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Mütterchen, Vater Carlet kommt!

Erstes Kapitel.
Der Vater Carlet

Kommt Kinder kommt; ich bring euch hier
Die schönsten Mühlen von Papier!

Vor einer Reihe von Jahren lebte zu Nantes in Frankreich ein alter Mann, der in der ganzen Stadt, bei Alt und Jung unter dem Namen Vater Carlet bekannt war.

Wer war nun Vater Carlet, und woher stammte er? Auf beide Fragen wäre er vielleicht selbst die Antwort schuldig geblieben. So lange man denken konnte, hatte man ihn die Straßen von Nantes durchwandern sehen, sobald nur der kleinste Sonnenstrahl vom Himmel hernieder schaute. »Da kommt Vater Carlet, Mütterchen, Vater Carlet kommt!« riefen die kleinen Kinder fröhlich, wenn sie von weitem die einförmigen Töne seiner Flöte vernahmen. Die Mutter wußte gar wohl, was dieser Freudenruf sagen wollte, und ein Kind mußte sehr unartig gewesen sein, wenn sie ihm zur Strafe den Sou verweigerte, den jene Worte ihr abschmeicheln sollten: »Mütterchen, da kommt Vater Carlet!«

Sobald die Flöte schwieg, hörte man einen lockenden Gesang, der die kleine Welt herbei rief.

»Kommt, Kinder, kommt; ich bring euch hier
»Die schönsten Mühlen von Papier,«

so sang Vater Carlet, sobald er an der Ecke der Straße mit seinem großen Stock erschien, an dessen Spitze eine Menge kleiner Mühlen ihre Papierflügel im Winde drehten. Er hatte sie von allen Farben, rothe, gelbe, grüne und blaue, die in riesige Bouquets zusammengebunden waren und einen allerliebsten Anblick darboten. Aber ein noch viel größeres Vergnügen machte es dann, solche hübsche, bunte Mühle in der Hand zu halten und sie in der Nähe zu betrachten. Dann steckte man sie in den Nelken- oder Resedatopf, am Fenster und wartete auf den Wind, daß er die Flügel in Bewegung setzte, die sich beim geringsten Luftzug blitzschnell herumdrehten. Keine Puppe in Sammt oder Seide, kein noch so kostbares Spielzeug hat wohl je mehr Freude gemacht, als diese kleinen Mühlen von Papier.

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Vater Carlet, der Verkäufer der kleinen Windmühlen, war ein Mann zwischen funfzig und sechzig Jahren; er hatte einen langen grauen Bart, war nicht hübsch, nicht häßlich und ziemlich unsauber und nachlässig in seinem Anzug. Jahr aus, Jahr ein trug er ein Paar grobe Beinkleider, deren Farbe abwechselnd vom schwärzlichen Braun in ein staubiges Dunkelgrau überging, wie sie das Alter und die Einflüsse von Luft und Wetter und Straßenstaub eben im Laufe der Zeit gefärbt hatten. Ein langer, dunkelgrüner Ueberrock war gerade so alt und abgetragen wie die Beinkleider, und der Schnitt dieses wunderlichen Kleidungsstückes machte weder an Schönheit noch an Eleganz irgend welche Ansprüche. Der Rock hatte nur den einen Zweck, seinen Besitzer vor Kälte und Regen zu schützen, und diesen Zweck erreichte er vollständig, alles andere kümmerte Vater Carlet nicht. Sein Ueberrock und er waren mit einander alt geworden, und es wäre ganz undenkbar gewesen, sich den alten Windmühlenhändler anders, als in diesem langen, altmodischen Kleide vorzustellen.

Ebenso gehörte zu Vater Carlet auch die sonderbare Mütze mit den breiten Ohrenklappen und dem großen ledernen Schirm, der seine Augen bedeckte, und wäre der Alte eines Tages in einem andren Anzuge in den Straßen von Nantes erschienen, so hätten seine unzähligen Freunde, die kleinen Kinder der Stadt, ihn sicher gar nicht wieder erkannt.

Das Auffallende in seiner Erscheinung wurde noch durch seinen eigenthümlich schwankenden Gang vermehrt, bei dem die kleinen Mühlen in ein stetes Schaukeln und Zittern geriethen, gerade als wollten sie sich dem kleinen Publicum von allen Seiten präsentiren. Die bösen Zungen behaupteten, daß die Schenkwirthe von Nantes an diesem wunderlichen schwankenden Gange des Alten schuld wären; aber darin thaten sie Vater Carlet Unrecht. Wenn er sich auch öfters durch einen Trunk erfrischte, so konnte man doch nie sagen, daß er mehr genoß, als ihm gut war. Ein einziges Mal hatte man ihn hinfallen und mit seiner ganzen Waare in den Rinnstein rollen sehen; aber das war vor zehn Jahren einmal geschehen und seit jener Zeit nie wieder.

Ueberhaupt war Carlet kein schlechter Mensch, aber gut konnte man ihn freilich ebensowenig nennen; denn wenn er auch noch niemals Jemandem etwas zu leide gethan hatte, so konnte er sich doch auch nicht rühmen, irgend etwas Gutes vollführt zu haben. Der Hauptzug seines Characters war Sorglosigkeit und in Folge dessen eine unendliche Faulheit.

Für wen hätte er aber auch arbeiten und sich sorgen sollen? Er stand ganz allein in der Welt. Und für sich selbst? Er war nicht verwöhnt und gab weder etwas auf gute Speise, noch auf Bequemlichkeit. Er wollte nur möglichst wenig Mühe und Arbeit haben, und es gab keinerlei Beschäftigung, an der er rechten Gefallen fand. So machte er denn kleine Windmühlen und verkaufte sie. Hatte er genug Geld eingenommen, um die Ausgaben des Tages davon zu bestreiten, so trug er den Rest seiner Mühlen nach Haus, und dann erholte er sich von seiner Arbeit, indem er seine Pfeife irgendwo im Freien rauchte. Dabei machte er keine Ersparnisse, aber er hatte auch keine Schulden, und das war ihm die Hauptsache.

Er bewohnte ein enges, kleines Kämmerchen, dessen einziges Mobiliar lange Zeit aus einem unbehauenen Baumstamm bestand, auf den er sich setzte, und aus einer Decke, in die er sich des Nachts einhüllte. Hierzu hatte er vor einigen Jahren von einem Nachbar einen Strohsack, einen Schemel und einen wackligen Tisch geerbt, den man gegen die Wand lehnen mußte, damit er nicht umfiel. Aber trotz seiner Schäden war dieser Tisch Vater Carlet von großem Nutzen, denn er gebrauchte ihn bei der Anfertigung seiner kleinen Papiermühlen.

Das Stübchen lag im vierten Stockwerk eines alten Hauses, dessen zahlreiche Bewohner nicht zu der besten Classe gehörten. In all den vielen, stets halboffnen Thüren, auf allen Treppen und Corridoren, überall sah man zerlumpte Kinder spielen und hörte Zank und Streit und wüstes Geschrei. Aber Carlet fühlte sich nicht davon belästigt; es war ihm völlig gleichgültig, daß die Nachbarin aus dem dritten Stock des Diebstahls angeklagt war, und daß andre Bewohner des Hauses wegen nächtlicher Ruhestörung im Gefängniß saßen. Er begnügte sich damit, selbst keine unrechten Handlungen zu begehen, bei andern aber störten sie ihn nicht und waren ihm gleichgültig.

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