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Ein warmer Sommertag ging zu Ende. Tief im Westen neigte sich die Sonne zum Untergang. Ihre letzten Strahlen ließen die Höhenzüge der Kordilleren in glühendem Purpurrot aufleuchten. Klar und scharf hob sich das Gebirge vom dunkelblauen Abendhimmel ab und lag so friedvoll da, als gäbe es keinen Menschenjammer in dieser sonnedurchleuchteten Landschaft. Schon senkten sich leise Schatten auf die Plaza der Stadt Santiago de Chile, die heute von einer außergewöhnlich großen Menschenmenge angefüllt war. Man schrieb den 10. November 1814. Etwas Unerhörtes, Schreckliches mußte geschehen sein; das bewies die ganze Haltung der Menge. Bloße Neugierde hatte die vielen Menschen nicht hierher geführt. Angst, Furcht drückte die Mehrzahl der Gesichter aus. Schmerz und Haß spiegelten andere wider; da und dort aber verrieten die Augen und die Gebärden einzelner auch grimmige Genugtuung und Freude über gesättigtes Rachegefühl.
Die Liga der chilenischen Vaterlandsfreunde war in der vergangenen Nacht durch einen Gewaltstreich des spanischen Satrapen Osorio gesprengt und ihre Mitglieder waren ins Gefängnis geworfen worden. Mit Blitzesschnelle hatte sich am Morgen diese Nachricht in der ganzen Stadt verbreitet. Viele Gerüchte gingen um. Wieviel Wahres, wieviel Unwahres an ihnen war, vermochte bloß der zu unterscheiden, der in die Verhältnisse eingeweiht war. Nur so viel war gewiß, daß die angesehensten Bürger Santiagos verhaftet und einstweilen in dem an die Plaza stoßenden Gefängnis untergebracht waren. Heute abend noch sollten die Männer, die für die Freiheit ihres Vaterlandes, für dessen Loslösung von dem unerträglich gewordenen spanischen Joche mutig eingetreten waren, von Santiago zunächst nach Valparaiso gebracht werden, um von da aus in die Verbannung zu ziehen.
Immer erregter wurde das Volk, das sich auf dem weiten Platze stieß und drängte. Laute Flüche und Verwünschungen schleuderte die unbewaffnete Menge der spanischen Soldateska entgegen, die den Platz gegen das Gefängnis hin absperrte. Mit Hohn und Spott erwiderten die Soldaten im Bewußtsein ihrer Macht. Höher und höher gingen die Wogen der Erregung.
Da erschallte plötzlich Trommelwirbel, Befehle wurden gegeben, und mit aufgepflanztem Bajonette drangen die Soldaten gegen die drohende Volksmenge vor, der nichts anderes übrig blieb, als in ohnmächtigem Zorne vor der Waffengewalt zurückzuweichen. Die Tore des Gefängnisses öffneten sich. Unter starker Bedeckung wurden die Opfer spanischer Willkür langsamen Schrittes herausgeführt. Es waren meist ältere Männer, deren stolze Haltung auch das Unglück, das über sie hereingebrochen war, nicht zu brechen vermocht hatte und deren feurige Blicke mit ihren weißen Haaren in seltsamem Gegensatz standen. Eine tiefe Stille, der Ausdruck ehrlichen Wehs, beherrschte die Menge, als sie diejenigen erblickte, die, gestern noch im Vollbesitz von Ehre, Ansehen und Vermögen, nun alles verloren hatten, um alles gebracht waren, was das Leben schön machte, und trotzdem mutig einem ungewissen Schicksal entgegengingen.
Plötzlich drängte sich ein junges Mädchen durch die Schar der Zuschauer. Aus ihren großen schwarzen Augen sprachen Verzweiflung, Schrecken, Entsetzen. Wirr hing ihr das dunkle Haar um das bleiche, schmerzentstellte Antlitz, und die kleinen Füße trugen kaum noch das schlanke, kaum zur Jungfrau entfaltete Menschenkind. Achtungsvoll und mitleidig machte man der Armen Platz.
»Es ist die Tochter von Don Juan Enrique Rosales«, flüsterten da und dort, als Antwort auf neugierige Blicke, solche, die das Mädchen kannten.
Aber Rosario Rosales hörte nichts. Vorwärts trieb es sie, vorwärts nach dem von den Soldaten abgesperrten Raum hin. Jetzt hatte sie die Posten erreicht.
