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Schon am nächsten Tage kamen die Geschwister spät abends in die Nähe von Valparaiso. Rosario, des langen Reitens ungewohnt und durch die glühende Hitze des Sommertags halb verschmachtet, konnte sich kaum noch im Sattel halten. Der Gedanke, mit jedem Hufschlag ihres starken, ausdauernden Pferdes dem Gefangenenzuge näher zu kommen, ihn womöglich noch unterwegs, noch vor Valparaiso, anzutreffen, ließ sie seit dem frühesten Morgen geduldig die beschwerliche Reise ertragen. Jetzt aber war sie am Ende ihrer Kraft.
Die letzte Nacht hatten die Geschwister in einem einfachen Bauernhause, einem Rancho, am Wege zugebracht. Von Schlaf war keine Rede gewesen. Auf einer Holzbank sitzend, hatten sie den Anbruch des Tages erwartet. Die Pferde hatte man in dem umzäunten Hofe frei laufen lassen. Ein wenig grünes Futter genügte den anspruchslosen Tieren, um wieder leistungsfähig zu sein. Dann hatte Joaquin sie wieder gesattelt, und die Geschwister waren in aller Stille fortgeritten. Still war auch dieser ganze Tag verlaufen. Die Landschaft, die sie durchritten, hatte einen wüstenartigen Charakter. Kein schattenspendender Baum, kein Strauch war weit und breit zu sehen. Mächtige Säulenkakteen wuchsen überall in Menge, und diese, in Verbindung mit dornigem Gestrüpp, bildeten stundenlang den ausschließlichen Pflanzenwuchs der Gegend.
Von dem wolkenlosen tiefblauen Himmel brannte die Sonne unbarmherzig auf die Reiter herab. Mit Schrecken malte sich Rosario die Leiden des Vaters aus, der dürstend, allen Schutzes bar, bei solcher Sonnenglut gestern durch diese Landschaft geschleppt worden war. Ob er derartige Anstrengungen und Entbehrungen bei seinem ohnehin schon sehr geschwächten Körper ausgehalten hatte? Vielleicht war er unterwegs noch schlimmer erkrankt, vielleicht hatten rohe Soldaten ihn gar mißhandelt. »Allmächtiger, laß mich ihn wiederfinden!« flehte Rosario in stillem Gebet. Doch mehr und mehr bemächtigte sich ihrer durch die Einwirkung der Hitze eine dumpfe Gleichgültigkeit. Stundenlang wechselten die Geschwister kein Wort mehr; denn auch Joaquin litt unter dem Sonnenbrande. Erst gegen Abend, als sich ein leichter Wind von den Bergen herab erhob, fühlte sich der junge Mann wieder etwas wohler, und auch die Pferde trabten munterer als bisher abwärts. Aber endlos schien der Weg, und ein Blick auf Rosario zeigte Joaquin, daß sich die Schwester nicht mehr allzu lange im Sattel zu halten vermochte. Seine Absicht, noch in dieser Nacht Valparaiso zu erreichen, mußte er daher aufgeben. Drüben, jenseits der Straße, tauchten Bäume, grüne Flächen auf. Ein Haus, in freundlichem Weiß gehalten, grüßte aus grüner Umrahmung herüber. Wie wohltuend, wie besänftigend wirkte dieses Bild auf Joaquin nach dem langen Ritt durch die Öde der Wüste! »Sieh dorthin, Rosario!« rief er der Schwester zu. »Dort winkt uns Unterkunft und Erfrischung.«
Doch Rosario war zu müde, um sich danach umzusehen. Sie hing nur noch im Sattel. »Laß uns absteigen und ruhen!« brachte sie endlich mühsam hervor.
»Gleich, Kind!« Mit diesen Worten nahm der Bruder die Zügel von Rosarios Pferd und ritt auf die Hazienda am Wege zu. Der Besitzer, ein noch junger Mann, der in der Abendkühle vor dem Hause sich gerade behaglich in einer zwischen zwei mächtigen Lorbeerbäumen ausgespannten Hängematte ausgestreckt hatte, erhob sich sofort beim Anblick der fremden Reiter und bewilligte ohne weiteres Joaquins Bitte, an diesem Orte einige Stunden rasten zu dürfen. Keine Frage nach Zweck und Ziel der Reise stellte der Mann. Höflichkeit und Gastfreundschaft sind in Chile zu selbstverständliche Dinge. Er half Joaquin die Schwester vom Pferde heben, dann übergab er das Mädchen der Obhut seiner inzwischen herbeigeeilten Gattin.
Rosario ließ sich ohne Widerrede von der besorgten Landsmännin entkleiden und zu Bette bringen. Etwas Palmenhonig, in Wasser gelöst und mit Zitronensaft gemischt, löschte ihren brennenden Durst. Nach dieser Erquickung sank sie rasch in tiefen Schlummer.
Unterdessen wurden die Pferde von den Knechten des Haziendado abgesattelt, getränkt und gefüttert, und Joaquin folgte der Einladung des Besitzers, auf der Veranda des Hauses Platz zu nehmen. Ein bescheidener Imbiß und kühler Trunk hoben seine gesunkenen Kräfte wieder. Joaquin erzählte seinem Gastgeber, daß er von Santiago komme und mit seiner Schwester nach Valparaiso wolle.
