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Lenas unerwartete Ankunft erregte daheim große Freude. Die Mutter konnte sich nicht satt sehen an ihrem Töchterchen, und die Jungen waren völlig außer Rand und Band. Nur Helmut sagte heimlich zu Werner, sie sehe schon unangenehm damenhaft aus; viel Spaß werde wohl nicht mehr von dem Flattergeist zu erwarten sein.
Aber auch Lena staunte, wie groß die Brüder geworden waren. Willig ließ sie sich von Rolf in seine Spielecke führen und bewunderte alles gebührend, was er ihr an Herrlichkeiten vorführte. Daß sie in der Hast der schnellen Abreise vergessen hatte, etwas mitzubringen, verzieh er ihr nach der ersten Enttäuschung großmütig in der Voraussetzung, daß der Vater das durch was »recht Schönes« wieder gut machen werde.
Die beiden großen Jungen behaupteten, daran erkenne man den Flattergeist am deutlichsten wieder. Sie verlangten aber zugleich Lenas ungeteiltes Interesse, Helmut für seine Käfer und Steine, Werner für das elektrische Licht, das er in dem eigenen und der Eltern Schlafzimmer angelegt hatte. Das sollte noch eine besondere Überraschung für den Vater werden.
Ja, der Vater! Wie sich alle auf seine Heimkehr freuten, war nicht zu sagen. Um die Außentür der Wohnung wurde eine Girlande gehängt; in allen Stuben prangten Blumen, und Lena schnitt im Garten die schönsten Rosen ab für des Vaters Schreibtisch.
Wie unbeschreiblich schön war es doch wieder zu Hause! Aber so glücklich sie sich auch fühlte, eine leise Wehmut wollte nicht von ihr weichen, namentlich hier im Gärtchen. Hier war es gewesen, wo sie mit Hans und Erwin Freundschaft für das Leben gelobt hatte. Sie und Hans waren hier, aber der Freund – wo steckte der? Lag er krank oder deckte ihn gar schon die fremde Erde? Sie schauerte zusammen. Aber – »mit Gott voran!« Das schöne Geleitwort ihres Bundes hatte ihr schon oft Trost und Kraft gegeben. Sie war auch nicht umsonst bei den Trautheimern gewesen, Bernd bot ihr ein so leuchtendes Beispiel der Beherrschung, daß sie sich geschämt hätte, sich wie früher jeder Stimmung, jedem Gefühlsüberschwang hinzugeben. So war sie heiter und freundlich und scherzte mit den Brüdern.
Die Mutter freilich sah tiefer, die ließ sich nicht täuschen. Sie sagte jedoch nichts. Lena mußte selbst durch diese Zeit der Sorge um den Freund hindurch.
Am nächsten Tage gegen Abend sollte der liebe Vater eintreffen. Alle Kinder durften mit zur Bahn. Da es regnete, besorgte Hans eine geschlossene Droschke.
»Nun paßt auf, Jungen,« sagte er vor der Abfahrt. »Lena wird dem Vater erst im letzten Augenblick vorgeführt, sie soll als Überraschung wirken. Daß du nichts verrätst, Rolf!«
In froher Erwartung fuhr die Familie zur Bahn, Werner und Helmut auf dem Bock sitzend. Beim Bahnhof angekommen, blieb Lena, wie verabredet, im Wagen; die Mutter und die Brüder gingen auf den Bahnsteig.
Der Zug lief ein. Am offenen Fenster stand der Vater und grüßte. Die Jungen erhoben ein wahres Triumphgeschrei; ja, Rolf war so begeistert, daß er, so laut er konnte, zu singen begann: »Heil dir im Siegerkranz.«
Der Vater lachte über das ganze Gesicht, als er auf die Seinen zutrat.
»Mehr kann ich wirklich nicht verlangen,« sagte er und schloß einen nach dem anderen in die Arme.
Hans besorgte nun das Gepäck, Rolf aber drängte ungeduldig weiter.
»Vater, komm schnell,« bat er und faßte seine Hand. »Wir sind mit 'ner Droschke hier und – au – was schupfst du mich?« schrie er Helmut an. »Ich hab' doch gar nichts von Lena gesagt.«
»Schafskopf!«
Beinahe hätten die großen Jungen den Kleinen verhauen, Hans legte sich aber ins Mittel. Der Vater hatte glücklicherweise nichts gehört, er schritt mit Mutter dem Ausgange zu.
Hans, mit Rolf an der Hand, gelang es, sich vorzudrängen, so daß er schon neben der Droschke stand, als die Eltern langsam ankamen, die beiden Jungen wie die Wilden voran, um bei dem Wagen Aufstellung zu nehmen.
