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Nach seiner Verkündung zum König von Arauko, die das ganze Land freudig aufnahm, hatte Tounens in der ersten Zeit seiner Regierung außerordentlich viel zu tun. Entsprechend der Zahl der Kaziken und der durch diese vertretenen Stämme wurden Bezirke gebildet, denen eine gewisse selbständige, aber unter Tounens' Aufsicht stehende Verwaltung eingeräumt wurde. Es bedurfte des ganzen Taktes und organisatorischen Geschickes des neuen Königs, seine getreuen Kaziken, ohne sie persönlich zu verletzten, mit ihrer veränderten Stellung auszusöhnen und sie an eine bestimmte Ordnung im Verkehr mit ihrem Oberhaupt zu gewöhnen. Anfangs schwankte der Indianerkönig, ob er Chile und den andern Ländern seine Wahl anzeigen solle oder nicht. Er stand schließlich davon ab; denn er sagte sich ganz richtig, daß Chile niemals gutwillig seine königliche Würde anerkennen werde, daß dies aber eher der Fall sein dürfte, wenn ihm ein zwar kleines, aber gut geschultes und ausgezeichnet bewaffnetes Heer der allgemein als tapfer anerkannten Araukaner zur Seite stehe. Auf einen Vernichtungskrieg mit den Araukanern selbst aber würde es Chile nicht ankommen lassen auf Grund gemachter Erfahrungen und auch seiner augenblicklichen Streitigkeiten mit andern Mächten wegen. Ferner rechnete Tounens damit, daß im Notfalle die französische Regierung in Paris ein ernstes Wort mitsprechen würde, wenn die chilenische Republik gegen das Araukanervolk wegen der Wahl eines Franzosen zu ihrem König kriegerisch vorgehen sollte. In aller Eile hatte Tounens Bestellungen aller Art nach Frankreich aufgegeben. Seine indianischen Briefboten hatten den weiten Weg über die Kordilleren und durch die Pampas zu machen, da die Briefe der Sicherheit halber von Argentinien aus nach Europa gehen mußten. Dadurch ging viel wertvolle Zeit verloren. Tounens' Bankier in Paris, der sein nicht unbeträchtliches Vermögen verwaltete, erhielt von Sr. Majestät Antonio I. die notwendigen Anweisungen.
Bis die Gewehre, Säbel, Revolver, Munition sowie die Gegenstände für eine moderne Hauseinrichtung aus Frankreich eintrafen, fing Tounens an, mit Hilfe seiner Verwandten und der sich freiwillig als Arbeiter stellenden Indianer ein neues Haus zu bauen. War es auch nur ein Holzbau mitten auf einer von Wald umrahmten großen Wiese in der Nähe des Sees Villarica und der Residenz Kalvukuras, so sollte sich das Haus doch schon äußerlich durch seine europäische Form als Herrschersitz ausweisen. Die große, den Indianern ungewohnte Arbeit schritt langsam aber stetig vorwärts. Tounens und Rupaillang freuten sich auf die Zeit ihrer Übersiedlung in das »Königsschloß« und warteten mit einer gewissen ungeduldigen Sehnsucht auf all die in Paris bestellten Herrlichkeiten, die das Heim des Königspaares schmücken sollten.
So war es Frühling 1862 geworden. Ein Jahr war nahezu verflossen, seitdem Arauko unter dem Zepter des Königs Antonio I. stand. Die Waffen wie auch die übrigen in seiner alten Heimat bestellten Gegenstände befanden sich, in viele Kisten verpackt unterwegs. Dies waren die Nachrichten, die Tounens kürzlich durch seine Helfer jenseits der Kordilleren erhielt. Den Berichten war die Mitteilung beigefügt, daß sich augenblicklich eine auffallend starke und scharfe Bewachung der Grenze Araukos gegen Argentinien hin durch die Chilenen beobachten lasse. Tounens wollte sich selbst von der Richtigkeit dieser für ihn außerordentlich wichtigen Botschaft überzeugen und im Notfalle auch nicht vor Gewaltmaßregeln zurückschrecken, galt es doch, sich den Weg für seine Zufuhren freizuhalten und damit auch seine Stellung zu sichern. Es war Tounens klar, daß die Chilenen irgendwie und irgendwoher von den Absichten des Araukanerkönigs Wind bekommen hatten; sonst würden sie nicht die Grenzen seines Landes zu sperren suchen.