»Zurück, Señorita!« fuhren die Vordersten das Mädchen an, als es versuchte, an ihnen vorbei zu den Gefangen zu gelangen. »Hier ist nichts für Euch zu suchen.«
»Ich will, ich muß zu meinem Vater!« schrie Rosario. »Dort, dort ist er! O laßt mich um Gottes Barmherzigkeit willen durch!«
»Ah, die Tochter eines Aufrührers!« Höhnisch lachte einer der Soldaten, ein Unteroffizier. »Macht's kurz! Schlagt das Ungeziefer tot!«
Aber der Reiz der jugendlichen Schönheit, erhöht durch den tiefen Schmerz des Kindes um den Vater, hatte mehr Gewalt über die rauhen Krieger als der Rat ihres Vorgesetzten; sie begnügten sich damit, allen Bitten, allem Flehen des Mädchens, allen Versuchen durchzudringen, stillen Widerstand entgegenzusetzen. »Es nützt alles nichts, geht nach Hause! Geht fort! Hier darf niemand von Euresgleichen durch.«
»Vater, o Vater, so hilf mir doch, daß ich zu dir kommen kann!« rief Rosario mit herzzerreißender Stimme. »Dein Kind will zu dir! Ohne dich kann es nicht mehr leben! Ohne dich muß es sterben!«
Doch in dem wüsten Lärm, der nun folgte, verhallten die Hilferufe des armen Kindes wirkungslos. Unter lautem Schreien der Soldaten mußten die Gefangenen, durch Püffe und Stöße getrieben, schlecht geschirrte Pferde besteigen. Pechfackeln wurden entzündet, die durch lange Stricke aneinandergefesselten Geächteten in die Mitte einer starken Bedeckungsmannschaft genommen, und nun setzte sich der traurige Zug unter Trommelwirbel in Bewegung. Ein donnerndes, tausendstimmiges Viva erschütterte die Luft und übertönte für einen Augenblick den Trommelklang; es war der Abschiedsgruß der Einwohner Santiagos an ihre unglücklichen Landsleute.
Rosales Vater hatte vom Pferde herab mit scharfen Augen die geliebte Tochter unter der wogenden Menschenmenge herausgefunden und erkannt. Ein Leuchten ging beim Anblick der holden Gestalt über des alten Mannes ernste Züge. Sprechen, rufen konnte er nicht: der Schmerz der Trennung schnürte ihm förmlich die Kehle zu; aber während der wenigen Augenblicke, da er die Tochter noch sehen konnte, winkte er, soweit es der gefesselte Arm erlaubte, und warf ihr Kußhände zu. Dann verschwand der Zug in der hereingebrochenen Nacht.
Nacht wurde es auch im Empfinden Rosarios. Ihre Hände griffen in die Luft, und mit einem gellenden Schrei stürzte sie zu Boden.
Als sie nach langer Ohnmacht endlich wieder die Augen aufschlug, erblickte sie im Scheine einer Laterne, über sich gebeugt, das besorgte Antlitz ihres Bruders Joaquin.
»Du lebst! Gott und der heiligen Jungfrau Dank!« rief der junge Mann, dem schwere Tränen über die Wangen rannen. »Kind, Kind, wie habe ich dich heute überall gesucht, und nun muß ich dich hier finden, hier, unter all den fremden Menschen! Schon glaubte ich dich tot«, fuhr Joaquin hastig fort, »aber die Leute erzählten mir, was sich zugetragen hatte; doch erst jetzt glaube ich wirklich, daß du lebst.«
»Joaquin«, unterbrach Rosario seufzend des Bruders Worte, »o Joaquin, der arme, arme Vater! Sie haben ihn fortgeschafft, sie werden ihn umbringen! O großer Gott!« Und wieder sank Rosarios Kopf zurück auf das Steinpflaster, wieder schlossen sich ihre Augen.
»Um aller Heiligen willen, Rosario, komm zu dir!« jammerte Joaquin. – »Helft mir doch, ihr Leute!« wandte er sich an die neugierig umherstehenden Menschen. »Unser Haus ist nicht weit von der Plaza. Helft mir meine arme Schwester dahin tragen!«
Zwei Männer traten auf diese Aufforderung hin aus der Gruppe und hoben, durch Joaquin unterstützt, die Ohnmächtige vom Boden auf.
