir, Berni,« sagte Anna leise. Ilse aber drückte ihm mit feuchten Augen die Hand, dann schrieb sie das Geleitwort nieder.

»Können wir jetzt gehen?« fragte Klärchen, von Lisi heimlich bearbeitet.

»Meinetwegen,« entgegnete Ilse kurz.

Geschwind fuhren beide in die Höhe und liefen davon; sie wollten ihre Hüte holen und ausgehen.

»Wir haben etwas zu besorgen, Anna, Mutter hat es erlaubt,« rief Klärchen herüber, als sie mit Lisi Hand in Hand den Weg hinunter aus dem Garten hüpfte.

»Ein greuliches Gör, diese Lisi Lehmann,« brach nun Ilse los. »Ich begreife nicht, daß Mutter den Verkehr so begünstigt. Ein Mädchen, das rein gar keine Ideale kennt, paßt doch nicht zu unserer Kläre. Mir tut es bloß leid, daß wir sie in unseren Bund ausgenommen haben. Es ist, als ob wir –«

»Ilse –« riefen alle wie aus einem Munde.

»Wir wollen nicht hart urteilen,« sagte Bernd. »Wer kann wissen, was in Lisis Seele alles schlummert!«

»Und wir dürfen uns nicht überheben,« setzte Anna hinzu.

»Mir macht das Mädel den Eindruck eines urgesunden Menschleins,« erklärte Gertrud. »Mir gefällt sie.«

»Wirklich?« fragte Ilse verwundert. »Na ja, du warst immer der reine Kindernarr. Das garstigste Gör würdest du noch reizend finden.«

»Etwas Gutes und Liebenswertes wohnt in jedem Kinde,« entgegnete Gertrud warm, »und wenn es noch so vernachlässigt wäre. Ich habe sie alle lieb, ohne Ausnahme.«

»Du wärst das Ideal einer Lehrerin,« rief Dodo heiter. »Werden die Kinder bei dir mal Unsinn treiben dürfen!«

Ein sonniges Lächeln flog Gertrud um die Lippen. »Ich lache mit ihnen, Dodo, und nachher sind sie wieder ernst mit mir. Wie wollte ich sie lieb haben, meine Schüler!«

»Und dabei willst du deinem Beruf untreu werden, Trude,« fragte Ilse kopfschüttelnd.

»Vorläufig will ich nichts als Gottvertrauen haben, Ilse,« entgegnete Gertrud schlicht.

»So – fertig,« rief Lena, die emsig geschrieben hatte. »Da steht Erwins Rede, so gut ich sie behalten habe. Nun setzt alle eure Namen darunter!«

Der Bogen machte die Runde, Ilse unterschrieb als letzte.

»Die Unterschrift der Kleinen ist nicht nötig; es genügt vollkommen, daß ich sie als Mitglieder mit angeführt habe,« sagte sie kurz, faltete das Schriftstück zusammen und legte beide Bogen in eine Mappe.

Ihr Ton war so energisch, daß ihr niemand widersprach; alle empfanden aber ihr Vorgehen als ziemlich lieblos und durchaus nicht vereinbar mit dem, was sie soeben gelobt hatten. Das rief eine leichte Mißstimmung hervor, und sie waren froh, als die Mutter von ihrem Besuch zurückkam und sich zu ihnen setzte.

»Ich habe euch etwas mitzuteilen, Kinder,« sagte sie. »Wir bekommen auf unbestimmte Zeit eine neue Hausgenossin.«

»Ein junges Mädchen?« rief Dodo lebhaft und klatschte vergnügt in die Hände. »Wie reizend ist das! Woher kommt sie und wie heißt sie, Tante?«

»Sie ist euch allen wohlbekannt; es ist Lisi.«

»Ach die,« sagte Ilse geringschätzig.

»Mutter, wie kommt das?« forschte Anna. »Geht es ihrer Mutter so schlecht?«

»Ja, Kind, die arme Frau ist mit ihren Nerven so herunter, daß sie schleunig fort soll. Es kommt noch heute abend eine Tante von ihr, sie in ein Bad an der Nordsee zu begleiten. Frau Lehmann ließ mich um meinen Besuch bitten, weil sie mir ihre Lisi noch selbst ans Herz legen wollte. Ich habe ihr versprochen, das Kind wie mein eigenes zu halten. So habe ich ihr wenigstens diese Sorge abnehmen können.«

»Die arme Lisi,« rief Gertrud aus.