Daß die Araukaner den Franzosen zu ihrem König gewählt hatten, war übrigens längst bekannt geworden und das Tagesgespräch in der Hauptstadt Santiago. Die chilenische Regierung war in einer sehr mißlichen Lage. Ihre Erkundigungen hatten ergeben, daß das Gerücht, ein Königreich Arauko sei auf dem Gebiete der Republik errichtet worden, leider nur zu wahr sei. Die Regierung vermutete, daß hinter Tounens sich die mächtige Hand Napoleons III. verberge, und wagte daher kein unmittelbares Vorgehen. Abgesehen davon, daß ein solches einen harten Kampf von unabsehbaren Folgen nach sich ziehen würde, dessen Ergebnis in keinem Verhältnis zu den zu bringenden gewaltigen Opfern stünde, hielt auch die Furcht vor diplomatischen Verwicklungen die Machthaber in Santiago vor übereilten Schritten gegen die Indianer zurück. Das einzige, was von chilenischer Seite im Laufe des Jahres 1862 geschah, war eine bedeutende Vermehrung der Grenzwachen, deren Offizieren geheime Befehle mitgegeben wurden.
Tounens beriet sich mit seinem Schwiegervater über die zu ergreifenden Maßregeln, um den Verkehr mit Argentinien offen zu halten.
»Ich weiß noch manche Wege, die über die Bergkette führen«, sagte Kalvukura; »ich möchte bezweifeln, ob die Chilenen sie kennen.«
»Aber unsern Freunden in den Pampas drüben dürften sie unbekannt sein«, warf Tounens ein.
»Das ist sehr wahrscheinlich, Antonio. Es bleibt deshalb auch nichts anderes übrig, als einen Weg auszusuchen, der sicher ist und auf dem wir deine Sendungen über die Berge herüberbringen können.«
»Das ist es ja, was ich will, Vater. Gleichzeitig können wir auch untersuchen, inwieweit die Grenze tatsächlich abgesperrt ist. Erst wenn uns dies durch eigene Beobachtung bekannt ist, vermögen wir mit Erfolg Gegenmaßregeln zu ergreifen.«
»Du hast recht, Antonio. Übrigens siehst du«, fügte der Kazike nicht ohne Selbstbewußtsein hinzu, »daß die Chilenen uns immer noch fürchten. Sonst würden sie sich nicht mit der einfachen Wegabsperrung begnügen.«
»Im Notfalle wenden wir Gewalt an, wenn wir bei der Beförderung unserer Waffen überrascht werden sollten«, erklärte Tounens.
»Du hast nur zu befehlen, Antonio, und wir gehorchen dir«, antwortete Kalvukura. »Gut ist es immerhin, wenn du deine Reise an die Grenze nur unter starker Bedeckung antrittst.«
»Das werde ich auch, Vater.«
»Ich begleite dich selbst mit ausgesuchten Leuten. Lemunau, der von uns allen die Berge am genauesten kennt, wird sich uns unterwegs gern anschließen. Für Verpflegung und alles übrige werde ich heute noch sorgen, so daß wir gleich morgen früh aufbrechen können.
»Das ist gut, Vater; Eile tut in dieser wichtigen Sache not.«
Rupaillang nahm die Nachricht von der bevorstehenden Abreise ihres Gatten mit Schrecken auf. Hatte dieser auch schon öfters während seiner Regentschaft Reisen im Land herum gemacht, so waren diese doch stets nur von kurzer Dauer gewesen; jetzt aber drohte Rupaillang eine längere Trennung von dem Gemahl, der seine Abwesenheit auf Wochen berechnete. Die Frau kämpfte den sie bewegenden Trennungsschmerz mutig nieder. »Ich bin nur froh, daß der Vater dich begleitet, Antonio«, sprach sie beim Abschied in der Frühe des andern Morgens; »so bin ich beruhigt. Trotzdem aber werde ich aufatmen, wenn du erst glücklich wieder zurück bist.«
»Sei guten Muts, mein Kind!« tröstete sie Tounens, dem der Abschied selbst sehr schwer fiel. »Wir müssen diese Reise zum Besten unseres Landes notwendig ausführen. Sobald wir unsere Aufgabe gelöst haben, eile ich, so schnell wie möglich, zu dir zurück.«
Die Gatten umarmten sich. Mit väterlichem Wohlwollen betrachtete der Kazike diese zärtliche Szene. Er saß bereits im Sattel. Hinter ihm folgten auf ihren Pferden zwanzig kühne Araukaner, die bewährte Colihuelanze in der Rechten. Kalvukura grüßte seine Tochter noch durch ein Winken mit der Hand; dann setzte sich der Reiterzug in Bewegung und entschwand bald den Augen Rupaillangs.
