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Während die Jahre in ruhigem Laufe dahinflossen, wuchs Ella zu einem kräftigen Mädchen heran. Sie war jetzt vierzehn Jahre alt und konnte nicht nur lesen und schreiben, stricken und nähen, sondern zeigte auch für alle feineren Arbeiten eine große Geschicklichkeit und außerordentlich guten Geschmack. Vater Carlet war ganz verliebt in sein geschicktes, hübsches Kind, und Tag und Nacht sann er darüber nach, womit er ihr wohl eine besondere Freude bereiten könne. Endlich kam er auf eine glückliche Idee.
»Ich kaufe ihr ein neues Kleid, das wird ihr gewiß die größte Freude machen!« sagte er und rieb sich vergnügt die Hände. »Das arme Ding hat ja immer nur alte Sachen getragen. Sie muß wirklich einmal etwas hübsches haben und auch ein neues Hütchen mit rosenrothen Bändern dazu. Wie allerliebst wird sie darin aussehen! Jeder wird den alten Carlet um sein hübsches Kind beneiden. Ja, ja, sie muß ein neues Kleid haben … Aber freilich, das wird viel kosten,« fügte er nachdenkend hinzu. »Wo soll ich das Geld hernehmen? Wieviel wohl dazu nöthig ist? … Frau Peters mag ich nicht fragen, die darf vorher nichts davon wissen. Sie würde doch nur wieder die Achseln zucken und sagen: Wozu ein neues Kleid, wenn die alten noch gut sind? Ein armes Mädchen wie Ella braucht keinen Putz. Das bringt sie nur auf schlechte Gedanken.« Lächelnd schüttelte Carlet den Kopf, als er an diese Worte dachte, die Frau Peters ihm einmal gesagt hatte; denn er war fest überzeugt, daß in Ellas hübschem Köpfchen kein Raum für schlechte Gedanken sei. »Nein, nein, Frau Peters darf ich nicht in das Geheimniß ziehen. Aber Frau Terrasson? Wird sie mich nicht für undankbar halten? Sie schenkt uns ja stets alles, was das Kind braucht; wird sie es billigen, daß ich ein neues Kleid kaufen will?«
Nachdenklich stützte Carlet den Kopf in die Hand und beschloß endlich, eine günstige Gelegenheit abzuwarten, um mit Frau Terrasson über sein Vorhaben zu sprechen. Zunächst fehlten ihm ja noch die Mittel zur Ausführung desselben, und seine nächste Sorge war, sich Geld zu verschaffen. Wie ein Geizhals war er jetzt auf den Verdienst bedacht, und allabendlich, wenn er an Frau Peters die Einnahme des Tages ablieferte, behielt er heimlich einige Sous zurück, die er in ein altes Tuch knüpfte und in der untersten Ecke seines Kastens verbarg.
Aber ach, nur langsam wuchs Carlet's Schatz auf diese Weise, und mit Betrübniß sah er die Erfüllung seines Wunsches noch auf lange Zeit hinausgeschoben, wenn er nicht besondere Wege einschlug, um rascher zum Ziele zu gelangen.
Er hatte bisher niemals die entfernteren Vorstädte von Nantes besucht, denn der weite Weg war dem alten Manne zu beschwerlich gewesen. Jetzt aber scheute er keine Anstrengung; täglich eilte er hinaus bis in die entlegensten Straßen und ließ auch hier von Haus zu Haus seinen Lockruf erschallen. Wenn er dann Abends spät müde und erschöpft nach Hause kam, und Ella geschäftig herbei eilte, um es ihm bequem zu machen, da ahnte das kleine Mädchen nicht, für wen sich Vater Carlet so müde gelaufen hatte. Und ebenso wenig wußte sie etwas davon, daß der alte Mann, sobald sie eingeschlafen war, heimlich sein Lämpchen wieder anzündete, um bis tief in die Nacht zu arbeiten und einen größeren Vorrath seiner kleinen Mühlen zu schaffen.
Wie sehr hatte doch die Zeit den alten Carlet verändert! Jetzt fiel es ihm nicht mehr ein, die Hände träge in den Schooß zu legen, wenn er für zwei Tage zu leben hatte, wie ehemals; jetzt dachte er nur an sein Kind, und kein Opfer war ihm für dasselbe zu groß.
Indessen verrann Woche auf Woche, und Vater Carlet's Ersparnisse hatten schon eine ganz hübsche Höhe erreicht. Aber noch immer hatte er keine Gelegenheit gehabt, um Frau Terrasson seine Wünsche vorzutragen.
Da kam eines Tages Frau Robert zu dem Alten und gab ihm einen ganz vortrefflichen Vorwand für die Anschaffung des neuen Kleides. Die gute Frau wollte ihre Nichte verheirathen, und zu dieser Hochzeit brachte sie für Vater Carlet und Ella eine Einladung. Sie ließ nicht eher mit Bitten nach, bis Carlet ihr das Versprechen gegeben hatte, mit seinem Töchterchen dem Feste beizuwohnen.