Wenige Minuten später befand sich Rosario zu Hause auf ihrem Bette. Ein schwerer Weinkrampf löste endlich ihren starren Zustand; die gepreßte Brust wurde durch die Tränen wenigstens etwas erleichtert. »Laß mich allein!« bat sie den Bruder, der voll Sorge an ihrem Lager stand. »Ich brauche nur Ruhe, dann bin ich wieder deine tapfere Schwester.«
Joaquin verließ das Gemach. Er kannte Rosario genügend, um zu wissen, daß er gegen den Willen der kleinen Schwester nichts auszurichten vermochte. Wie öde, wie einsam kam dem jungen Mann, als er das Wohnzimmer betrat, das väterliche Haus vor! Was hatten die letzten vierundzwanzig Stunden für Veränderungen gebracht! Die Geschwister, schon seit Jahren ohne Mutter, hatten sich innig an den Vater angeschlossen, der bestrebt war, ihnen die früh Verstorbene durch doppelte Liebe zu ersetzen. Laut aufstöhnend warf sich Joaquin in des Vaters Lehnstuhl. Da hatte der alte Mann gestern abend noch gesessen, fröhlich mit seinen Kindern plaudernd, nichts ahnend von der ihm drohenden Gefahr. Und jetzt? Wo mochte er sein? Wie mochte es ihm, dem schon lange Kränkelnden, ergehen? Die Bilder der Schreckensnacht traten wieder vor des Sohnes Auge: Sie waren bereits zur Ruhe gegangen, Vater und Kinder. Da, gegen Mitternacht, wurde roh und heftig an die Haustür geschlagen, so daß sie alle erschreckt aus dem ersten Schlafe auffuhren. Als sie endlich der wiederholten Aufforderung zu öffnen nachkamen, drangen Soldaten in den Hausflur; andere hatten, wie Joaquin im Lichte der Fackeln rasch erkannte, das Haus umstellt. Aus dem Bette rissen die Söldner Osorios den alten Vater; nur auf inständige Bitten der Kinder ließen sie es endlich zu, daß er sich wenigstens notdürftig bekleiden durfte. Dann schleppten sie ihn gefesselt fort. Das alles war das Werk weniger Augenblicke gewesen. O dieser elende Osorio! Er hatte es nur zu gut verstanden, die Patrioten mit schönen Worten und Versprechungen in Sicherheit zu wiegen!
In seiner großen Bestürzung hatte Joaquin nicht bemerkt, daß mit dem Vater auch Rosario verschwunden war. Doppelt groß kam ihm nun sein Unglück vor. Da endlich, nach langem Suchen, hatte er die Schwester diesen Abend auf der Plaza entdeckt, aber in welchem Zustande! Der junge Mann schauderte bei der Erinnerung, pries aber im stillen den Himmel, daß er ihm wenigstens Rosario erhalten hatte. Der großen Aufregung folgte naturgemäß die Abspannung. Joaquin schlief im Stuhle ein.
In die Augen der armen Rosario wollte kein Schlaf kommen.
Als der Vater fortgeschleppt worden war, da hatte sie sich in ihre Mantille geworfen und war, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, was sie tat, den Räubern des höchsten Gutes, das sie hienieden besaß, gefolgt. Doch als sie an das Gefängnis kam, hörte sie nur noch, wie das eiserne Tor krachend zugeschlagen wurde. Zitternd und bebend vor Angst um des Vaters Leben hielt sie eich an dem eisernen Gitter fest; aber all ihr Rufen, ihr Flehen, das Los des Vaters teilen zu dürfen, verhallte ungehört in dem dunkeln Gefängnishofe. Da kam ihr der Gedanke, alle diejenigen aufzusuchen und ihre Hilfe anzuflehen, die in den vergangenen glücklichen Tagen die Freunde ihres Vaters, ihrer Familie gewesen waren. So irrte sie im Dunkel der Nacht in der ausgedehnten Stadt umher. Die Straßen, die ihr sonst so vertraut waren, vermochte sie in ihrer Aufregung nicht mehr zu unterscheiden. Erst beim Scheine des heraufdämmernden Morgens fand sie den Weg zu einer angesehenen befreundeten Familie. Aber auch da war dasselbe Ungemach eingekehrt, das Haupt der Familie verhaftet, entführt. Und so war es überall, wohin sie im Laufe des Tages noch kam. Schmerz, Leid, unglückliche Menschen, die nicht zu helfen, nicht zu raten vermochten. Was konnte Rosario von diesen für den Vater, für sich erwarten? Gab es denn keinen Gott, keine Hilfe mehr? Oh, warum ließ es der himmlische Vater zu, daß ihr irdischer Vater schuldlos leiden mußte? Das Gebet in der Kathedrale vor dem Bilde des Gekreuzigten brachte ihr keine Erleichterung. Wiederum irrte sie fast sinnlos vor Schmerz durch die Straßen, die sich mehr und mehr mit aufgeregten, heftig redenden und sich gebärdenden Menschen füllten. Hunger und Durst spürte Rosario nicht, sie dachte an keine Erfrischung. Da, gegen Abend, hörte sie, daß auf der Plaza Wichtiges vorgehen werde, daß die Patrioten von Santiago fortgebracht werden sollten. So war sie auf den Platz geeilt, um zu dem Vater zu gelangen; aber nur noch einmal, nur von ferne konnte sie ihn sehen, um ihn wohl für immer zu verlieren.
Aufstöhnend vor namenlosem Weh schlug Rosario bei dieser Erinnerung die Hände vor das Gesicht. Was sollte sie tun? Dieser einzige Gedanke beherrschte all ihr Empfinden. Doch alles Grübeln war umsonst; sie kam zu keinem Entschluß. Ihre Übermüdung ließ kein klares Denken mehr zu. Die Natur trat endlich in ihre Rechte, und der Schlaf, dieser Tröster der Armen und Gequälten, ließ sie wenigstens für einige Stunden allen Jammer vergessen.