Hans trat nun den Eltern einige Schritte entgegen und sagte leise: »Vater, es ist dir doch nicht unangenehm, daß wir eine junge Dame mitnehmen, die denselben Weg hat wie wir?«
»Eine junge Dame?« Der Vater sah erstaunt auf und setzte scherzend hinzu: »Ei – ei – Junge! Es soll mir natürlich sehr angenehm sein.«
Die Mutter stieg ein. Rolf saß schon neben Lena und sah gespannt zu, wie der Vater folgte, neben der Mutter sich niederließ, den Hut abnahm und sich an die junge Dame wandte, ihr ein paar freundliche Worte zu sagen. Sie blieben aber ungesprochen; stumm blickte der Professor in das liebe bekannte Antlitz, in die glänzenden dunklen Augen, völlig überwältigt vor Überraschung.
Länger hielt Rolf das Schweigen nicht aus. »Vater, das ist ja Lena, unsere Lena! Kennst du sie denn nicht?« schrie er jubelnd.
»Vater – lieber Vater!« Lena fiel dem Vater buchstäblich in die Arme, denn die Pferde zogen gerade an. Er gab sie auch so schnell nicht wieder frei und dann mußte sie zwischen den Eltern sitzen.
»Diese Überraschung ist wirklich gut gelungen,« sagte er erfreut. »Wem habe ich sie zu danken?«
»Dem da,« sagte Lena, auf Hans deutend. »Er hat mich von Wernigerode mitgenommen, weil er meinte, wir müßten alle beisammen sein, wenn du nach Hause kommst.«
»Ein gescheiter Einfall, Hans; ich danke dir! Eine größere Freude hättest du mir nicht bereiten können. Ich hätte mein Töchterlein sehr entbehrt.«
Lena schmiegte sich dankbar an den guten Vater. Wie reich und glücklich war sie doch im Vergleich zu den Cousinen! In diesem Augenblick begriff sie erst vollkommen, was jene alles entbehren mußten an Liebe und Fürsorge.
»Kinder, wie schön ist es doch wieder daheim,« sagte der Professor, als er durch die heimischen Räume schritt.
»Die Hauptsache ist, daß du dich frisch und gesund fühlst, lieber Mann,« erwiderte Mutter glücklich.
»Ja, gottlob, mir ist, als sei ich um zehn Jahre jünger geworden.«
»Vater, komm schnell in die Schlafstube; du mußt dich doch erst waschen,« drängte Rolf.
»Gibt es denn da noch eine Überraschung?« fragte Vater lachend.
Die ganze Familie ging mit. Stolz ließ Werner das über Vaters Waschtisch angebrachte elektrische Licht aufflammen.
»Das hat er ganz allein gemacht,« schrie Rolf, »und bei euren Betten sind auch noch Lampen.«
»Der Tausend, Werner, du bist ja der reine Elektrotechniker,« lobte der Vater anerkennend. »Am Ende studierst du mal dieses Fach?«
»Ach, das denke ich mir riesig interessant; darf ich?«
»Gewiß, mein Sohn! Ich bin vollkommen einverstanden und freue mich, wenn du dich frühzeitig entscheidest.«
Im Laufe des Abends erklärte Hans, schon sehr bald nach Heidelberg zurück zu müssen, um tüchtig zu arbeiten.
»Aber, lieber Junge,« sagte seine Mutter enttäuscht, »deine Ferien sind doch noch nicht zu Ende und du bist eben erst angekommen.«
»Deine Gründe, mein Sohn?« forderte der Vater.
»Ich möchte früher ins Examen steigen,« antwortete er. »Ich fühle mich so frisch und kräftig, daß ich das Bummeln nicht mehr aushalte. Ich will tüchtig arbeiten, um bis zu Weihnachten antreten zu können.«
»Fühlst du dich sicher, Hans, dann kann ich deine Ansicht nur loben,« entgegnete der Professor, sichtlich angenehm berührt durch des Sohnes Eifer.
»Überanstrenge dich nur nicht, mein Junge,« warnte aber die Mutter unruhig. »Es liegt ja gar kein Grund vor, daß du früher fertig wirst.«
»Weshalb hast du es mit einem Male so eilig, Hans?« erkundigte sich Lena.
Der junge Mann zupfte an seinem braunen Schnurrbart und suchte dadurch eine leichte Verlegenheit zu verbergen. »Nimm an, daß ich mich gern Assessor nennen hören will,« erwiderte er scherzend.
»Er will sich verloben,« sagte Helmut, eine Bemerkung, die Hans eine merkliche Röte ins Gesicht trieb und dem Jungen die Zurechtweisung eintrug: »Naseweis!«
Der Vater lachte. »Das wäre reichlich früh, nicht wahr, Mutter?« Aber diese begann, nach einem prüfenden Blick auf ihren Ältesten, von anderen Dingen zu sprechen und lenkte somit die allgemeine Aufmerksamkeit von ihm ab.
Am nächsten Morgen versammelte sich die Familie um den Kaffeetisch, nur Lena fehlte.
»Die steht auf dem Balkon und guckt sich nach irgend etwas die Augen aus,« berichtete Rolf. »Ich hab' sie gepufft, aber sie hat nichts gemerkt.«
Mutter und Hans sahen einander verständnisvoll an, sie wußten, daß Lena auf den Briefträger wartete.