Eine unerklärliche Angst befiel plötzlich die sonst so tapfere Araukanerin, als sie, allein im Hause, von Zimmer zu Zimmer irrte, ohne recht zu wissen, was sie tat. Weinend warf sie sich endlich auf ihr Lager. Die bei ihr seltenen Tränen erleichterten etwas ihre gepreßte Brust. Rupaillang schalt sich schließlich ihrer Stimmung wegen eine Törin und begab sich an die Erledigung ihrer Hausarbeiten. In der Tätigkeit suchte und fand sie Beruhigung, und als der erste Tag seit dem Weggang ihres Gatten verflossen war, warf der Gedanke an die Rückkehr des ihr so teuren Mannes bereits sein freundliches Licht auf die einsame Frau.
Nach mehrtägigem Ritte hatte Tounens mit seinen Begleitern die Grenze Araukos gegen die Kordilleren hin erreicht. Einige als Späher ausgesandte Leute berichteten bei ihrer Rückkehr ins Lager, daß sie keine Chilenen, überhaupt nichts Verdächtiges auf weite Strecken hin hätten entdecken können. Der alte Weg, den Tounens einst über das Gebirge gewählt hatte, war allem Anschein nach also noch offen und den chilenischen Grenzwachen unbekannt.
»Das trifft sich günstig«, äußerte der Franzose zu Kalvukura und Lemunau, »daß dieser gute Übergang frei ist. Er ist meinem Freunde Tapia genau bekannt, und unter dessen Leitung steht auch der Zug der Gauchos, die uns die Sendungen aus Europa abliefern.«
»Es wäre aber doch gut, wenn wir durch einzelne unserer Leute die Paßübergänge bewachen und dies Tapia wissen ließen«, warf Lemunau ein.
»Gewiß, wir müssen die Argentinier ja sowieso über den Weg benachrichtigen, den sie nehmen sollen«, entgegnete Tounens.
»So laß mich diesen Boten machen, während du mich hier mit den übrigen erwartest!« bat Lemunau den König.
»Einen Teil des Wegs begleite ich dich«, erklärte dieser; »ich muß mich selbst überzeugen, ob alles in Ordnung ist und ob ich auch wirklich beruhigt sein kann.«
Zufrieden damit, keinen Feind in unmittelbarer Nähe zu wissen, hielt es Tounens nicht für nötig, Wachen für die Nacht auszustellen. Er und seine Leute waren, wenngleich hart an der Grenze, doch auf eigenem Grund und Boden, und vor einer Grenzverletzung würden sich die Chilenen wohl hüten. Die Araukaner machten ein mächtiges Feuer, schlugen die Zelte auf und richteten den Abendimbiß her. Plaudernd saßen Tounens, Kalvukura und Lemunau noch einige Stunden am Feuer beisammen, dann suchten sie ihre Zelte auf. Auch die Mannschaften hatten sich zur Ruhe niedergelegt; ihre Pferde bewegten sich der Indianersitte gemäß in der Nähe des Lagers frei herum, Nahrung suchend. Tiefe Stille herrschte, nur hin und wieder unterbrochen durch das laute Wiehern eines der Pferde oder das Geräusch des langsam verglimmenden Holzfeuers. Der Mond war aufgegangen. Er beschien das friedliche Lagerbild mit seinem Licht. Auf dem grünen Grasplatze hoben sich die Zelte der Araukaner doppelt scharf im Mondlicht ab, und die Baumgruppen in der Nähe warfen gespenstische Schatten.
Die Nacht war schon weit vorgeschritten. Auf Händen und Füßen kriechend, bis an die Zähne bewaffnet, schlich sich eine Abteilung chilenischer Soldaten auf das Lager zu. Ihr Anführer war durch seine Späher gut unterrichtet. Ihn kümmerte die Verletzung des Friedens ebensowenig wie diejenige der Grenze; ihn lockte nur der goldene Preis, der ihm für seine Tat winkte. Am Zelte des Indianerkönigs steckte eine Lanze mit einer kleinen roten Flagge, das Zeichen von des Königs Anwesenheit. Auf dieses Zelt zu schlichen die Soldaten und brachen dann überraschend wie Raubtiere ein.
