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Zweites Kapitel

Das Licht der Morgensonne spielte auf den Blättern der Bäume und Sträucher in dem kleinen Garten, der den Innenhof des Rosalesschen Hauses bildete. Leise plätscherte der Springbrunnen, seinen feinen Wasserstrahl in ungezählte Tropfen auflösend, die, einem Prisma gleich, das Licht als zarten Regenbogen widerspiegelten. Einige buntfarbige Papageien kreischten in großen Käfigen in dem gedeckten Säulengang, der rund um den mit Blattpflanzen und Blumen geschmückten Hof lief, auf den die Zimmer des in altspanischem Stile gebauten Hauses mündeten. Der Hauch wohltuenden Friedens lag über allem.

Rosario hatte sich von ihrem Lager erhoben und ließ durch die offene Tür die frische Morgenluft vom Hofe hereinströmen. Die brennenden Augen kühlte sie mit dem Wasser des Brunnens; dann kleidete sie sich sorgfältig an. In ihr war endlich ein Gedanke gereift, und je mehr sie diesem nachhing, desto mehr beglückte er sie; ja sie fühlte sich ordentlich erleichtert, als sie sich ausmalte, welche wohltätigen Folgen ihr Schritt für ihren armen Vater haben, wie rasch das Unglück, das sie betroffen, gewendet sein würde. »Wie merkwürdig, daß mir dieser erlösende Gedanke nicht schon gestern gekommen ist!« sagte Rosario leise vor sich hin. »Ich hatte ganz den Kopf verloren; aber nun wird und muß es gehen, wie ich mir die Sache vorstelle.«

Unterdessen hatte auch Joaquin sich von seinem etwas unbequemen Lager erhoben. Die Glieder schmerzten ihn. Maria, die alte Dienerin des Hauses, kam auf sein Rufen mit vom Weinen verschwollenen Augen herbei. Seufzend deckte sie den Frühstückstisch. Der einzige Trost dieser treuen, an ihre Herrschaft anhänglichen Seele war, daß wenigstens Rosario, die von ihr abgöttisch geliebte junge Herrin, wieder aufgefunden und heimgebracht worden war. Das unbegreiflich lange Verschwinden des jungen Mädchens war für sie unter all den schlimmen Ereignissen der letzten sechsunddreißig Stunden das Schlimmste gewesen. »Ach, mein Gott«, klagte die Alte, während sie das Geschirr auf den Tisch stellte, »unser armer Herr, was er jetzt wohl machen mag?«

»Sie haben ihn aus Santiago fortgeschafft«, antwortete Joaquin dumpf.

»Wohin?«

»Das ist eben das Traurige, daß ich es selbst nicht genau weiß. Zunächst nach Valparaiso, aber nachher? O dieser niederträchtige Osorio!«

»Ja, ein Räuber, ein Mörder ist er! Und unsere arme Kleine, wie die leiden muß! Ich starb fast vor Schrecken, als sie uns gestern nacht ins Haus gebracht wurde. Wie eine Wachsfigur so leblos und doch wieder so schön wie ein Engel lag sie da.« Die Alte strich bei dieser Erinnerung mit der welken Hand über die Augen.

»Was macht Rosario? Warst du schon bei ihr?«

»Ja, Herr, sie steht gerade auf. Aber entsetzlich ist der starre Blick ihrer sonst so fröhlichen Augen; ich kenne meine liebe Rosario nicht mehr. O heilige Jungfrau, was hat diese eine Schreckensnacht aus dem zarten Kinde gemacht!«

»Ja, wir müssen viel dulden«, erwiderte Joaquin leise. »Ich wollte, ich könnte und dürfte mich an den Tyrannen, die unser schönes Chile beherrschen, unsere besten Männer wie Verbrecher mißhandeln, rächen. So aber muß ich mich, schon aus Rücksicht für den armen Vater, in ohnmächtigem Grimm verzehren und zuwarten, was das Schicksal weiter mit uns vorhat.«

»Es ist wirklich fürchterlich!« Die Dienerin nickte zustimmend.

»Und unsere Familie«, fuhr Joaquin fort, »ist nicht die einzige, die ihres Oberhauptes beraubt worden ist. Denke dir, viele, die Cienfuegos, die Eganas, Blanco Encalada, Solar di Roja und andere traf dasselbe Los.«

»Ist das möglich?« jammerte die alte Dienerin. »O großer Gott, du wirst diese Unmenschen zur Rechenschaft ziehen!«

»Ja, das wird er«, entgegnete der junge Mann. »Hoffen und vertrauen wir auf ihn und die Heiligen! Sie werden uns rächen.«

»Amen!« fügte Maria bei, indem sie sich andächtig bekreuzte und mit gesenktem Kopfe leise das Zimmer verließ.