»Ich will nachher gleich nach Zehlendorf fahren, um zu hören, ob sein Onkel auch keine Nachricht bekommen hat,« erbot sich Hans. Man hörte an seinem Ton, daß auch er sich Sorge um den Freund machte.
»Ist Onkel Erwin ein Unglück begegnet?« fragte Rolf, aufs höchste interessiert.
»Frag nicht so dumm; dann hätte sein Name in der Verwundetenliste gestanden,« verwies Helmut.
Da wurde die Tür aufgestoßen. Lena stürmte herein, einen Brief in der Hand schwenkend. »Mutter – er lebt – er hat geschrieben! Das ist seine Handschrift!«
»Laß sehen!« Hans stand auf. »Erlaube mal, Lena« – er nahm ihr den Brief aus der Hand – »Stempel nicht zu lesen – ah – die ganze Rückseite ist beschrieben.« Er las: »›In eine Drucksache eingeschoben, zufällig erst jetzt aufgefunden. Es wird wegen der verspäteten Zusendung um Entschuldigung gebeten. Körner. Metz, 4. September 1904.‹ Zuletzt von Wernigerode nachgeschickt.«
»Gib her, Hans,« flehte Lena. »Der Brief ist ja nun da. Das ist die Hauptsache. Ich möchte ihn doch lesen.«
»Ja, Lena, mach schnell,« rief Werner, »wir müssen sonst fort. Lies vor!« Aber Lena lief schnell zur Tür hinaus.
»Nanu? – Was fällt ihr denn ein?« Verblüfft sahen sich die Jungen an.
»Lena hat doch das erste Anrecht an ihren Brief,« bemerkte die Mutter. »Wenn sie ihn gelesen hat, wird sie euch schon davon erzählen.«
»Dann werden wir vor der Schule kaum noch was davon hören,« knurrte Helmut. »Zu dumm von Lena!«
Aber ziemlich schnell erschien sie wieder und las ihren Brief vor:
»Auf der Fahrt nach Okahandja, 8. Mai 1904.
Liebe, junge Freundin!
Heute morgen zu früher Stunde haben wir Swakopmund verlassen. Sie wissen wahrscheinlich, daß seine Häuser im Wüstensande stehen. Bis an die Knöchel versinkt man, geht man durch die sogenannten Straßen. Stellenweise sieht man wohl einen schwachen Versuch, einen kleinen Garten anzulegen, er ist jedoch nicht recht gelungen. Unter den glühenden Sonnenstrahlen muß alles verschmachten, was nicht tüchtig gegossen wird; wer aber könnte sich erlauben, das kostbare Naß, das hier mit zwei Mark für den Kubikmeter bezahlt wird, an Gemüse oder gar Blumen zu verschwenden?
Hier an der Küste merkt man wenig vom Kriege. Der breite Wüstengürtel, der sich zwischen ihr und dem Innern hinzieht, schützt die hier wohnenden Europäer vor den Angriffen der Schwarzen. Die Sonne glüht und sendet blendende Strahlen auf die großen Leinwandsegel über unseren offenen Wagen. Die Mannschaft ist wohlgemut. Bei Gelegenheit springt mal ein Mann ab, um sich eine der im Sande wachsenden Wassermelonen zu holen. Mit der Frucht im Arm steigt er wieder auf und freut sich der kleinen Beute.
Ich schreibe auf den Knien, meine Brieftasche als Unterlage benutzend. Welches Glück, daß es Füllfedern gibt, die nicht versagen! Um Ihnen einen klaren Überblick zu geben, will ich fortfahren, meine Erlebnisse zu berichten und alle paar Tage einige Zeilen hinzufügen, so lange meine Zeit es mir erlaubt.«
»Abends.
Wir haben nach einer anstrengenden Fahrt Inkalswater erreicht. Durch ein tiefes Tal brachten uns vier Lokomotiven nach Stunden etwas bergwärts. Hier begann sich wieder Leben in der bisher starren Natur zu regen. Vereinzelte Sträucher wuchsen aus dem Sande empor, oder ein verkrüppelter Baum erhob seinen Wipfel. Ein trostloses Land! Man lernt die deutschen Brüder und Schwestern bewundern und schätzen, die sich hier angesiedelt haben, um deutsche Sitte in dem Neuland einzuführen. Welcher Mut, welche Kraft und Ausdauer gehören dazu! Die Herzen wurden uns warm bei dem Gedanken, daß wir ausgezogen sind, diese Ansiedler nach bestem Vermögen zu schützen. Die Erwartung, die Lust, in den Kampf zu gehen, leuchtet aus aller Augen.«
»Den 9. Mai.
Wir setzen unsere Reise seit dem frühen Morgen fort und sind durch die Buschsteppe gefahren, an kahlen, wild zerrissenen Gebirgszügen entlang. Die Bäume werden häufiger; oftmals fliegt ein Vogel auf, oder irgendein Tier setzt erschrocken seitwärts in den Busch. Aber menschliche Wesen scheint es hier nicht zu geben. Tiefe, ununterbrochene Stille und Einsamkeit umringt uns. Sie macht auch uns ernst und schweigsam. Bald sind wir in Karibid. Morgen werden wir unser Ziel erreichen.«
»Den 10. Mai.
