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Sechstes Kapitel

Wie schnell Rosario in das Gasthaus zurückgekehrt war, wußte sie später selbst nicht mehr zu sagen. Voll Sorge um die Schwester und düster vor sich hinstarrend, hatte unterdessen Joaquin in einer Ecke des geräumigen Wirtszimmers gesessen. Er sah nicht auf, als hastig die Türe aufgerissen wurde und ein leichter Schritt sich seinem Platze näherte. Erst als eine zarte Hand ihm über Kopf und Stirne strich und die ihm so traut klingende Stimme Rosarios seinen Namen nannte, erwachte er aus seinem kummervollen Zustande und richtete sich seufzend auf. Kaum aber hatte er einen Blick auf das freudig leuchtende Gesicht der Schwester geworfen, da wußte er, daß sie endlich irgendeinen Erfolg bei Villegas gehabt haben müßte. »Du bringst Gutes, Rosario, das sehe ich dir an. Gott sei Dank, daß du wieder da bist! Aber sprich, erzähle!« drängte Joaquin.

Liebevoll drückte Rosario den Bruder auf den Sitz nieder; dann nahm sie neben ihm Platz und teilte dem gespannt Zuhörenden alles mit, was sich inzwischen bei Villegas zugetragen hatte. Auch gab sie ihm den wichtigen Papierstreifen zu lesen.

»O du Glückliche!« rief Joaquin bewegt. »Nun darfst du zu unserm Vater gehen, darfst ihn begleiten. Nun ist er nicht mehr allein. Aber ich? Ich muß von jetzt ab Vater und Schwester zugleich entbehren.«

»Joaquin, denke daran, wieviel dir zu tun bleibt, während wir dem Vaterlande fern sein müssen! Du mußt, unterstützt durch andere wackere Männer, uns den Weg zur einstigen Rückkehr ebnen. Es ist besser, wenn ich beim Vater bin, während du dich in Santiago zur Tat, zur Befreiung unseres Volkes von den spanischen Bedrückern vorbereitest.«

»Du hast recht, Rosario. Aber trotzdem, der Gedanke an die Trennung von dir lastet schwer auf mir.«

»Du warst doch immer mein tapferer Bruder; muß jetzt die kleine Schwester dem so viel älteren, klügeren Bruder Mut zusprechen, ihm sagen, wie unendlich viel größer seine Aufgabe ist als die ihre? O Joaquin, komm, raffe dich auf! Glaube mir, daß auch mir die Trennung von dir schwer wird! Aber deine Aufgabe liegt in Santiago, darüber besteht kein Zweifel, und die meine, durch Gottes Gnade mir gewordene, ruft mich als Schirmerin und Pflegerin an die Seite des kränklichen Vaters. Nun aber laß uns zum Vater eilen! Oh, wie unsagbar freue ich mich auf dieses Wiedersehen, dem nun keine Trennung mehr folgen wird!«

Die Geschwister machten sich auf den Weg nach dem Gefängnis, nachdem Rosario noch rasch vorsorglich ihre Habseligkeiten und die für den Vater mitgebrachten Dinge in ein großes Bündel zusammengepackt hatte, das ihr Garcias Bursche nachtrug. Das Vorzeigen von Villegas Verfügung öffnete Rosario die Türe des Gefängnisses; vorher jedoch wurde ihr Bündel durch die Soldaten einer genauen Prüfung auf Waffen unterworfen. Als nichts Verdächtiges darin gefunden wurde, gab die Wache den Weg frei. Joaquin jedoch wurde der Eintritt verwehrt. »Die Erlaubnis erstreckt sich nur auf die Señorita, nicht auf Euch, ob Ihr nun der Bruder seid oder nicht«, erklärte ihm der die Wache befehligende Offizier.

So blieb dem jungen Mann nichts anderes übrig, als sich mit Ruhe und Würde in das Unvermeidliche zu fügen. Auf Rosarios Bitten hin gestattete der Offizier wenigstens, daß der Bruder sich hier von ihr verabschieden durfte. Lange hielten sich die Geschwister umschlungen, endlich aber riß sich Joaquin gewaltsam los, um schmerzbewegt den Vorraum des Gefängnisses zu verlassen, während Rosario im Innern des großen, düstern Baues verschwand.

Der Offizier hatte die Szene aufmerksam beobachtet. »Bei Gott, sähen sich die beiden nicht so ähnlich, ich würde wetten, das seien keine Geschwister, sondern Verlobte«, brummte er vor sich hin. Als Joaquin mit stummem Gruße an ihm vorüber ins Freie treten wollte, hielt ihn der Offizier zurück. »Auf ein Wort, Señor!«

Joaquin blieb stehen.

»Diese Nacht um zwei Uhr werden die Gefangenen eingeschifft. Wollt Ihr Eure Schwester – natürlich nur von weitem – noch einmal sehen, so kommt um diese Zeit hierher! Adios, Señor!« Damit grüßte der Offizier und trat zurück, den Dank des jungen Mannes abschneidend.

Joaquin aber pries diese Mitteilung, die es ihm ermöglichte, den ehrwürdigen Vater und die mutige Schwester noch einmal, wenn auch nur von ferne, zu sehen und zu grüßen, als einen Wink des Himmels.