»Mutter, glaubst du, daß sie einen günstigen Einfluß auf Kläre hat,« fragte Ilse mit gefurchter Stirn.

»Ja, mein Kind, davon bin ich überzeugt.«

»Wir wollen Lisi liebhaben und ihr helfen, über die schwere Zeit hinwegzukommen,« mahnte Bernd.

Ilse errötete.

»Wann kommt sie zu uns, Mutter, und wo willst du sie unterbringen?« erkundigte sich Anna.

»Frau Lehmann reist schon morgen ab; dann soll Lisi sofort zu uns übersiedeln. Ich will sie vorläufig zu mir und Klärchen ins Zimmer nehmen, wir hoffen doch, daß ihre Mutter zum Herbst gesund zurückkehrt.«

»Was fängt der arme Herr Lehmann nun aber wohl während der langen Zeit ohne seine Frau an?« fragte Gertrud mitleidig.

Bild: Richard Gutschmidt

»Nun setzt alle eure Namen darunter!«

»Es trifft sich sehr glücklich, daß eine Cousine von ihm außer Stellung ist und zu ihm kommen will. Und nun hoffe ich, Kinder, daß ihr alle das eure dazu beitragen werdet, es Lisi recht heimisch bei uns zu machen.«

Lebhaft versprachen dies alle, nur Ilse schwieg.

»Große, sei nicht lieblos,« sagte Bernd bittend und faßte nach ihrer Hand.

Ilse aber entzog sie ihm. »Ich begleite dich, Gertrud,« sagte sie hastig, als die Freundin aufstand, um nach Hause zu gehen.

»Du kommst nun öfter zu uns, Trude,« bat sie, als sie den Weg hinunterschritten.

»Wenn ich Zeit habe, gern, Ilse, es ist sehr gemütlich und anregend bei euch. Wie froh bin ich, auch zu eurem schönen Bunde zu gehören. Besonders freut mich unser Geleitwort; es soll mir ein Sporn und eine Hilfe sein auf meinem Lebenswege. Ilse, wie fleißig will ich sein! Ich habe wieder sehr viel Mut, mein Ziel doch noch zu erreichen, trotzdem die Zeiten augenblicklich ziemlich schlecht für uns sind. Das ist auch so recht ein Wort für meine liebe, tapfere Mutter. Wie sehr wird sie sich über unseren Bund freuen. Wie danke ich dir, daß du mich aufgefordert hast, liebe, gute Ilse!«

»Nenne mich nicht gut, Trude,« antwortete die Freundin mit finsterer Miene. »Ich bin von uns allen am weitesten davon entfernt, es zu sein. Ich habe am meisten zu kämpfen; wie schwer, ahnt wohl niemand.«

»Mit Gott voran, Ilse,« entgegnete Gertrud mit ihrem sonnigen Lächeln.

Noch ein fester Händedruck, dann schieden die Mädchen.

Ilse ging weiter, noch einige Besorgungen zu erledigen. Da fiel ihr ein, daß sie sich nach der Mutter Morgenschuhen, die gesohlt werden sollten, umsehen könne. Dazu mußte sie in eine Hofwohnung zu ihrem alten Flickschuster. Es war ein längliches Gebäude, in dem sich verschiedene Wohnungen für wenig bemittelte Leute befanden.

Plötzlich blieb Ilse überrascht auf dem Hofe stehen. Aus einem offenen Fenster klang ein zweistimmiges Lied. Seltsam bekannt kamen ihr die frischen Mädchenstimmen vor. Jetzt folgte ein heiteres Lachen.

»O Lisi – du hast ja viel zu hoch angefangen,« hörte sie sagen. »So hoch hinauf komme ich nicht.«

»Sing du nur zu; je höher, desto lieber ist es Mutter Knauf, nicht, Mutter?« erwiderte eine andere Stimme.

Ein leises Greisenlachen folgte. »Ja, Kind, dann mache ich die Augen zu und denke mir, die lieben Engel singen mir was vor. Und nun, Kinder, könnt ihr nicht noch ein frommes Lied?«

Einen Augenblick war alles still, dann ertönte mit wahrer Inbrunst das schöne Lied: »O, daß ich tausend Zungen hätte.«

Auf den Zehen schlich Ilse an dem offenen Fenster vorüber und wagte nur einen unsicheren Blick hineinzuwerfen. Sie schaute gerade in ein fromm erhobenes Gesicht, in zwei glänzende graue Augen. So konnte Lisi aussehen, und mit solchem Ausdruck singen? Völlig verblüfft ging Ilse in die kleine Schusterwerkstatt. Aber sie horchte mehr auf den Gesang als auf des Meisters Worte.

