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Frau Terrasson hatte in der Küche noch einiges für das Mittagsessen vorzubereiten; sie nahm Ella deshalb von ihrem Schooße und setzte sie bequem in Paul's kleinen Lehnstuhl zurecht. Der Fuß des Kindes wurde auf ein Kissen gelegt und in nasse Tücher gewickelt, die von Zeit zu Zeit wieder frisch angefeuchtet wurden. Ruhig ließ Ella alles mit sich geschehen, und von Schmerz und Erregung erschöpft, legte sie das Köpfchen in den Lehnstuhl zurück. Alles, was um sie her vorging, erschien ihr wie ein Traum, und lächelnd sah sie dem geschäftigen Kommen und Gehen der jungen Hausfrau zu, und dem Eifer der Kinder, welche ihre Bücher und Spielsachen in Ordnung brachten und dazwischen sich besorgt erkundigten, ob ihr kleiner Gast auch nichts bedürfe. Ella empfand ein so wohlthuendes Gefühl von Ruhe, ein solches Behagen, daß sie ganz glücklich gewesen wäre, hätte nicht ein immer wiederkehrender Gedanke ihr Herz schwer bedrückt. Es war nicht der Gedanke an Vater Carlet, der sie beunruhigte; an ihn dachte sie mit Vergnügen und freute sich darauf, wenn er sie morgen wieder zur gemeinsamen Wanderung durch die Stadt abholen würde. Aber mit stiller Angst kehrten ihre Gedanken immer wieder zu dem verhaßten, kleinen Mädchen auf der Straße zurück, und besorgt fragte sie sich immer aufs neue: »Ob der Stein sie vielleicht doch verletzt hat? Und ob Frau Terrasson wohl so gut zu mir wäre, wenn sie von meiner bösen That wüßte?«
Die Mittagsstunde war indessen herangekommen, und jubelnd wurde Herr Terrasson bei seiner Heimkehr von der ganzen Familie begrüßt. Mit wenigen Worten berichtete die junge Frau ihrem Gatten, welch kleinen Gast ihr Haus beherberge, und die Kinder setzten die Erzählung fort und sprachen dabei alle vier auf einmal laut durch einander, so daß der Vater kein Wort verstehen konnte. Endlich zogen sie ihn in die Nebenstube. Freundlich begrüßte er die kleine Ella, und alle setzten sich dann zum Essen um den Tisch. Nur die kleine Patientin mußte ruhig auf ihrem Platz sitzen bleiben. Paul und Georg stellten einen kleinen Tisch vor sie hin, Pauline bedeckte ihn mit einer weißen Serviette, setzte den Teller darauf, brachte Messer, Gabel, Löffel und ein Glas herbei und stellte neben dasselbe sogar eine kleine Wasserflasche. Und während des Essens liefen die vier Kinder fortwährend hin und her, und die Mutter sah lächelnd zu, wie sie mit einander wetteiferten, Ella zu bedienen. Eine Prinzessin konnte nicht geschäftigere Diener haben, als Carlet's armes, kleines Pflegetöchterchen. Zum ersten Male in ihrem Leben aß Ella hier eingemachte Früchte; ihr zu Ehren hatte Frau Terrasson ein Schüsselchen Mirabellen auf den Tisch gesetzt, einen Luxus, den sie sich sonst nur am Sonntag gestattete.
»Ach, wenn Ella sich doch alle Tage den Fuß verstauchte,« sagte der kleine Paul mit strahlenden Augen, als er die Früchte gewahrte.
Die Kinder lachten, aber die Mutter verwies dem Kleinen die unbedachte Rede. Sie erinnerte ihn daran, wie viel Schmerzen die arme Ella von ihrem Unfall habe, und der Kleine erklärte nun bestürzt, daß er daran gar nicht gedacht habe.
Nachdem das Mittagsessen beendet, das Geschirr fortgetragen und der Tisch abgedeckt war, rief der Vater seine Kleinen zu sich heran.
