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Dann muß dich der liebe Gott sehr lieb haben.

Sechzehntes Kapitel.
Wer ist der liebe Gott?

Jetzt war nicht mehr die Rede davon, daß Ella die Schule besuchen müsse. Carlet überhäufte seinen kleinen Liebling während des ganzen Abends mit Zärtlichkeiten, und am andern Morgen gab er der Kleinen wieder ihre Besen in die Hand, und sie begleitete ihn, wie bisher, auf seinen Wanderungen.

Er kümmerte sich nicht um die Gegenreden der alten Frau Peters, die ihm immer wieder vorhielt, daß er das Kind doch nicht stets vor aller Berührung mit anderen Leuten bewahren könne. Alle Einwürfe der Alten waren vergebens. Carlet war entschlossen, das Kind nicht wieder dem Spott ihrer Gefährten Preis zu geben, und so war sie wieder seine Begleiterin, verkaufte Besen und nahm das Geld für die Mühlen in Empfang. Aber kein freundlicher Dank kam dabei mehr über ihre Lippen; zerstreut wanderte sie neben dem Alten her, aus einer Straße in die andre, und sinnend sah sie dabei vor sich nieder. Eine Fluth von Gedanken stürmte auf sie ein: Wie lieblos waren gestern die Kinder in der Schule zu ihr gewesen! Waren alle Menschen wohl so böse zu denen, die ohne Schutz und ohne Freunde in der Welt standen? Und war es im Leben unbedingt nöthig, alles das zu lernen, was sie gestern in der Schule gehört hatte? Wie gut war Vater Carlet gestern wieder zu ihr gewesen, wie hatte er sie beschützt und mit so kräftigen Worten vertheidigt! Woher wußte er, der sonst immer so schweigsam war, nur plötzlich all diese strengen Worte? Und was hatte er damit gemeint, als er zuletzt den Kindern in so ernstem Tone zurief: »Der liebe Gott wird euch dafür bestrafen!«

Diese Gedanken beschäftigten das Kind während des ganzen Tages, und als Carlet am Abend noch einmal an ihr Bett trat, schlang sie die Arme fest um seinen Hals und flüsterte zärtlich:

»Ich habe dich so sehr lieb!« und nach einer Weile fügte sie zaghaft hinzu: »Sage mir doch, wer wird sie strafen?«

»Wen denn, mein Liebling?«

»Nun, die bösen, kleinen Mädchen. Du hast doch zu ihnen gesagt: der liebe Gott wird euch strafen. Wer ist der liebe Gott?«

Carlet schwieg einen Augenblick betroffen, dann erwiederte er zögernd:

»Ja, ich weiß dir das nicht recht zu erklären. Es ist eben der liebe Gott, den kennt doch ein jeder.«

»Ich kenne ihn aber nicht. Lernt man von ihm in der Schule?«

»In der Schule? … Ja, gewiß; aber man kennt ihn auch, ohne daß man in die Schule geht; denn ich bin niemals in einer Schule gewesen, aber vom lieben Gott weiß ich doch.«

»Dann erzähle mir doch von ihm. Er wird also die kleinen Mädchen strafen? Was wird er denn mit ihnen machen?«

»Das weiß ich nicht; aber strafen wird er sie sicherlich, denn er ist gut und liebt die Bösen nicht. Er hat nur die guten Menschen lieb.«

»Dann muß er dich sehr lieb haben,« sagte das Kind und schmiegte sich an die Brust des Alten. »Aber wo wohnt der liebe Gott?«

»Im Himmel, im schönen, blauen Himmel, an dem die Sterne stehen. Er hat die ganze Welt gemacht, die Sonne und die Sterne, die Erde, die Menschen, und alles, was wir sehen.«

»Die Wolken verbergen den lieben Gott wohl immer? Ich habe ihn da oben noch nie gesehen.«

»Es kann ihn niemand sehen, aber er ist deshalb doch im Himmel und liebt die guten Menschen. Weißt du nun, wer der liebe Gott ist?«

»Ja, lieber Vater Carlet, ich danke dir. Das hatte mir bis jetzt noch niemand gesagt.«

Ruhig drückte Ella nun den Kopf in die Kissen. Ihre Händchen, welche Carlet's Finger fest umschlossen hielten, fielen matt auf die Decke zurück, die Augen schlossen sich, und im Traume weilten ihre Gedanken noch immer bei dem lieben Gott, der im Himmel wohnt und zwischen den Sternen hindurch auf die guten Menschen herab sieht.

Auch Carlet suchte sein Lager auf, aber lange Zeit blieb der Schlaf ihm fern. Die Fragen des Kindes hatten sein Herz lebhaft bewegt.

»Ich kann mich nicht besinnen, wann ich zuerst vom lieben Gott hörte,« murmelte er vor sich hin. »Ich hätte gedacht, Ella wüßte das längst. Sie wird wohl noch manches lernen müssen; aber sie soll alles, was ihr nöthig ist, von mir lernen, denn in die Schule schicke ich das arme Ding nicht wieder. Wer weiß, was sie dort lernen würde bei dieser unfreundlichen Lehrerin und den bösen Kindern. Ich bin freilich nur ein unwissender, alter Mann; ich habe nichts aus Büchern gelernt, aber doch habe ich während meines langen Lebens viel Gutes gehört. Das will ich ihr erzählen und will darüber nachdenken, damit ich dann ihre Fragen beantworten kann. Heut Abend wußte ich ihr recht schlecht Rede zu stehen; sie wird mich sicher gar nicht verstanden haben. Ich muß einmal darüber nachdenken, wie man kleinen Kindern dergleichen erklärt; es ist so schwer, immer die richtigen Worte zu finden. Wie schade, daß ich so unwissend bin; bis jetzt habe ich daran noch nie gedacht.«

Lange noch beschäftigten solche Gedanken Carlet's Seele, bis die Müdigkeit endlich auch ihn überwältigte, und der Schlaf seine müden Augen schloß.

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