»Ja, ja, es klingt fein, wie die lieben Mädel singen,« sagte er, als er es gewahrte. »Meine Alte und ich, wir freuen uns auch immer dran.«

»Wie kommen die Kinder hierher?« fragte Ilse.

»Die alte Knauf bekommt das Essen von der Wirtin ›Zur goldenen Kugel‹. Alle Mittag holt der Fritz, unser Enkelsohn, ihr das ab. Feines Essen, alles was recht ist, 'n schönes Stück Fleisch und eine gute Suppe! Meine Frau kümmert sich auch ein bißchen um die alte Knauf, weil die niemand mehr hat. Es ist ja auch Christenpflicht, daß sich eines nach dem anderen umsieht. Ja, und sonst, da sah sich Frau Lehmann öfter nach ihr um, aber nun ist sie krank und da besorgt das ihre Lisi, Fräulein Ilse, und das andere kleine Fräulein« – er zwinkerte lustig mit den Augen – »das ist, mit Verlaub zu sagen, Fräulein Klärchen.«

»Ich weiß es,« entgegnete Ilse kurz, verabschiedete sich und huschte schnell unter dem geöffneten Fenster vorüber. Das Singen war verstummt, aber munteres Plaudern tönte zu ihr heraus. Eilig ging sie nach Hause, wo die anderen alle noch im Garten saßen.

»Hast du die Kinder nicht getroffen?« rief die Mutter ihr entgegen.

»Mutter, weißt du, daß die beiden zu alten Frauen gehen und ihnen etwas vorsingen?« fragte Ilse aufgeregt.

Ein Lächeln flog der Mutter um die Lippen. »Gewiß, Kind, ich bin genau eingeweiht in die Liebesgänge, die sie für Lisis Mutter übernommen haben. Frau Lehmann ist von Jugend auf daran gewöhnt, für Arme und Kranke zu sorgen, und hat hier auch schnell Bedürftige genug gefunden. Seit zwei Jahren unterstützt Lisi sie dabei und seit dem vorigen Herbst hat sie ihr fast alle Wege zu den Kranken abgenommen. Ich habe Frau Lehmann versprochen, Lisi auch in ihren Liebeswerken zu überwachen, damit die alten Frauen nicht zu kurz kommen. Es wird aber wohl kaum nötig sein, denn ehe Lisi ihre alten Weiblein versäumte, vergäße sie sich selbst. Es ist ihr eine wahre Herzenssache, sie zu besuchen, und unsere Kläre ist natürlich voller Begeisterung dabei. Bist du nun über den Einfluß, den sie auf unsere Kleine haben kann, beruhigt, Ilse?«

»Mutter – ich schäme mich zu sehr! Das Kind, das ich zu gering hielt für unseren Bund, steht ja tausendmal höher als ich.«

»Wir sollen uns stets vor einem zu schnellen Urteil hüten, mein Herz. Wie leicht können wir einem Menschen unrecht tun, wenn wir ihn mit raschen Worten aburteilen, ohne etwas von seinem inneren Wert zu wissen. Aber nun laßt euch nichts merken gegen die beiden Kinder! Frau Lehmann hat ihrem Töchterchen eingeprägt, daß die rechte Hand nicht wissen soll, was die linke Gutes tut. Es würde der Kleinen vielleicht nur schaden, wenn sie bewundert und aus ihren Liebesgängen Aufhebens gemacht würde. Sie könnte sich leicht etwas darauf einbilden und die reine Freude daran verlieren. Das alles möchte ich vermieden sehen. Da kommen sie beide.«

Fröhliches Lachen und Schwatzen klang herauf. Klärchen hatte ihren Arm um Lisis Nacken gelegt. Eng aneinander geschmiegt stiegen sie den Weg herauf und traten in die Pforte.

»Oh,« schrie Lisi auf, »sie essen schon! Schnell, Kläre.« Hand in Hand kamen sie angetrabt.

»Mutter, entschuldige, bitte! Die Zeit ist uns ja schnell vergangen,« sagte Kläre, während Lisis Augen über den bereits gedeckten Teetisch spazierten.

Anna ging zu ihr und strich ihr über die heißen Wangen. »Freu dich, Lisi,« sagte sie lächelnd, »es gibt gefüllte Eierkuchen.«

Lisi hopste hochauf und lachte so vergnügt, daß alle einstimmten.