Kurz darauf erschien Rosario. Die Geschwister begrüßten sich herzlich. Joaquins Bitten, etwas zu genießen, um mit den frisch belebten Körperkräften auch den gesunkenen Mut wieder zu heben, leistete die Schwester Folge. Stillschweigend verzehrten die beiden das einfache Frühstück. Dann lehnte sich Rosario in ihrem Stuhle zurück, den Blick nachdenklich auf die Decke des Zimmers gerichtet. Mit zärtlicher Aufmerksamkeit betrachtete sie der Bruder. Welche Veränderungen hatten die letzten Tage im Äußern des Mädchens hervorgebracht! Das war kein Kind mehr, das da vor ihm saß, das war ein entschlossenes Weib geworden. Joaquin stellte dies unwillkürlich fest, als er die Gesichtszüge der Schwester beim hellen Lichte des Tages studierte. Die feinen Lippen Rosarios waren zusammengepreßt, ein herber Leidenszug lag um den Mund. Die Mienen drückten eine Willenskraft aus, die erst das Unglück geweckt hatte. Der natürliche Liebreiz Rosarios wurde durch den tiefen Ernst der dunkeln Augen noch gehoben. Joaquin gestand sich, daß er seine Schwester noch nie so schön gesehen habe wie in diesem Augenblick. Welche schweren Gedanken mochten sich hinter der hohen Stirne des Mädchens bewegen? Was mochte Rosario vorhaben? Denn daß ein Entschluß von ihr gefaßt worden war, offenbarte sich in ihrem stillen Sinnen.

»Höre Joaquin!« sagte das Mädchen nach langem Schweigen. »Ich habe mir vorgenommen, diese Stunde noch zu Osorio zu gehen.«

»Zu Osorio?« rief der Bruder erstaunt, kaum seinen Ohren trauend.

»Ja, zu Osorio.«

»Aber um aller Heiligen willen, was suchst du bei diesem Verbrecher?« erwiderte Joaquin erschrocken.

»Ich will ihn um die Freiheit unseres guten Vaters anflehen.«

»Das wird nichts nützen, liebe Schwester.«

»Oh, ich denke doch! Wie will ich bitten, wie will ich ihm alles vorstellen, ihm sagen, wie gut der Vater ist, wie er niemals auch nur den leisesten Gedanken daran gehabt hat, seinem Lande irgendwelchen Schaden zuzufügen, welch glühender Vaterlandsfreund er im Gegenteil ist. Und dann, ja, dann will ich Osorio vorstellen, wie kränklich der Vater ist, wie sehr er der Pflege durch seine Kinder bedarf, wie ihn diese wiederum nicht missen, nicht entbehren können. Meine Tränen werden, mit meinen Bitten vereint, das Herz des Gewalthabers erschüttern. Gott und die heilige Jungfrau habe ich in innigem Gebete um Erfolg angefleht, und gerade weil mich dieses Gebet so wunderbar beruhigte und stärkte, glaube ich an einen guten Ausgang meines Vorhabens.«

»Wollte Gott, du hättest recht! Aber Mädchen, bedenke doch nochmals, was du unternehmen willst! Es ist mir nicht möglich, zu glauben, daß von Osorio Gutes kommen kann, von ihm, der für mich der Gegenstand größten Abscheus, unversöhnlichsten Hasses geworden ist.«

»Ich hoffe und vertraue auf Gott, der die Herzen der Menschen oft in so wunderbarer, rätselhafter Weise lenkt. Er, der Allmächtige, wird mir helfen, Joaquin.«

»So gehe denn in seinem Namen, Schwester!« antwortete Joaquin ergriffen. »Aber mir, dem Bruder, steht es zu, dich zu begleiten.«

»Nur bis zur Türe von Osorios Haus«, entschied Rosario. Dann erhob sie sich, ergriff ihren Manto, den sie mit gewohnter Kunstfertigkeit über dem Kopf befestigte, und verließ, gefolgt von dem Bruder, das Haus.

Der Weg zum Palaste Osorios, dem Regierungsgebäude des chilenischen Vizekönigtums in Santiago, war nicht weit. Joaquin blieb an dem eisernen Tor des stattlichen Baues stehen, in dessen Innerem Rosario verschwand. Osorio war zu Hause. Das wurde dem Mädchen auf seine Frage nach dem Gewalthaber von der Wache berichtet. Ein Offizier, Osorios Adjutant, stand in dem Gange, auf den das Zimmer des Statthalters mündete. Mit frechem Blicke musterte der Spanier die schöne junge Chilenin, als diese auf ihn zutrat mit der höflichen Bitte um Einführung in Osorios Gemach. Doch bei dem hohen sittlichen Ernste des Mädchens, dessen ganzes Auftreten den Stempel der Vornehmheit trug, beschränkte sich der Offizier darauf, Rosario kurz zu fragen, wen er anzumelden habe.

