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Als Carlet am andern Morgen erwachte, war der Tag soeben angebrochen. Verwundert über das ungewohnte, harte Lager richtete er sich in die Höhe und schaute verwirrt um sich. Da fiel sein Blick auf Ella, und sogleich erinnerte er sich der Ereignisse des verflossenen Abends.
»Armes Lämmchen! wie müde sie gestern Abend war!« sagte er mitleidig vor sich hin und reckte gähnend seine langen Arme. »Wie steif bin ich doch! alle Glieder thun mir weh,« fuhr er ärgerlich fort; »ich bin doch nicht mehr daran gewöhnt, an der Erde zu schlafen. Das kleine Mädchen hat dafür desto besser gelegen. Sie schläft noch immer; aber wenn sie erwacht, wird sie Hunger haben. Was gibt man nur Kindern zu essen? Ich glaube Milch. Ich sah schon manches Kind, dem ich eine Windmühle verkaufte, seine Milchsuppe essen. Meine Kleine soll auch eine Milchsuppe bekommen.«
Sogleich ergriff Carlet den einzigen irdenen Topf, den er besaß, setzte seine Mütze auf und verließ leise das Zimmer, dessen Thür er hinter sich verschloß.
Verwundert sahen ihm die Leute auf der Straße nach. »Was tausend,« riefen sie neugierig, »da geht ja Vater Carlet ohne seinen Ueberrock. Was soll denn das heißen?«
In der That hatte man Carlet, so lange man ihn kannte, noch niemals ohne seinen langen Ueberrock gesehen, und so konnte sich niemand recht erklären, wie das zuging. Aber freilich wußte ja auch niemand, daß der Ueberrock dem kleinen schlafenden Mädchen als Decke dienen mußte.
Kaum hatte Carlet das Zimmer verlassen, als Ella erwachte. Sie öffnete mehrmals die Augen, aber müde schloß sie dieselben immer wieder. Endlich jedoch richtete sie sich auf und blickte verwundert um sich. Vergebens suchte sie sich zu besinnen, wo sie sich befand; die Vorgänge des verflossenen Abends waren ihr vollständig aus dem Gedächtniß entschwunden, und als sie sich in dieser kalten, schmutzigen Kammer umsah, zweifelte sie keinen Augenblick, daß sie in einem Gefängniß sei. Der Strohsack, der alte Tisch, der einfache Baumstamm, welcher als Sitz diente, der Wasserkrug in der Ecke, alles erschien ihr als die richtige Einrichtung eines Gefängnisses, und angstvoll suchten ihre Augen nach der schweren Kette, die sicher an der Mauer hängen mußte. Aber zu ihrer großen Beruhigung konnte sie dieselbe nicht entdecken. Nun stand sie von ihrem Lager auf, ging nach der Thür und versuchte dieselbe zu öffnen; aber vergebens!
»Ich bin gefangen!« rief sie entsetzt und eilte an das Fenster. Aber auch dies vermochte sie nicht zu öffnen; der Riegel war zu hoch, sie konnte ihn nicht erreichen. Nun rieb sie an den trüben Scheiben, um wenigstens zu sehen, wo sie sich befand. »Wie hoch bin ich hier!« rief sie traurig, als sie nichts, als die Dächer der benachbarten Häuser vor sich sah. »Von hier aus werde ich nie fliehen können, und doch muß ich es versuchen, damit ich nicht wieder in die Gewalt der bösen Kunstreiter komme.«
Während sich Ella noch ganz diesen traurigen Gedanken hingab, war die Sonne höher und höher gestiegen; sie glänzte nun hell durch die Scheiben des hohen Fensters, und wenn sie die kleine Kammer auch nicht schöner machen konnte, so schimmerten an den Wänden doch die tausend Spinneweben in ihren hellen Strahlen, und dann fiel das Sonnenlicht gerade auf die kleine Mühle, die noch vom gestrigen Abend am Kamin lag. Zögernd streckte Ella die Hand darnach aus, und mit Vergnügen ruhten ihre Blicke auf dem bunten Spielwerk, das für sie einen ganz besonderen Reiz hatte. Noch niemals hatte sie etwas Aehnliches besessen, denn ihre arme Mutter konnte nur mit Mühe den täglichen Unterhalt erwerben, aber für das Vergnügen ihres kleinen Mädchens blieb nichts übrig. Eben wollte Ella mit einem leisen Hauch die Flügel der Mühle in Bewegung setzen, als sie Schritte auf der Treppe hörte. Von neuem ergriff sie namenlose Angst. Sie sah die Thür sich öffnen, den alten Carlet eintreten und zweifelte nicht einen Augenblick, daß er von den Kunstreitern begleitet sei. Sie preßte die Hände vor die Augen, stieß einen verzweifelnden Schrei aus und flüchtete, das Gesicht gegen die Mauer gedrückt, in den entferntesten Winkel des Zimmers.