»Du bist der richtige kleine Freßsack,« sagte Lena neckend.

»Ich bin immer sehr hungrig, und Eierkuchen magst du selber auch,« erwiderte Lisi vergnügt.

»Den mögen wir alle; komm, gute Dicke, und setze dich zu mir,« sagte Ilse herzlich. »Nachher sollt ihr beide noch eure Namen unterschreiben.«

»Müssen wir dann auch etwas Großes tun?« erkundigte sich Lisi mißtrauisch.

»Nein, Lisi, nichts weiter, als dich bemühen, das zu tun, was wir uns heute nachmittag versprochen haben.«

Lisi machte verwunderte Augen, als Ilse sie zu sich heranzog, sich niederbog und sie auf die Stirn küßte. Ilse hatte sie nie durch Liebkosungen verwöhnt, ja sich stets sehr ablehnend gegen sie verhalten. Nun freute sich Lisi doppelt über ihre Zärtlichkeit.

»Du bist sehr still, Dodo; fehlt dir etwas, mein Herz?« fragte Frau Winterfeld während der Mahlzeit.

»Ich bin bloß etwas müde vom langen Sitzen, Tante. Machen wir nicht bald mal wieder einen Ausflug?«

»Aber Kind, ihr seid ja erst vorgestern in Braunlage gewesen.«

»Ja, aber eigentlich hatte ich geglaubt, wir würden wenigstens zweimal in der Woche große Ausflüge machen; nun muß ich hier immerzu nur arbeiten.«

Es klang so kläglich, daß sie ausgelacht wurde.

»Zum fleißig sein bist du ja auch hier, Töchterchen,« erwiderte Frau Winterfeld freundlich. Bernd aber sah den Schatten in der Mutter Augen und erriet, was in ihr vorging.

Nach dem Abendessen rief die Mutter Lisi und ging mit ihr ins Haus, Klärchen natürlich hinterher.

»Jetzt sagt ihr die Mutter, daß ihre Mama ins Bad muß,« bemerkte Anna. »Die arme Lisi!«

»Wer läuft mal mit mir durch den Garten?« rief Dodo bittend.

»Alle,« entgegnete Bernd. »Auf, ihr Mädel! Ich will sehen, wer die schnellste ist. Eins –«

»Aber wir müssen doch erst abdecken,« unterbrach ihn Anna.

»Zwei,« zählte Bernd unbeirrt weiter. »Drei!« Er klatschte in die Hände und lachte, als alle vier davonliefen.

Wie die Vögel flatterten sie die Wege und Stufen hinunter bis zur Pforte, von dort auf Seitenwegen wieder empor, unter fröhlichem Lachen und Kreischen, Dodo allen weit voran. Auf den Stufen zur zweiten Terrasse aber holte die flinke Ilse sie ein und führte sie vor Bernd. »Ich bringe sie als Gefangene zur Stelle, edler Präses. Was hat mit ihr zu geschehen?«

»Sie soll schnell abdecken helfen, und dann bitte ich euch alle, zum Schluß des schönen Tages mein Lieblingslied zu singen.«

»Ach, Bernd, dein Lied ist so traurig,« sagte Ilse.

Er lächelte nur.

Eine heiße Angst um den geliebten Bruder ergriff sie plötzlich. Als sie aber eine Weile später alle vier um ihn saßen, und er sie erwartungsvoll ansah, stimmte sie selbst an:

Ȇber allen Wipfeln ist Ruh,
In allen Zweigen
Spürest du kaum einen Hauch.
Die Vöglein schweigen im Walde,
Warte nur, balde
Ruhest auch du!«

Das Lied war verklungen, als die Mutter mit den Jüngsten wiederkam, beide verweint; Lisi zuckten noch die Lippen. Ilse stand auf und schloß sie in die Arme.

»Ich will dich liebhaben, Lisi, und alles tun, daß du dich heimisch und glücklich bei uns fühlst,« sagte sie herzlich. Auch die anderen drückten ihr die Hände und sagten ihr warme Worte. Da flog, wie ein Sonnenstrahl durch Regenwolken, ein Lächeln über Lisis verweintes Gesicht. Dann begleiteten alle Mädchen sie nach Hause, zum letztenmal für lange Zeit. Währenddessen brachte die Mutter mit Sophies Hilfe Bernd in sein Zimmer und zur Ruhe.