Von einem Gefängniswärter, der das Bündel mit ihren Habseligkeiten trug, wurde Rosario durch feuchte, dunkle, nur matt von Öllampen erleuchtete Gänge geleitet. An einer vergitterten, von außen mit einem großen eisernen Riegel verschlossenen Türe machte der Führer Halt. Rosarios Herz klopfte in ungestümer Ungeduld. Viel zu lange für ihre Sehnsucht erschien ihr das umständliche Öffnen der schweren Türe. Mit lautem Geräusche wurde endlich der eiserne Riegel zurückgeschoben, dann sprang die Türe auf, und das Mädchen blickte in einen großen Raum, der, wie der Gang, durch den sie eben gekommen, gewölbt und nur dürftig durch eine von der Mitte der Decke herabhängende qualmende Öllampe beleuchtet war. Trotzdem es draußen noch Tag war, drang kein Lichtstrahl an diesen Schauder erregenden Ort. Eine verbrauchte, übelriechende Luft schlug Rosario entgegen, als sie einige Steinstufen hinab in den kellerartigen Raum trat. Zuerst hatte ihr Auge große Mühe, sieh an das herrschende Halbdunkel zu gewöhnen. Erst nach und nach unterschied sie eine Reihe menschlicher Gestalten, die auf Strohlagern den Mauern entlang saßen oder lagen.

»Juan Enrique Rosales«, rief der Wärter, der unter der Türe stehen geblieben war, »hier bringe ich Euch jemand.«

Das Mädchen bemerkte, wie sich bei dem Anrufe in einer Ecke der großen Zelle langsam eine Gestalt erhob.

»O mein Vater, mein Vater!« Mit diesem Freudenschrei stürzte sich Rosario auf die Gestalt zu. Vater und Tochter hielten sich laut weinend vor Glück über das Wiederfinden in den Armen. Lange vermochten sie nicht zu sprechen. Rosario kniete vor dem Lager ihres Vaters, die Arme um sein teures Haupt geschlungen. Heftiges Schluchzen erschütterte ihren zarten Körper. Alles, was sie in den letzten Tagen durchgemacht und gelitten hatte, brach nun mit Gewalt hervor; erst die reichlich fließenden Tränen erleichterten nach und nach ihre gepreßte Brust.

Die Mitgefangenen hatten sich erhoben und standen nun achtungsvoll und ehrerbietig zugleich dieser rührenden Szene gegenüber.

»O mein Kind, meine geliebte Rosario«, brachte der alte Rosales endlich hervor, indem er mit der zitternden Rechten liebkosend über das reiche dunkle Haar des Mädchens strich, »wie um aller Heiligen willen war es dir möglich, hierher zu mir zu gelangen?«

Stoßweise, abgebrochen und mit einer oft durch Weinen erstickten Stimme erzählte Rosario dem Vater die ganze Geschichte. »Und nun bin ich bei dir, Vater, um dein Los zu teilen, um mich nie mehr von dir zu trennen.« So schloß sie ihren inhaltsreichen Bericht.

»Gott segne dich für alles, was du getan hast und noch tun willst, geliebtes Kind!« erwiderte der Vater, dessen Züge vor innerem Glück wie verklärt erschienen. Sanft löste er der Tochter Arme von seinem Halse und richtete sich auf seinem Lager empor, während Rosario noch immer davor kniete.

»Gefährten im Unglück, Brüder«, sprach Rosales, »ihr habt gehört, was mein Kind für mich getan hat, seid Zeugen gewesen der schönsten Kindesliebe. Ich bitte euch, die treue Gesinnung, die ihr mir bewiesen habt, in der Verbannung auch auf meine Tochter übertragen zu wollen.«

»Das werden wir!« riefen die Mitgefangenen wie aus einem Munde.

Ein stattlicher Greis, Don Manuel Salas, trat aus der Reihe der Gefangenen heraus in die Mitte des Raumes. Golden schimmerten die schneeweißen Haare des Alten im matten, rötlichen Lichte der Lampe. »Brüder«, sagte er langsam und feierlich, »Brüder, Gott der Allmächtige ist mit uns. Er hat uns diesen Engel in Gestalt eines bewundernswerten Mädchens voll erhabener Selbstverleugnung und kindlicher Liebe in die Nacht unseres dunkeln Lebens gesandt, um es zu erhellen. Wir alle werden dieses Kind, soweit es unsere Kräfte gestatten, schirmen und schützen. Das versprechen wir dir, Rosales. Mich aber«, rief der Greis, dessen Stimme vor innerer Erregung bebte, »erfüllen die Taten des edeln Mädchens mit Stolz und Zuversicht. Mit Stolz, weil es eine Chilenin ist, die die größten Hindernisse zu überwinden wußte, und mit Zuversicht, weil, wo es Frauen wie die Tochter unseres Rosales gibt, die Mütter von Helden vorhanden sein müssen. Der Morgen der Freiheit muß und wird unserm Lande über kurz oder lang aufgehen. Ein Viva der Señorita Rosario Rosales!«

Aus einem Dutzend Männerkehlen erklang ein lautes Viva, das sich an dem hohen Gewölbe des Gefängnisses machtvoll brach.


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