»Die Tochter des Don Juan Enrique Rosales«, antwortete das Mädchen stolz.

Der Adjutant verschwand im Zimmer. Das Herz Rosarios begann zu klopfen, als bis zu ihr heraus eine kalte, rohe Stimme klang. »Doch Mut«, sagte sie sich, die Hand auf das pochende Herz pressend, »Mut! Gott ist mit mir. Seine Allgegenwart schützt mich.«

Die Türe öffnete sich, und mit einer Handbewegung lud der Adjutant Rosario zum Eintritt ein. Da stand sie nun dem gewalttätigen Manne gegenüber, der ihr so unbarmherzig den Vater geraubt hatte. Sie hatte ihn noch nie in unmittelbarer Nähe gesehen. Eine große Ruhe kam plötzlich über sie. Furchtlos blickte sie in das Gesicht Osorios, der, an seinen Schreibtisch gelehnt, das Mädchen von oben bis unten mit seinen schwarzen, stechenden Augen prüfend maß. Er war ein hagerer Mann, dieser spanische Statthalter, von gelber Gesichtsfarbe, die durch den tiefschwarzen Bart noch mehr hervorgehoben wurde. Roh, abstoßend war der ganze Mensch.

»Nun, Señorita«, sagte er nach Beendigung seiner Prüfung in höhnendem Tone, »was verschafft mir die Ehre dieses seltsamen Besuches?«

Rosario kniete nieder, hob die gefalteten Hände bittend gegen Osorio empor. »Herr«, sprach sie, »gebt mir meinen guten armen Vater zurück! Nehmt alles, was wir besitzen, nur laßt ihn uns, denn er hat nichts Übles getan!«

»Darüber steht Euch kein Urteil zu«, entgegnete Osorio groben Tones. »Euer Vater ist ein Aufrührer und wird als solcher behandelt.«

Rosario stand auf. »Mein Vater ein Aufrührer? Nein, Herr, er ist Chilene, glühender Vaterlandsfreund. Ist Vaterlandsliebe ein Verbrechen?« rief sie entrüstet.

»Vaterlandsliebe?« Osorio lachte spöttisch. »Eine schöne Vaterlandsliebe bei euch Chilenen, die ihr vergeßt, daß ihr spanische Untertanen seid! Ich werde euch Gehorsam lehren! Unterwerfung unter die Krone oder Tod! – Doch was rede ich über solches mit Euch!«

»Herr, bedenkt doch, das Alter meines Vaters!«

»Der trotzdem noch eine ganz hübsche junge Tochter hat!« höhnte Osorio.

»Er ist krank, er wird sterben«, klagte das Mädchen, die Bemerkung des Spaniers überhörend.

»Um so besser für ihn!« warf Osorio roh ein.

»Herr, habt Ihr denn kein Herz in der Brust? Habt Ihr nicht selbst Familie? Glaubt Ihr nicht an den Allmächtigen, der einst von Euch schwere Rechenschaft für das an meinem Vater begangene Verbrechen fordern wird? O Herr, seid barmherzig! Der Himmel wird es Euch lohnen.« Tränen erstickten Rosarios Stimme.

»Rechenschaft bin ich nur meinem König schuldig«, erwiderte der Statthalter kalt. »Spart Eure Worte, Señorita!«

»Herr, ich kann es nicht fassen, nicht glauben, daß Ihr uns den Vater für immer rauben, daß Ihr die Stimme des Gewissens nicht hören, den Zorn Gottes nicht fürchten wollt. Oh, wenn Ihr wüßtet, wie zärtlich er ist, wie abgöttisch mein Bruder und ich ihn verehren und lieben, Ihr würdet den alten, gebrechlichen, so sehr der Liebe und Pflege bedürftigen Mann seinen unglücklichen Kindern nicht länger vorenthalten!«

Ungeduldig stampfte Osorio mit dem Fuße. »Genug!« schrie er zornig. »Ich habe wahrhaftig Gescheiteres zu tun, als das Gewimmer eines Mädchens anzuhören.«

»So ist alles, alles umsonst?« schluchzte Rosario.

Als Antwort wies der Spanier mit der Hand nach der Türe, und laut aufweinend vor Schmerz verließ das Mädchen das Zimmer.


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