Nur einige Worte! Wir haben Okahandja erreicht. Unsere Truppen gehen morgen weiter ins Land hinein nach dem Waterberg zu, wo die Hauptmacht des Feindes liegt. Ich bleibe vorläufig hier. Lieber ginge ich mit, aber schließlich ist es gleich, ob ich hier oder dort den Kranken und Verwundeten beistehe.
Der Ort mit den durchschossenen, teils rauchgeschwärzten und ausgeplünderten Häusern macht einen traurigen Eindruck. Unser Lazarett ist überfüllt mit Malariakranken, sowie mit Verwundeten, die ihre Verletzungen bei Onganjira oder Owiumbo erhalten haben.
Ich lasse mein Schreiben liegen, bis ich etwas Wichtiges zu melden habe. Jetzt gilt es, mit allem Eifer für die Kranken zu sorgen.«
»Den 12. Juni.
Es werden fortwährend neue Typhuskranke nach den Feldlazaretten gebracht; wir sind Tag und Nacht auf den Beinen, ich fühle mich aber vollkommen wohl. Heute erhielt ich die erste Nachricht aus der Heimat von Hans. Meine Freude war groß.«
»Den 20. Juni.
Soeben nach Otjosondu kommandiert! Gehe morgen mit einem Transport Lebensmittel und einer Truppenabteilung ab; eine unserer Rote-Kreuz-Schwestern begleitet mich. Wann ich wieder Nachricht geben kann, weiß ich nicht. Es sollen oft Wochen und Monate vergehen, ehe man Postsachen erhält oder in die Heimat befördern kann. Meine vorläufige Adresse gebe ich unten an. Die herzlichsten Grüße Ihren sehr verehrten Eltern, Hans und Ihnen! Sorgen Sie sich nicht um mich, liebe Lena! Ich fühle mich frisch und kräftig und kann meinem Körper die größten Anstrengungen zumuten.
Immer Ihr getreuer Erwin Holm.«
Lena ließ den Brief sinken. »Hans, wo liegt denn der Ort, wohin er kommandiert ist?«
»Jedenfalls nach dem Waterberg zu. Die Zeitungen bringen ja keine so ausführlichen Berichte, daß man genau orientiert wäre. Aber zu beunruhigen brauchst du dich nicht; mit den Gefechten am Waterberg ist ja der Krieg entschieden und eigentlich schon zu Ende.«
»Ja, Kind,« fügte Vater hinzu, »bedenke nur, wie lange der Brief unterwegs war! Alles, was Erwin da schreibt, liegt schon weit zurück. Er wird längst wieder im Hauptquartier sein, hat aber natürlich vom Waterberg her weder Zeit noch Gelegenheit zum Schreiben gefunden. Jetzt wird sicher bald wieder ein Brief kommen.«
»Und wo immer er auch ist, Lena, er steht überall in des Herrn Hand,« fügte die Mutter hinzu.
»Ich wollte, er käme mal in irgendein Gefecht und schriebe dann ordentlich was davon,« erklärte Helmut und lief Werner nach, da es die höchste Zeit war, sich zur Schule zu begeben.
Bei Lena überwog die Freude über den Brief die Angst um den Freund. Vielleicht kam er nun auch bald zurück. Was sollte er noch drüben, wenn der eigentliche Krieg aus war? Wenn er Weihnachten schon zurück wäre! Ein Abglanz ihrer heimlichen Hoffnung lag auf ihren lieblichen Zügen; sie war so gleichmäßig heiter, so aufmerksam und rücksichtsvoll, daß die Eltern sich nicht genug wundern konnten, wie sehr zu ihrem Vorteil sich ihre Tochter verändert hatte. Bewirkte das der Aufenthalt bei den Trautheimern, oder sollte der Grund tiefer liegen? Wie dem aber auch sein mochte, sie freuten sich herzlich, und die Betrübnis war allgemein, als Hans und Lena zwei Tage später abreisten.
In Wernigerode wurden die Geschwister fröhlich willkommen geheißen. Lena war glücklich, als die Cousinen ihr einstimmig versicherten, sie entbehrt zu haben. Ilse und die Magdeburger Schwestern wurden erst am nächsten Tage erwartet. Sehr überrascht war Lena, als Hans jetzt beim Tee erklärte, bis übermorgen zu bleiben.
»Du hattest es doch sehr eilig, wieder nach Heidelberg zu kommen,« sagte sie verwundert. »Wenn du willst, kannst du sogar noch heute abend bis Halle reisen.«
»Du möchtest mich wohl recht schnell wieder los werden, Schwesterlein?«
»Der gute Hans bringt mir das Opfer, noch zu bleiben, Lena,« erklärte Bernd in froher Stimmung. »Er weiß, wie gern ich ihn hier habe, und denkt euch, vielleicht kann er mir auch Arbeit verschaffen!«
Die Mutter horchte hoch auf. »Wieso, Hans?« fragte sie.