»Daß die Señorita Eure Schwester ist, habe ich trotz dem großen Altersunterschied zwischen euch beiden sofort an der auffallenden Ähnlichkeit gesehen«, sagte Don Felipe Echauren, der Besitzer der Hazienda. »Vor morgen früh könnt ihr nicht fort von hier, denn Eure Schwester bedarf dringend der Ruhe; sie kam ja mehr tot als lebendig hier an.«
»Diese Ruhe will ich ihr gerne gönnen; sie hat sie redlich verdient«, antwortete Joaquin.
»Und für Euch haben wir auch noch ein Plätzchen für die Nacht. Nehmt damit fürlieb und betrachtet mein Haus als das Eure!«
»Vielen Dank, Herr!«
Die Männer schüttelten sich die Hand. Damit war die Sache abgemacht. Don Felipe brachte Papierzigarren, sogenannte Zigarillos, herbei. Schweigend rauchten die Männer eine Weile. Eine Öllampe auf dem Tische verbreitete ein schwaches Licht. Joaquin spürte, daß ihn sein Gastgeber aufmerksam beobachtete.
»Ihr seid Chilene von Geburt?« fragte dieser Joaquin plötzlich, fast unvermittelt.
»Ja, ich stamme von Santiago. Meine Familie ist dort seit Geschlechtern schon ansässig.«
»Das freut mich zu hören«, erwiderte Don Felipe; »auch ich bin alteingesessener Chilene und«, fügte er leise, mit besonderer Betonung bei, »kein Spanier. Viva Chile!« Bei diesen Worten streckte er Joaquin die Hand entgegen, die dieser herzlich drückte.
»Heute zog hier ein Trupp spanischer Soldaten vorbei«, fuhr Don Felipe fort. »Sie hatten eine Menge von Gefangenen in ihrer Mitte. Einige davon erkannte ich von weitem als unsere besten Bürger. Carramba! Es muß in Santiago oben irgend etwas Schlimmes vorgekommen sein. Wißt Ihr darum?«
»Leider ja. Mein eigener Vater ist mit unter den Geächteten.« Joaquin teilte seinem aufhorchenden Wirte alles mit, was sich in den letzten Tagen in der Hauptstadt des Landes ereignet hatte.
»Dacht' ich es mir doch gleich«, fuhr Don Felipe in ehrlichem Zorne auf, »daß dieser Teufel von Osorio irgendeinen Gewaltstreich ausgeführt haben mußte, als ich den Zug hier vorübereilen sah, als könnten die Gefangenen nicht rasch genug nach Valparaiso gebracht werden. Nun aber freut es mich doppelt, Euch und Eurer tapfern Schwester, der Gott und die heilige Jungfrau zum Gelingen ihres Vorhabens beistehen mögen, Gastfreundschaft erweisen zu dürfen. Zählt auf mich, wenn die Stunde der Abrechnung mit den Bedrückern unseres Vaterlandes schlägt!« – »Frau, komm!« rief Don Felipe in das Haus hinein.
Die Gattin erschien. »Ich habe mit unsern Kindern zu tun gehabt; entschuldigt, daß ich erst jetzt erscheine«, sagte sie zu Joaquin, der höflich grüßend vom Stuhle aufgestanden war.
»Das bedarf keiner Entschuldigung, Señora«, erwiderte er.
»Denke dir, Ines, unsere Gäste sind die Kinder des ausgezeichneten Rosales von Santiago!« erklärte Don Felipe seiner Gattin. »Unter den Gefangenen, die wir heute hier vorüberziehen sahen, befand sich auch ihr Vater.«
»Mein Gott, ist das möglich?« fragte die Dame des Hauses schmerzlich betroffen. »Und Eure Reise steht damit im Zusammenhange?«
»Ja, Señora«, bestätigte Joaquin.
»Das arme, zarte Mädchen!« klagte Frau Ines. »Wie todmüde war sie, als sie ankam! Ich sah vorhin noch nach ihr. Jetzt schläft sie so fest und ruhig, als ob es kein Leid und Weh in der Welt gäbe.«
»Setz dich zu uns, liebe Ines«, bat der Gatte, »und laß mich dir an Stelle unseres müden Freundes und Landsmannes von dem schweren Unglück erzählen, das in Santiago vorgestern so viele unserer besten Familien betroffen hat!«
Als Don Felipe seinen Bericht geendet hatte, glänzten Tränen in den Augen der Gattin. »Seid unserer innigen Teilnahme versichert, Don Joaquin, und wenn ihr von Valparaiso zurückkehrt, vergeßt unser Haus nicht!«
Damit gab sie Joaquin die Hand, der, begleitet von seinen Gastgebern, das für ihn hergerichtete Zimmer aufsuchte. Mit herzlichem Gutenachtgruße trennten sich die Gatten von dem jungen Manne. Dieser schlief, im Bewußtsein, bei Gleichgesinnten geborgen zu sein, und mit Dank gegen das Geschick, das ihn gerade dieses Haus auffinden ließ, ruhig ein.