Welch bessern Vorwand konnte Carlet sich wünschen! Er machte sich sogleich nach der Rosenstadt auf den Weg, und Frau Terrasson war ganz gerührt, als sie das Anliegen des Alten erfuhr. Sie versprach ihm, für die ersparte Summe nicht nur ein Kleid, sondern sogar einen vollständigen Anzug zu besorgen, und als er am andern Morgen mit Ella bei ihr eintrat, übergab sie ihm geheimnißvoll ein großes Packet. Lächelnd öffnete es Carlet, und vor den erstaunten Blicken seines Kindes breitete er ein allerliebstes, rosa und weiß gestreiftes Kattunkleid aus, ein weißes Hütchen mit rosa Bändern, weiße Strümpfe und ein Paar neue, schwarze Schuhe. Still und verwundert schaute Ella dem Alten zu, aber kaum hatte sie begriffen, daß all diese Herrlichkeiten ihr Eigenthum sein sollten, so jubelte sie laut auf und war ganz außer sich vor Wonne. Sie lachte und weinte durcheinander, hüpfte und sprang und nahm voll Entzücken ein Stück nach dem andern in die Hand, besah es, küßte es, und dann lief sie zu Vater Carlet und erstickte ihn fast mit ihren Zärtlichkeiten.
Der Alte hatte sich bei Ella's lautem Jubel in eine Ecke des Zimmers zurückgezogen, und von hier aus beobachtete er nun mit stillem Entzücken die Freude seines Kindes, während Thränen der Rührung über seine gefurchten Wangen liefen.
Kaum hatte Vater Carlet sein überglückliches Kind verlassen, um seiner täglichen Beschäftigung nachzugehen, als Frau Terrasson auch schon das neue Kleid zur Hand nahm und es für Ella zuschnitt. Es waren nur noch wenige Tage bis zu der Hochzeit in Couëron, und Ella mußte sich eifrig an die Arbeit machen, wollte sie das Kleid bis zu dem Feste vollenden. Noch niemals hatte sie solchen Eifer bei der Arbeit gezeigt, und obgleich die Nadel mit rasender Geschwindigkeit durch den Stoff flog, waren die Näthe doch von musterhafter Sauberkeit.
Frau Terrasson beobachtete ihre kleine Schülerin mit besorgten Blicken; seit das neue Kleid in ihren Händen war, schien sie für nichts anderes mehr Gedanken zu haben. Und die Sorge der klugen Frau war nicht ohne Grund. Wie Vater Carlet auch darüber dachte, Ella war nicht frei von Fehlern. Als kleines Kind schon war sie von einer peinlichen Sorgsamkeit und Sauberkeit gewesen, und Frau Peters hatte ihre Freude daran, wie sorgfältig Ella jetzt schon alle Arbeit im Hause verrichtete. Sie machte die Betten, fegte, stäubte ab und besorgte alles zur vollen Zufriedenheit der alten Wirthin. Dieselbe Sauberkeit zeigte sie auch stets an ihrem eigenen Anzug; aber nach und nach fing sie an, dieselbe zu übertreiben. So geschmackvoll wie möglich ordnete sie ihre ärmlichen Kleider, und wo ihr ein Spiegel ihre niedliche Figur zeigte, betrachtete sie dieselbe mit aufrichtigem Wohlgefallen.
Vater Carlet hatte dies alles natürlich nicht bemerkt, aber der alten Wirthin war es nicht entgangen. Sorgenvoll schüttelte sie den Kopf, als Ella sich an dem festgesetzten Hochzeitstage so zierlich wie möglich schmückte und dann an Carlet's Seite am frühen Morgen das Haus verließ. Carlet ahnte nicht, welche besorgten Blicke ihnen folgten; er betrachtete nur mit strahlenden Augen sein geliebtes Kind, das ihm in dem kleidsamen Anzuge schöner denn je erschien.
Ella aber achtete kaum auf ihren Begleiter, der auch heut seinen gewöhnlichen Anzug trug. Sie war noch so sehr mit ihrer eignen, niedlichen Person beschäftigt, daß sie für nichts anderes Gedanken zu haben schien.
Auch während der ganzen Fahrt blieb sie still und einsilbig; sie bog nur immer wieder den Kopf ein wenig vor, und versuchte, in den Fensterscheiben ihr Spiegelbild zu sehen. Aber die Scheiben waren blind, und was hätte sie auch Neues darin entdecken können? Schon während des ganzen Morgens hatte sie so unzählige Male bewundernd vor dem kleinen Spiegel in ihrem Zimmer gestanden, daß sie jedes Fädchen ihres Anzugs aufs Genaueste kannte.