Als die jungen Mädchen zurückkamen, erklärte Dodo, müde zu sein, und zog sich mit Lena zurück. Auch Klärchen wurde zu Bett geschickt. Anna und Ilse blieben noch mit der Mutter auf dem Balkon.

»Es war ein schöner Tag,« sagte Anna. »Hoffentlich war es für Bernd nicht zu viel; er sah aber so frisch und angeregt aus, wie seit langem nicht. Wenn er jetzt gut schläft, wird es ihm hoffentlich nicht schaden.«

»Mutter, du bist sehr ernst, woran denkst du?« fragte Ilse.

»An Dodos Bemerkung von vorhin. Dadurch ist es mir klar geworden, daß es nicht genügt, wenn ich euch täglich ein Stündchen in der nächsten Umgebung spazieren gehen lasse, sondern daß ich größere Ausflüge mit euch unternehmen muß.«

»Mutter –?«

»Ja, Ilse, ich wußte, daß du entzückt sein würdest, für mich aber hat die Sache manche Schwierigkeit. Erstens möchte ich Bernd nicht so häufig für einen halben Tag allein lassen; zweitens bin ich keine gute Fußgängerin, wie ihr wißt. Endlich würde es auch meine Kasse zu sehr angreifen, wollte ich immer mit euch fahren. Über den ersten Punkt hat Bernd mich beruhigt. Ich sprach vorhin mit ihm darüber, da hat er mir erklärt, gern mal allein bleiben zu wollen. Unter Sophies Obhut ist er übrigens wirklich gut aufgehoben. Aber für meine übrigen Bedenken weiß er auch keinen Rat.«

Bild: Richard Gutschmidt

Bernd klatschte in die Hände, worauf alle vier davonliefen.

»Mutter, bei Bernd bleibt immer eine von uns, das ist selbstverständlich und gar kein Opfer,« riefen beide Schwestern einstimmig.

»Das hat Bernd sich bereits verbeten, Kinder. Er hat mich überredet, noch in dieser Woche mit euch nach dem Försterplatz zu gehen, dort Kaffee zu trinken und durch das Zillierbachtal zurückzukommen. Er kennt ja alle Wege durch seine Karte, sowie durch Vaters und deine Schilderung, Ilse.«

»Ist das nicht zu weit für dich, Mutter?« fragte Anna sorgend.

»Eure alte Mutter muß das Wandern eben noch lernen, Kinder; das ist schließlich auch das wenigste,« entgegnete sie und erhob sich. »Das Schwerste wird sein, meinen Jungen so viele Stunden allein zu wissen.«

»Bernd muß es sich schon deinetwegen gefallen lassen, daß eine von uns bei ihm bleibt.«

»Nein, Ilse; von Bernd dürfen wir nicht verlangen, daß er ein Opfer annimmt. Ihm wollen wir das schöne Gefühl, uns durch sein langes Alleinsein eines zu bringen, von Herzen gönnen.«

»Ich habe mich gleich über Dodos Bemerkung geärgert,« gestand Anna. »Ich fand es rücksichtslos gegen Bernd, dem zu Ehren wir heute doch zu Hause geblieben sind.«

»Ja, sie denkt nur an die eigene unbedeutende Person,« setzte Ilse hinzu.

»Nein, Kinder, ungerecht dürft ihr nicht urteilen. Dodo ist ein herzensgutes Mädchen, nur durch die zärtliche Liebe ihrer Eltern sehr verwöhnt. Sie soll ja erst lernen, auch an andere Leute zu denken; dabei wollen wir alle ihr helfen. Vergeßt auch nie, daß wir so viele zarte Rücksicht, wie wir sie Berni erweisen, von fremden jungen Mädchen weder erwarten noch verlangen können. Nun geht aber zu Bett, Kinder, geschwind! Und nicht weiter gesorgt und gegrübelt! Dazu liegt wirklich kein Grund vor, im Gegenteil, ihr sollt euch auf den Samstag freuen. Ist das Wetter günstig, geht es auf den Försterplatz, der erste Versuch eurer Mutter zu künftigen großen Wanderungen.«

Es klang heiter, aber die Töchter hörten doch den wehmütigen Untertan heraus.

»Du gute Mutter,« flüsterte Ilse, sie zärtlich umfassend.

Noch nie war es ihr so klar geworden wie eben jetzt, welche Opfer die Mutter durch die Aufnahme der fremden Mädchen brachte, nur um ihren Kindern eine gute Erziehung geben zu können. Sie ging in ihr und Annas gemeinsames Zimmer, trat an das offene Fenster und starrte zu dem sternenübersäten Himmel auf. Warum hatte der Allmächtige ihnen den teuren Vater genommen, warum nur?