Tounens war aufgefahren. Bevor er jedoch von seinem Revolver Gebrauch machen konnte, sauste ihm ein Lasso über den Kopf und wickelte sich ihm um Brust und Arme. Er war gefangen, gefesselt, so schnell, daß er nicht wußte wie. Dann wurde er zu Boden gerissen und fortgeschleift. »Feige Hunde!« brüllte er, fast toll geworden vor ohnmächtiger Wut. »Ist das eure Art zu kämpfen? Überfall, Mißachtung der beschworenen Rechte?«
Kalvukura und Lemunau eilten Tounens zu Hilfe; auch die übrigen Araukaner stürzten sich mit ihren Lanzen in der Hand, schäumend vor Zorn, auf die Chilenen. Ein schwerer Kampf entspann sich. Schon schienen die Chilenen trotz ihren Feuerwaffen, von denen sie ausgiebigen Gebrauch machten, durch die tapferen Indianer überwältigt, als ein neuer Trupp Soldaten auf der Kampfstätte erschien. Die Übermacht entschied den Sieg. Wer von den Araukanern nicht tot auf dem Platze lag, war schwer verwundet kampfunfähig gemacht; keiner hatte seinen König verlassen. Die Chilenen verschwanden unter Mitnahme von Tounens sowie ihrer Toten und Verwundeten beim Grauen des Tages so schnell wie nur möglich, beim Rückzuge sich der herrenlosen Pferde ihrer Feinde bedienend.
Die aufgehende Sonne beschien das schreckliche Bild des nächtlichen Kampfes, ein kleines Leichenfeld. Kalvukura und Lemunau waren tot, ebenso die Mehrzahl des Gefolges. Nur zwei Mann waren trotz ihren Wunden noch imstande, sich langsam fortzuschleppen und die Trauerbotschaft in die nächstgelegene araukanische Niederlassung zu bringen.
Ein Schrei der Entrüstung über die unerhörte Freveltat der Chilenen hallte bald darauf durch ganz Arauko. Auch im Hause des Königs am See Villarica ertönte ein entsetzlicher Schrei, als Kalvun seiner Schwester die gewaltsame Entführung des Gatten und den Tod des Vaters mitteilte. Rupaillang wand sich in Krämpfen. Ein totes Knäblein an der Seite der toten Mutter – die erste Königin Araukos mit dem heißersehnten Erben – kalt und stumm lagen beide da.
Eine Kaziken- und Ältestenversammlung wurde zur Besprechung der Lage einberufen. Sie wurde auf demselben Platze abgehalten, auf dem letztes Jahr Antonio zum König gewählt worden war. Die einen wollten eine sofortige Kriegserklärung an Chile, Rache um jeden Preis für den angetanen Frevel, die andern wollten Land und Volk nicht durch einen höchst ungleichen Kampf dem sicheren Untergang aussetzen. So waren die Meinungen geteilt.
Da stand wieder der Greis Namunkura auf. »Vor einem Jahre glaubte ich noch an die Möglichkeit, unser Volk wieder zu alter Macht und altem Ruhm führen zu können«, sprach er. »Der richtige Mann hierzu war unstreitig unser Antonio. Nun er uns geraubt, für immer genommen ist, zweifle ich nicht länger mehr an der Tatsache unseres unabwendbaren Unterganges. Der Weiße zertritt uns, die er, wie Antonio richtig sagte, nur deshalb noch duldet, weil er sich seiner Überlegenheit über uns bewußt ist. Lassen wir das Geschick seinen Weg gehen und halten wir trotz aller Beleidigung Frieden! Das möchte ich euch raten.« Müde setzte sich der Greis nach dieser Rede.
Die Worte des Ältesten machten auf die Versammlung tiefen Eindruck. Trotzdem kam keine Einigung zustande. Erst das Chuecaspiel entschied zuungunsten der Kriegspartei. Kalvun, der die Kazikenwürde seines Vaters geerbt hatte, wie auch seine Brüder knirschten im stillen vor Wut, daß der Tod des Vaters und der Schwester, der Verlust des Schwagers ungerächt bleiben sollten; aber sie mußten sich fügen und das für sie ungünstige Ergebnis der Chueca anerkennen.