»Seid ihr heut auch brav und fleißig gewesen?« fragte er mit ernster Miene. »Zeigt mir einmal eure Arbeiten her.«
Die Kinder sprangen fort, holten Hefte und Bücher aus ihren Kästen und zeigten sie dem Vater. Dieser prüfte die Arbeiten genau, ertheilte dem einen Lob, tadelte die schlechte Schrift des andern, ließ Pauline ein Gedicht aufsagen und fragte Georg nach den Flüssen und Gebirgen eines Landes. Ella hörte dies alles voller Verwunderung an; aber ihr Erstaunen wurde noch größer, als der Vater nun auch die Handarbeiten des kleinen Mädchens prüfte.
»Du bist mein fleißiges Kind,« sagte er zu Paulinen und strich ihr zärtlich über die dunkeln Locken. Du wirst einmal eine brave Hausfrau werden, denn du verstehst das Nähen und Stricken so gut, wie das Schreiben.. Wie freue ich mich auf den Winter, wenn ich die Socken tragen werde, die du mir gestrickt hast. Sie werden mich sicher doppelt warm halten, und ich werde dabei immer an meine gute, kleine Tochter denken.«
Die letzten Worte Herrn Terrasson's gaben Ella wieder neuen Stoff zum Nachdenken. Sie sagte sich, daß Vater Carlet gewiß ebenso viel Freude, wie Paulinen's Vater, über ein Paar Strümpfe haben würde, die die fleißigen Hände seines Kindes gestrickt hätten. Fast bedauerte sie jetzt, die Nadeln immer so rasch bei Seite geworfen zu haben, und wäre Frau Peters in diesem Augenblick zu der Kleinen gekommen, sie hätte eine willige und aufmerksame Schülerin gefunden. Aber der günstige Augenblick blieb unbenutzt. Ella dachte bald nur daran, wie groß Carlet's Füße und demzufolge auch seine Strümpfe seien, und die Lust zur Arbeit war wieder verschwunden.
»Ich kann es nun einmal nicht; es ist zu schwer für mich,« sagte sie ärgerlich vor sich hin; aber doch war sie verstimmt, daß andre Kinder mit Leichtigkeit eine Arbeit vollbrachten, die ihr selbst nicht gelingen wollte.
»Jetzt müßt ihr aber zu Bett gehen,« unterbrach Frau Terrasson endlich das muntere Geplauder der Kinder; »es ist spät geworden. Für Ella habe ich im Garderobenzimmer ein Bett zurecht gemacht. Sagt jetzt gute Nacht und kommt.«
Zärtlich umarmten die Kinder ihren Vater und verließen dann das Zimmer. Frau Terrasson entkleidete indessen Ella, deren Fuß sich im Laufe des Tages erheblich gebessert, und legte sie in das Bett, das sie für die Kleine zurecht gemacht hatte. Dann ging sie in das angrenzende Zimmer. Die Thür desselben war weit geöffnet, und Ella konnte deutlich verstehen, wie die Mutter liebevoll mit den Kindern sprach. Dann schwieg die junge Frau, und ein leises Murmeln von Kinderstimmen drang an das Ohr der kleinen Lauscherin. Aber es war nicht das gewöhnliche Schwatzen und Lachen ihrer kleinen Freunde; die sonst so fröhlichen Stimmen klangen ernst und feierlich. Ella horchte auf, aber nur die beiden Worte »Lieber Gott!« drangen bis zu ihr. Sie beugte sich weit aus dem Bette, und nun konnte sie das Nebenzimmer vollständig übersehen.
Die vier Kinder knieten in der Mitte der Stube; hinter ihnen stand die Mutter. Sie half dem Gedächtniß der Kleinen nach, wo ihnen ein Wort fehlte und fügte den kindlichen Gebeten noch einzelne besondere Bitten bei. So sagte sie jetzt, als die Kinder ihr Gebet beendet hatten: »Lieber Gott, wir bitten dich, heile die Kranken alle, und auch unsre liebe Ella,« und die Kinder wiederholten sogleich:
»Bitte, lieber Gott, mache Ellas kranken Fuß recht bald wieder gesund.«
Nun schwiegen die drei Knaben und Pauline sagte allein mit lauter Stimme ein Gebet, das die Geschwister nur leise mitsprachen.