»Bernd sagte mir vorhin, er habe schon seit Wochen keine Aufträge mehr erhalten; dabei sei er gerade jetzt sehr zur Arbeit aufgelegt. Da fiel mir ein, daß der Vater eines meiner Heidelberger Freunde einen großen Kunstverlag besitzt und namentlich die Herausgabe von Künstlerkarten betreibt. Wenn Bernd für diesen Herrn arbeiten könnte, wäre er auch für die Zukunft gesichert, denn, wenn der alte Herr einmal aus dem Geschäft ausscheidet, übernimmt es mein Freund, der jetzt schon Teilhaber ist und für künstlerische Ansichtskarten fast noch mehr schwärmt, als sein Vater. Gleich nach meiner Rückkehr will ich mit den Herren sprechen und ihnen einige von Bernds Zeichnungen vorlegen, die wir für diesen Zweck geeignet halten.«
»Mein lieber Junge, es wäre einfach herrlich, wenn es dir gelänge, Berni dort einzuführen,« rief die Mutter lebhaft. »Wie wollte ich dir von Herzen dankbar sein!«
»O Bernd, dann wirst du groß und berühmt und dein Name kommt in die ganze Welt,« setzte Kläre entzückt hinzu.
»Das ist gar nicht nötig, darauf kommt es auch gar nicht an,« ließ sich Lisi vernehmen. »Wenn Berni nur Beschäftigung hat und viel Geld dafür bekommt, das ist die Hauptsache.«
»Lisi,« sagte Kläre vorwurfsvoll; aber Bernd nickte dem Dickchen freundlich zu.
»Das ist recht, Lisi! Führe nur mit deinen festen Händen unsere phantastische Kläre immer wieder auf die Erde zurück, wenn sie einmal davonfliegen will.«
»Ach, das Fliegen ist so schön,« rief Klärchen schwärmerisch. »Darin mußt du mich doch verstehen, Berni!«
»Gewiß verstehe ich dich, ich bin aber gleich der Mutter doch froh, daß du in deiner Lisi ein nützliches Gegengewicht hast.«
»Sie ist auch meine Allerbeste, nicht, Dickchen?« rief Kläre zärtlich.
Lisi nickte vergnügt und langte nach der vierten Schnitte Brot.
»Wenn du erst eine alte Dame bist und tüchtig Geld einnimmst, dann führe ich dir die Wirtschaft, und dann wirst du das Fliegen wohl lassen,« sagte sie.
»Also, du weißt, Kläre, was von dir erwartet wird. Guter Verdienst ist Lisi die Hauptsache, sonst kommt sie nicht zu dir, aus Furcht, Not bei dir zu leiden,« scherzte Gertrud.
»Na ja, hungern mag ich auch nicht,« erklärte Lisi und stimmte fröhlich in das Lachen der anderen ein.
Am nächsten Tage gegen Mittag gingen Anna, Lena und Hans zur Bahn, die Magdeburger Schwestern und Ilse abzuholen. Sehr vergnügt und angeregt langten diese an. Dodo hing sich gleich an Lenas Arm; Anna, sehr gespannt auf Ilses Erlebnisse, gesellte sich zur Schwester. So trat Hans an Ruths Seite. Sie dankte ihm für den Glückwunsch, den auch er ihr zum Geburtstage geschickt hatte, und erzählte eifrig, wie schön die Doppelfeier gewesen war.
»Es ist die erste große Gesellschaft, die wir mitgemacht haben,« sagte sie. »Wäre sie nicht bei uns im Hause gewesen, hätte Dodo noch nicht teilnehmen dürfen; das hätten wir beide sehr bedauert.«
»Ja, und ich hatte den allernettsten Tischherrn,« rief Dodo über die Schulter zurück.
»Das ist Geschmacksache,« entgegnete Ruth. »Ich war mit dem meinen sehr zufrieden.«
»Ach – Vetter Gerhard! Der ist mir viel zu steif und langweilig. Da ist mir Will Fehland zehnmal lieber,« fuhr sie zu Lena gewendet fort. »Das ist nämlich der Sohn von Papas erstem Prokuristen; er war schon als Junge oft bei uns, um mit uns zu spielen. Er ist ja viel älter als wir, aber er wußte immer fein was anzugeben und hat uns oft reizende Sachen geschnitzt. Jetzt ist er schon ein paar Jahre im Geschäft. Papa kann gar nicht genug rühmen, wie gut er sich macht und wie tüchtig er ist. Papa strahlt immer, wenn er von ihm spricht. Er sagt auch, Will würde einmal eine solche Kraft für unser Geschäft werden, daß er schon jetzt mit dem Gedanken umgehe, ihn später zu seinem Teilhaber zu ernennen. Dann wird er natürlich auch mal Papas Nachfolger. Siehst du, Lena, in diesen Gedanken kann Ruth sich noch nicht hineinfinden, weil sie doch mal das Geschäft übernehmen wollte. Papa war wie aus den Wolken gefallen, als er das hörte. Er lachte zuerst hellauf. Dann sagte er, um ein so weit verzweigtes Geschäft richtig zu leiten, bedürfe es großer Sachkenntnis und Umsicht; dazu tauge nur eine männliche Kraft, nicht aber ein zartes Mädelchen, wie Ruth es sei.«
Hans und Ruth verstanden fast jedes Wort. Forschend sah er ihr in das Gesicht. Sie hielt den Kopf gesenkt, eine Falte zwischen den feinen Brauen.
