Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Die Kinder oben aus der Dachstube waren hier und haben nach dir gefragt,« sagte Frau Lebeau eines Tages, als Ella mit einem Korbe am Arm vom Markte heimkehrte. »Mein gutes Kind, ich wollte dich schon immer fragen, wie du dazu kommst, die Kinder so hierher zu gewöhnen. Sie gehen in Lumpen einher und sind so schmutzig und unordentlich. Ich begreife überhaupt nicht, wie diese Leute hier in das Haus gekommen sind, und warum du dich so viel um sie bekümmerst. Vater Carlet sollte das gar nicht erlauben.«
»Die Leute sind arm, liebe Frau Lebeau, das ist wahr; aber sie sind nicht schlecht, und Vater Carlet erlaubt mir gern zu ihnen zu gehn, weil ich ihnen nützlich sein kann. Man muß sich doch untereinander helfen; was soll denn sonst aus den Menschen werden, die im Unglück sind? Ist man reich, so kann man Geld geben, ist man das aber nicht, so muß man eben selbst helfen. Uebrigens,« fügte das junge Mädchen lächelnd hinzu und drohte ihrer Nachbarin mit dem Finger, »Sie, liebe Frau, sollten darüber doch am wenigsten reden; denn gestern noch sah ich die beiden kleinsten Kinder bei Ihnen, und Sie schienen sich von Herzen zu freuen, wie köstlich den beiden Kleinen die Suppe mundete.«
»Ach was, man hat doch eben auch kein Herz von Stein,« murmelte Frau Lebeau, indem sie sich schmollend zur Seite wandte, »und das ist auch ganz gleichgültig; ich ärgre mich nun einmal, wenn ich die Kinder hier sehe.«
»Ja, sehen Sie,« nahm Ella wieder das Wort, »ich bin nun einmal nicht wie Frau Goldschmidt, deren Strümpfe Sie immer stopfen; sie war doch selbst früher Köchin, und jetzt behandelt sie ihre Dienstboten wie die Sclaven und denkt nicht daran, daß sie in früherer Zeit auch nichts besseres war. Wenn ich sehe, wie die armen Kinder hungern und frieren, so denke ich daran, daß es mir auch nicht besser ergangen ist, ehe Vater Carlet mich bei sich aufnahm. Ich weiß, wie weh der Hunger thut, und deshalb würde ich mein letztes Stück Brod mit ihnen theilen.«
Bei diesen Worten nahm Ella ein großes Stück Brod, holte einen Rest Fleisch aus dem Schranke hervor, und mit eiligen Schritten eilte sie dann die Treppe empor, die zu den Dachwohnungen führte.
»Was wollte Ella eigentlich damit sagen?« fragte Frau Lebeau ihren alten Freund mit verwunderter Miene. »Sie haben das Mädchen bei sich aufgenommen? Ist sie denn nicht Ihre Tochter?« »Sie ist meine Tochter, weil ich sie zu mir genommen habe,« erwiederte Carlet ruhig, »mein eignes Kind ist sie aber nicht. Ich habe sie an einem Winterabend vor meiner Hausthür auf der Straße gefunden.« Und mit aller Ausführlichkeit erzählte Vater Carlet nun, auf welch eigenthümliche Weise er zu dem Kinde gekommen sei.
Voller Verwunderung lauschte Frau Lebeau der Erzählung des Alten, und unzählige Male unterbrach sie ihn mit einem »Ach! Du lieber Gott! Ist es denn möglich!« Als er endlich seinen Bericht geendet hatte, drückte sie gerührt seine Hand und sagte: »Sie sind wirklich ein braver Mann, Vater Carlet, aber Ihre gute Handlung hat Ihnen auch reichen Lohn eingetragen. Und Sie haben dabei wirklich auch Glück gehabt, denn die Kleine ist von einer Güte und Liebenswürdigkeit, wie man sie selten findet. Warum haben Sie mir denn das alles nicht schon längst erzählt?«
»Weil Sie mich nie darnach gefragt haben,« erwiederte Carlet ruhig.
Verwundert blickte Frau Lebeau bei dieser Antwort den Alten an, dann aber erwiederte sie bedächtig:
»Sie thun eigentlich recht, nicht davon zu sprechen; es könnte Ella schaden.«
Jetzt war die Reihe an Carlet, ein erstauntes Gesicht zu machen.