»Unser Vater, der du bist im Himmel,« betete Pauline.
Ella horchte gespannt auf; Paulinen's Worte machten einen tiefen Eindruck auf sie, obgleich sie ihren Inhalt nicht recht verstand. Als das Gebet beendet war, lauschte sie noch immer bewegungslos, in der Hoffnung, die schönen Worte noch einmal zu hören. Wie wünschte sie zu wissen, ob der gute Vater im Himmel, zu dem die Kinder so vertrauensvoll sprachen, der liebe Gott sei, von dem Vater Carlet ihr erzählt hatte. Aber wen sollte sie darnach fragen?
Sie hoffte vergebens aus eine Wiederholung des Gebets. Die Kinder sprangen in ihre Betten, und die Mutter trat noch an das Lager eines jeden, sprach freundliche Worte mit ihnen und drückte zur guten Nacht einen Kuß auf ihre frischen Lippen. Ella sah dem allen schweigend zu, und eine tiefe Trauer zog in das Herz der kleinen Waise. Sie dachte wieder daran, daß auch ihre Mutter sie einst allabendlich zur Ruhe gebracht und einen zärtlichen Kuß auf ihre Stirn gedrückt hatte. Aber jetzt hatte sie keine Mutter mehr, ihre Eltern waren beide von der Erde geschieden, und auch die gute, junge Frau, die so freundlich für sie sorgte, hatte sie doch nicht so lieb, wie ihre eignen Kinder.
»Ich habe niemand, niemand auf der Welt, der mich so zärtlich liebt; ohne eine Mutter kann doch kein Kind glücklich sein,« schluchzte sie leise vor sich hin und kam sich dabei so einsam und verlassen vor, daß sie die Liebe und Fürsorge des guten Vater Carlet ganz vergaß. Trostlos warf sie sich auf ihr Lager zurück und vergrub das Gesicht in die Kissen.
Als Frau Terrasson das Schlafzimmer verließ, trat sie noch einmal an Ella's Bett, und mit Verwunderung bemerkte sie, daß die Kleine noch nicht schlief. Sie beugte sich zu ihr herab und fragte, ob der Fuß auch nicht mehr schmerze, und Ella antwortete darauf mit so matter, trauriger Stimme, daß die junge Frau erstaunt zu ihr niederblickte. Sie legte die Kissen des kleinen Bettes zurecht, wie sie vorher bei den andern Kindern gethan hatte, und gespannt folgte Ella all ihren Bewegungen und sagte sich dabei traurig in ihrem Innern: »Aber einen Kuß wird sie mir doch nicht geben, sie ist ja nicht meine Mutter.«
Konnte Frau Terrasson die Gedanken des Kindes auf seinem betrübten Gesichtchen lesen? Sie hatte schon freundlich »Gute Nacht, Ella,« gesagt und wollte eben das Zimmer verlassen, als sie noch einen Blick auf ihre Pflegebefohlene warf. Sogleich kehrte sie an das Bett zurück, beugte sich über die Kleine und drückte sie zärtlich an ihre Brust.
»Ich danke Ihnen, liebe Frau Terrasson,« sagte Ella mit strahlenden Augen und schlang beide Arme um den Hals der jungen Frau.'
Frau Terrasson hatte jetzt Ella's Gedanken vollständig begriffen. Sie dachte daran, welch trauriges Leben ihre eignen Kinder führen würden, wenn der liebe Gott ihnen die Eltern nähme, und tiefes Mitleid mit der armen, kleinen Waise zog in ihr Herz. Sie setzte sich an ihr Bett, nahm sie in ihre Arme und flüsterte ihr freundliche Worte zu. Alle Traurigkeit wich nun aus Ella's Gesichtchen; ihre Augen strahlten immer glücklicher, sie schmiegte sich an die Brust der jungen Frau, und endlich fragte sie mit leiser Stimme: »Liebe Frau Terrasson, was soll denn das heißen: Unser Vater, der du bist im Himmel?«
Frau Terrasson sprach dem Kinde nun noch einmal das Gebet des Herrn vor und erklärte es in einfacher, verständlicher Weise. Sie war daran gewöhnt, die Kinder in das Verständniß der heiligen Lehren einzuführen, und so konnte Ella leicht ihren Worten folgen. All ihre Aengstlichkeit war nun verschwunden, und sie wagte sogar, hie und da ihre kindlichen Fragen dazwischen zu werfen.