»Haben Sie wirklich im Ernst daran gedacht, Fräulein Frankental, die Fabrik einmal selbständig weiterzuführen,« fragte er verwundert.
»Gewiß! Weshalb sollte ich es nicht? Heutigentags ergreifen die Mädchen doch alle möglichen Berufe; weshalb soll ich mir da nicht die Kenntnisse erringen, die dazu gehören, um später einmal, wenn ich erst älter bin, meinen Papa nötigenfalls zu vertreten? Denken Sie so gering von uns Mädchen und Frauen, daß Sie mir so viel nicht zutrauen?«
»Durchaus nicht, gnädiges Fräulein, im Gegenteil, ich schätze Ihre Willenskraft sogar sehr hoch ein. Die nötigen Kenntnisse würden Sie sich sicher aneignen. Sie vergessen jedoch einen sehr wichtigen Umstand, nämlich die Leuteverhältnisse, die von Jahr zu Jahr schlechter werden. Eine solche Anzahl Menschen, wie sie in Ihrer Fabrik tätig sind, im Zügel zu halten, dazu bedarf es einer starken Hand, eines ganzen Mannes.«
»Papa hat die Frage ja auch bereits entschieden, aber irgend etwas muß ich anfangen, wenn ich wieder zu Hause bin. Nur Musik treiben, Besuche machen und annehmen, in Theater und Konzerte gehen, das würde meine Zeit nicht ausfüllen und mich nicht befriedigen. Ich lerne es bei den Trautheimern, jeden Augenblick auszunutzen und mich ständig zu beschäftigen. Das gefällt mir. Sie dürfen mich nicht falsch verstehen, Herr Giese,« setzte sie errötend hinzu. »Es klingt fast, als ob meine guten Eltern uns nicht dazu angehalten hätten; das ist aber durchaus nicht der Fall. Sie sind beide sehr fleißig und tüchtig, Papa in seiner Fabrik, Mama in vielen Wohlfahrtseinrichtungen.«
»Vielleicht findet sich für Sie auf letzterem Felde auch eine Beschäftigung, wenn nicht, dann erlernen Sie doch die Krankenpflege! Ich glaube, das würde Ihren Neigungen sehr wohl entsprechen.«
Ruth sah zu ihm auf. »Ich will darüber nachdenken,« entgegnete sie, dann teilte ein Lächeln ihre Lippen. »Ich glaube, ich könnte mich für diesen Beruf begeistern, und das muß ich, wenn das, was ich anfange, einen guten Verlauf nehmen soll. Jedenfalls danke ich Ihnen für Ihren Rat. Wie sind Sie denn darauf gekommen?«
»Durch meinen Freund Holm.«
»Den Afrikaner?«
»Ja. Er hat es öfters von älteren Ärzten aussprechen hören, wie wünschenswert es sei, daß unsere jungen Mädchen die Krankenpflege erlernten, um im Falle der Not die erste Hilfe leisten zu können. Ich werde später auch Lena vorschlagen, wenigstens einen Samariterkurs durchzumachen. Eine eigentümlich ernste Unterhaltung führen wir übrigens, Fräulein Ruth,« fügte er scherzend hinzu.
»Oh, ich bin nun siebzehn Jahre alt,« entgegnete Ruth mit einer Würde, die ihn entzückte. »Ich freue mich, daß Sie mich ernst nehmen, Herr Giese, und mich nicht wegen meiner Ideen necken.«
»Ein ernstes Streben verdient immer ernst genommen zu werden. Doch da sind wir angelangt. Wie schade!«
»Ja,« gab sie unbefangen zu, »ich bin Ihnen herzlich dankbar für den Gedanken, den Sie in mir angeregt haben; ich werde ihn fleißig weiterspinnen.«
»Und dabei meiner nicht vergessen?« bat Hans und hielt die Gartenpforte für sie offen.
»Sicher nicht, denn ich habe ein dankbares Gemüt,« entgegnete sie heiter und schritt an ihm vorüber auf Frau Winterfeld zu, die ihnen entgegenkam.