»Ella schaden,« rief er verwundert. »Wie soll ihr das denn schaden? Es ist ja doch nicht ihre Schuld, daß sie während der ersten sechs Jahre ihres Lebens so unglücklich war. Nein, nein, meine liebe Freundin, so schlecht ist die Welt nicht. Ein Mal nur ist es vorgekommen, – es war in der Schule – daß die kleinen Mädchen sie verspottet haben und sie »Hexe, Lügnerin, Seiltänzerin« nannten; aber Sie hätten nur sehen sollen, wie still und bestürzt sie alle da standen, als ich ihnen ihr Unrecht vorhielt. Nicht Eine von ihnen wagte den Mund zu einer Entschuldigung zu öffnen. Und so ist es überall. Wenn ein ehrlicher Mann es wagt, die Wahrheit zu sagen, so müssen die Bösen schweigen, denn sie fühlen, daß sie keine Macht haben. – Wie könnte es Ella schaden? höchstens in den Augen derjenigen, die sie nicht kennen. Wer Ella kennt, der weiß auch, daß es kein Kind in der ganzen Welt giebt, das zärtlicher und dankbarer gegen ihren alten Vater, fleißiger, mitleidiger, sanfter und liebenswürdiger wäre, wie meine gute Tochter. – Ich bin ganz ruhig darüber, liebe Frau Lebeau, ich kann mir nicht denken, daß ihr je irgend etwas schaden könnte.«
Frau Lebeau war ganz trostlos, den guten Alten so aufgeregt und erzürnt zu haben. »Ich denke ja nicht im entferntesten so,« murmelte die bestürzte Frau verlegen, und sie sagte damit auch die Wahrheit. Es waren nicht ihre eignen Gedanken, die sie in dieser Weise ausgesprochen, sondern vielmehr ein allgemeines, im Volk verbreitetes Vorurtheil, das sie aber selbst nicht mehr theilte, sobald sie genauer darüber nachdachte. Frau Lebeau's Sohn hatte in der Nebenstube die ganze Unterhaltung mit angehört. Er ging jetzt auf Vater Carlet zu, ergriff seine gefurchten Hände und drückte sie mit Herzlichkeit, und als Ella kurze Zeit darauf das Zimmer wieder betrat, ging Johann nach der Dachstube hinauf. Er fand hier alles, wie das junge Mädchen es gesagt hatte; nicht durch Faulheit und Schlechtigkeit, sondern durch Unglück waren die armen Menschen in so tiefes Elend gerathen. Das Zimmer war fast leer, denn die Möbel waren verkauft worden, um den Kindern während der langen Krankheit des Vaters Nahrung zu verschaffen. Allerdings waren die Kinder schmutzig und zerlumpt; aber die Mutter mußte vom frühen Morgen bis zur Nacht auf Arbeit gehen, um Geld für den Arzt und den Apotheker zu verdienen, und außerdem waren noch immer verschiedene andere Schulden zu bezahlen, so daß für die Bedürfnisse der Kinder nichts übrig blieb. Ella kam nun Tag für Tag nach der Dachstube, wenn die Mutter ausgegangen war. Sie versorgte dann die Kinder, so weit es in ihren Kräften stand, und ihr allein verdankten die Kleinen die einzigen ordentlichen Mahlzeiten, die sie seit Wochen erhalten hatten.
Johann war auch nicht reich genug, um hier mit Geld helfen zu können, aber er that es auf andere Weise. An diesem Tage blieb er einige Stunden länger in der Werkstatt, als sonst seine Gewohnheit war, und als er nach Hause zurückkehrte, brachte er fünf hübsche, kleine Bänkchen mit heim, die er aus den Holzabfällen in der Werkstatt für die Kinder in der Dachstube gezimmert hatte. Seit langer Zeit schon waren die Kinder dran gewöhnt, keinen andern Sitz als die blanke Diele zu haben, und mit Jubel ordneten sie ihre einfachen Bänkchen um den Kamin. Sie waren glücklich über diesen ersten Anfang einer neuen Einrichtung, und die magere Kohlsuppe schmeckte ihnen heut wie das herrlichste Gericht.