»Wann kommt denn das Reich Gottes zu uns, das alle Menschen fromm und gut macht?« fragte Ella. »Kommt es bald?«
»Ich weiß es nicht, mein gutes Kind; aber jeder Mensch kann es zu aller Zeit in seinem Herzen haben. Sieh, wenn ein kleines Mädchen so viel Gutes thut, als es kann, wenn es gar nicht mehr unartig und faul ist, dann ist das Reich Gottes zu ihm gekommen. Verstehst du mich?«
»Ja, ganz gut,« sagte Ella ein wenig verwirrt, denn sie fühlte, daß das Reich Gottes in ihr kleines Herz noch nicht eingezogen war.
Frau Terrasson erklärte nun weiter; als sie aber bis zu den Worten gekommen war: »Und vergieb uns unsre Schuld,« brach Ella plötzlich in heftiges Weinen aus, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und drückte den Kopf in die Kissen.
Verwundert nahm die junge Frau die Kleine wieder in ihre Arme. Sie redete ihr freundlich zu, fragte sie sanft nach der Ursache ihrer Thränen, und Ella gestand endlich tief beschämt, wie unartig sie am verflossenen Morgen zu ihrer früheren Mitschülerin gewesen sei. Auf Frau Terrasson's Fragen erzählte Ella dann auch von ihrem ersten und einzigen Schultage, und Frau Terrasson konnte nur mit Mühe das erregte Kind wieder beruhigen. Endlich fuhr sie fort:
»Und führe uns nicht in Versuchung. Sieh, mein Kind, die Versuchung war für dich die Lust, den Stein zu werfen. Wenn du zu Gott gebetet hättest, würde er dies böse Gefühl in dir unterdrückt haben.«
»Wäre er selbst vom Himmel herunter gestiegen und hätte mich verhindert, den Stein zu werfen?«
»Der liebe Gott hat nicht nöthig, vom Himmel herabzusteigen; er ist überall. Aber wenn du nur an ihn gedacht hättest, mit dem Wunsche, immer gut und fromm zu sein, so wäre dir der Gedanke an diese Unart gar nicht gekommen. Aber nicht wahr, meine Kleine, so etwas kommt nie wieder vor? – Nun mußt du aber schlafen, denn du bist sehr müde, Ueber Nacht wird dein Fuß wieder ganz gesund werden, und wenn morgen dein guter Vater kommt, springst du ihm wieder vergnügt entgegen. Gute Nacht, mein liebes Töchterchen.«
Nach wenigen Minuten war Ella ruhig und zufrieden eingeschlafen, und Frau Terrasson nahm ihren Arbeitskorb und ging damit in die Wohnstube zu ihrem Gatten. Schweigend setzte sie sich an den Tisch, besserte einiges an den Kleidern der Kinder aus und horchte dabei von Zeit zu Zeit nach dem Zimmer der Kinder hinüber. Während die Feder ihres Gatten fleißig über das Papier flog, beschäftigten sich die Gedanken der guten Frau unablässig mit der kleinen Waise.
»Sie muß etwas Tüchtiges lernen,« überlegte sie bei sich, »um eine gesicherte Zukunft vor sich zu haben. Sie muß einmal auf anständige Weise ihren Lebensunterhalt verdienen können. Aber in diese Schule kann man sie nicht wieder schicken, und in jeder anderen würde es ihr nicht besser ergehen. – Wie wäre es, wenn ich sie alle Tage zu uns kommen ließe? Paulinen würde es zu doppeltem Fleiße anspornen, wenn sie Ella's Lehrmeisterin wäre, und auch die Knaben müßten lernen, im Umgang mit der Kleinen sanfter und gefälliger zu werden. Wie zuvorkommend und artig sorgten sie doch heut für Ella; ich habe sie nicht ein einziges Mal streiten hören. Ich will doch einmal mit meinem Manne darüber sprechen.«