»Mutter, es war herrlich!« rief Ilse und hielt sie einen Augenblick fest, ihr prüfend in die Augen zu sehen. »Ich habe dir viel Schönes und Gutes zu erzählen. Was für liebenswürdige Menschen die Frankental sind, ist gar nicht zu sagen.«
»Wie gut von dir, Ilse, daß du so von Papa und Mama sprichst,« rief Dodo mit feucht schimmernden Augen. »Beinahe könnte ich Heimweh bekommen, aber ich bin zu gern bei meiner lieben Tante Marie.«
Bei Tisch ging es sehr lebhaft her. Die drei Mädchen hatten viel zu erzählen und entwarfen ein anschauliches Bild der schönen Doppelfeier. Auch Lena mußte ausführlich von ihrer kurzen Fahrt in die Heimat berichten. Dann zog Frau Winterfeld sich mit ihren beiden ältesten Töchtern in ihr Zimmer zurück.
»So, Ilse, jetzt erzähle,« forderte sie die Tochter auf. »Hat Herr Frankental dir seine Fabrik gezeigt?«
»Ja, Mutter, und ich kann dir kaum schildern, welchen Eindruck das Ganze auf mich gemacht hat. So großartig, reichhaltig und künstlerisch hätte ich mir die Kunsttöpferei, die er mit seiner Ofenfabrik verbindet, nie vorgestellt! Diese entzückenden Vasen und Luxusgefäße aus Ton und Terrakotta! Dann die vielen verschiedenen Formen, von der antiken bis zur modernen, schlicht, einfach, edel, prunkvoll, jedem Geschmack sich anpassend! Ihr wundert euch gewiß, woher ich alle diese Ausdrücke habe. Herr Frankental hat mich aber auf alles aufmerksam gemacht; er ist ja selbst ein halber Künstler und besitzt einen außerordentlich feinen Geschmack. Für seine Kunsttöpferei hat er ein junges Mädchen aufgenommen, die Zeichnungen entwirft und Modelle formt. Sie war auch zur Geburtstagsfeier geladen, und Herr Frankental hat mich mit ihr bekannt gemacht. Alle sahen eine Künstlerin in ihr; sie wurde fast mit Auszeichnung aufgenommen. Mutter, du lächelst gar eigen – hast du dir das alles so gedacht?«
»Ja, Ilse! Ich habe mich in Braunlage, als Herr Frankental mich über deine Zukunftspläne befragte, offen gegen ihn ausgesprochen und auch dein Vorurteil gegen alles, was Kunstgewerbe heißt, nicht verschwiegen. Ist es ihm einigermaßen gelungen, dieses Vorurteil zu besiegen?«
»Völlig, Mutter! Ich habe gestern noch Fräulein Brand, die junge Künstlerin, besucht. Sie rät mir auch zur Kunsttöpferei, und was ich bei ihr im Atelier sah, begeisterte mich. Da bin ich erst recht zur Einsicht gelangt, daß Kunst und Kunstgewerbe völlig gleichwertige Begriffe sind. Und wenn ich darin wirklich etwas erreiche, wißt ihr, welches Glück mir dann blüht? Herr Frankental sagte mir nämlich, was Fräulein Brand dann bestätigte, die Dame sei in einer Weise überbürdet, daß unbedingt in nicht allzu ferner Zeit eine zweite Kraft eingestellt werden müsse, und die soll ich dann sein. Du mußt ihm viel von meiner Begabung erzählt haben, Mutter, daß er daraufhin noch warten will und mir Versprechungen machte.«
»Kind, was für ein Glück wäre das!« rief Mutter in freudiger Erregung.
»Ich werde Fräulein Brand noch heute verschiedene meiner Studienblätter zur Begutachtung schicken; sie will mir dann ungeschminkt ihre Meinung sagen, ob ich bei meiner Vorbildung in einem Jahre fertig werden kann. Viel länger könnte Herr Frankental wohl kaum auf mich warten. Mutter, kannst du es ermöglichen, daß ich zu Ostern nach Berlin komme?«
Die Mutter lächelte. »Frage Anna, wie das zu bewerkstelligen ist.«
»Maus, hast du die Lösung gefunden? Ja, ein Praktikus warst du immer. Sage es schnell!«
»Wir haben reichlich überlegt, Ilse, wie es anzufangen sei und sind zu dem Entschluß gekommen, daß ich zu Hause bleibe, bis du fertig bist, denn Mutter kann die Kosten für uns beide mit einem Male nicht erschwingen.«
»Das wolltest du tun? Mir dieses große Opfer bringen? O du gute Maus, das vergesse ich dir nie!« Stürmisch umarmte sie die Schwester und sah ihr strahlend in die Augen. »Wäre ich doch nur halb so gut wie du!«
Anna wehrte lebhaft ab. »Du darfst nicht besser von mir denken, als ich bin. Es ist nicht ohne Kampf abgegangen, Ilse, ich hatte mich zu sehr gefreut. Nun ist es aber überwunden, und ich freue mich herzlich, dir den Weg bahnen zu können. Ich bin schließlich auch froh, noch ein Jahr länger bei der Mutter zu bleiben und ihr tüchtig zu helfen.«
»Du gute Maus! Ich werde dir deine Selbstlosigkeit nie vergessen!«
»Arbeitet Fräulein Brand auch für die eigentliche Ofenfabrik?« fragte die Mutter.