Sie fand keine Antwort und achtete nicht auf die Schwester, die nach ihr eingetreten war; sie wandte sich erst um, als ein leiser Schrei durch das Zimmer tönte.

»Ilse,« rief Anna mit unterdrückter Stimme und in hörbarer Angst, »da liegt jemand in meinem Bett!«

»Unsinn!« Ilse kam näher. »Wahrhaftig – und in meinem Bett auch! Das ist doch frech. Wenn das nicht –«

»Geh nicht hin, Ilse,« flüsterte Anna und hielt die Schwester fest. »Wir wollen lieber erst Sophie holen.«

»Damit die Eindringlinge unterdessen entwischen? Das gibt es nicht, Maus. Selbst ist der Mann, nötigenfalls auch das Mädel!«

Sie zündete ein Licht an und hielt es hoch. Anna schrie abermals auf, denn die beiden regungslos daliegenden Gestalten sprangen gleichzeitig aus den Betten.

»Dachte ich's doch,« rief Ilse, als sie Lenas und Dodos lachende Gesichter erkannte. »Dies war sehr geistreich von euch, Kinder.«

»Selbstverständlich,« erwiderte Dodo lustig. »Wir wissen jetzt doch, wie wir die Maus einzuschätzen haben; sie hielt mir gestern eine gewaltige Standrede, weil ich so furchtsam bin, und behauptete, es selber nicht ein bißchen zu sein. Ja, Maus, du bist gerade so ängstlich wie ich, oder willst du uns weismachen, dich eben heldenhaft benommen zu haben?«

»Du suchst jedenfalls auf merkwürdige Art Beweise von meinem Mut, Dodo,« erwiderte Anna tief gekränkt. »Es wäre besser, ihr ginget beide zu Bett, als daß ihr solchen Unsinn treibt.«

»Puh, was für Gesichter! Als ob wir das größte Unrecht begangen hätten! Komm, Lena, lassen wir die Kratzbürsten allein! Ach, wenn ich dich nicht hier hätte!«

Mit diesem Stoßseufzer zog sie Lena mit sich hinaus und warf die Tür geräuschvoll hinter sich zu.

Die Schwestern sahen einander erschrocken an. Annas Gefühl des Gekränktseins ging unter in dem Schreck über Dodos Ausruf. Ob sie sich nicht glücklich fühlte, trotz all der Mühe, die Mutter sich gab, trotz all der Last und Arbeit, die sie willig auf sich nahm, aus Liebe zu ihren Kindern?

»Wie traurig,« flüsterte Anna.

»Komm, Maus, so darf der schöne Tag nicht ausklingen,« mahnte Ilse und zog die Schwester mit über den Flur zu Dodos Zimmertür.

»Mach auf, wir sind's,« sagte sie dort.

»Oho, so unbedingt öffne ich nicht. Erst sagt, was ihr wollt!«

»Den Frieden bringen!«

Ein leises Lachen ließ sich drinnen hören. »Das klingt ja geradezu engelhaft, aber wir wollen es versuchen.«

Der Schlüssel wurde umgedreht und die Tür behutsam geöffnet. Ein Näschen erschien, zwei lachende dunkle Augen, dann das ganze übermütige Schelmengesicht Dodos.

»Nehmt es nicht übel, daß wir nicht auf euern Scherz eingingen,« sagte Ilse herzlich. »Wir hatten gerade etwas Ernstes mit unserer Mutter besprochen und konnten uns nicht so schnell zum Lachen zurückfinden. Aber mit einem Mißton darf Bernds Geburtstag nicht schließen. Wenn es euch recht ist, wollen wir es in Zukunft immer so halten, daß wir uns vor dem Schlafengehen aussprechen, wenn am Tage etwas zwischen uns vorgefallen sein sollte. Wir wollen uns doch gegenseitig in allem Guten helfen und fördern. Bist du jetzt wieder versöhnt, Dodo?«

»Ach, mehr als das! Ich finde dich einfach entzückend, Ilse; ich traue mich bloß immer nicht an dich heran, weil ich mir zu einfältig neben dir vorkomme.«

Schnell drückten die Mädchen einander nochmals warm die Hände, dann kehrten die Schwestern schnell wieder in ihr eigenes Zimmer zurück. Nun wurde es endlich still in Villa Trautheim.


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