»Nein, für den Ofen- und Kaminschmuck ist ein Maler angestellt, außerdem noch ein Bildhauer. Feine, stimmungsvolle Sachen schaffen die beiden. Sie waren auch zur Feier geladen.«
»Wohnt Fräulein Brand bei Herrn Frankental im Hause und bezieht sie ein gutes Gehalt?« erkundigte sich die praktische Maus.
»Danach habe ich nicht gefragt, aber ohne Zweifel wird es so sein; Herr Frankental ist ja ein sehr nobler Charakter. Aber im Hause wohnt sie nicht, sie ist in der Nähe der Fabrik in Pension. Vielleicht ist da später auch noch Platz für mich. Sie ist ein liebes Mädchen, vielleicht zehn Jahre älter als ich; sie hat mir außerordentlich gefallen. Ach, Mutter, ich bin unbeschreiblich glücklich! Hätte der Vater dies doch erlebt!«
»Ja, mein liebes Kind, wer hätte auch auf eine so schnelle und glückliche Lösung hoffen können! Ohne daß Ruth und Dodo zu uns ins Haus kamen, wärst du vielleicht noch lange nicht zur richtigen Einsicht gelangt; jedenfalls hätte sich die Aussicht für deine Zukunft nicht so schnell und günstig gestaltet. Dafür können wir nicht dankbar genug sein. Nun geh zu Bernd und laß dir erzählen, was er dir Gutes zu sagen hat.«
»Bernd?« Ilse eilte davon und war hoch erfreut über die Aussichten, die dem Bruder durch Hans eröffnet waren. »Wie fügt sich doch alles so glücklich für uns,« sagte sie sinnend.
»Ja, Ilse, unser Herr im Himmel führt uns überaus gnädig. Nun müssen wir aber auch das Beste leisten, dessen wir fähig sind.« Er richtete seinen siechen Körper straffer auf, aus seinen Augen leuchtete ein fester Wille.
Später stieg Ilse ins Atelier hinauf, Studienblätter für Fräulein Brand auszusuchen. Sie war bald so beschäftigt, daß sie Klärchens Eintritt überhörte.
»Ilse« – zaghaft kam die Jüngere näher – »die Mutter hat uns alles erzählt, wir freuen uns herzlich. Ich wollte dir das sagen und Glück wünschen.«
»Danke, Kläre,« entgegnete Ilse freundlich, ohne jedoch aufzusehen.
Eine Weile stand Klärchen wartend da, dann begann sie von neuem: »Ich bin sehr froh, daß du jetzt glücklich bist und wieder zeichnen willst. Darf ich dir nun mein Heft mal bringen?«
Ilse errötete, sie schämte sich. »Gewiß, hole es nur,« erwiderte sie.
Klärchen lief davon und kam sehr schnell wieder. Ilse hatte sich lange nicht um die Schwester gekümmert und freute sich jetzt über die Fortschritte, die diese gemacht hatte. »Nur,« sagte sie, nachdem sie ihre Anerkennung ausgesprochen hatte, »könnten die Linien nach meinem Empfinden sicherer und kräftiger sein. Sieh mal hier die Gabelung der Zweige! Diese Linien sind zu weich, die müssen markiger sein, besonders hier, wo der seitwärts gehende Zweig plötzlich nach oben strebt. Sieh mal – so!« Sie fuhr mit ein paar flotten, kräftigen Strichen in die Zeichnung.
»Nun, sieht er ganz anders aus, mein Baum!« rief Kläre staunend. »Darf ich von nun an öfter zu dir kommen, Ilse?«
»Freilich. Doch verstehst du auch, was ich meine? Zeig mal die Vorlage! Siehst du, da steht ein gesunder, kraftvoller Baum; du aber machst mit deinen weichen Linien einen Schwächling aus ihm. Hüte dich vor solch weichlicher Auffassung, Klärchen; sie könnte dir einmal Schaden bringen.«
»Ilse, es ist doch schwerer, als ich dachte, eine gute Malerin zu werden.«
»Freilich, Kläre, und wenn der erste Tadel dich schon mutlos macht –«
»Oh, was denkst du von mir! Ich wäre doch wirklich dumm, wenn ich mich nicht tadeln lassen wollte. Nein, besser machen will ich's! Ich werde den Baum noch einmal zeichnen.«
»Verfalle dann nur nicht ins Gegenteil; harte Linien sind ebenso unschön.«
»Ich werde mich hüten.« Klärchen lachte und umfaßte die Schwester. »Ich bin unbeschreiblich glücklich, daß du wieder gut zu mir bist, Ilse.«
»Ich war dir doch nicht böse.«
»Doch, du hattest etwas gegen mich; ich habe es wohl gemerkt. Hast du mich nun wieder lieb, Große?«
»Ja, Herz.« Ilse drückte dem Schwesterlein kräftig die Hand, worauf diese fröhlich mit ihrem Heft aus dem Zimmer ging.