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Als Tounens aus der seiner gewaltsamen Entführung folgenden schweren Betäubung endlich erwachte, bemerkte er, daß er in einem geschlossenen Wagen lag, der so schnell wie möglich nach Norden fuhr. Der Lasso war entfernt worden, an dessen Stelle aber befanden sich Handfesseln, auch seine Füße waren mit einem Riemen zusammengebunden. Mit grimmiger Wut sah Tounens beim Lichte des Tages seine Fesselung, die ihm jede freie Bewegung der schmerzenden Glieder unmöglich machte. »Wie einen gemeinen Banditen behandeln mich die Schufte!« knurrte er zornig vor sich hin. – »Heda!« rief er einen Offizier, der neben dem Wagen ritt, durch die zerbrochene Fensterscheibe an. »Ist dies vielleicht bei Ihnen die Art, wie man einen Edelmann behandelt?«
Der Offizier gab keine Antwort.
»Sind Sie stumm?« brüllte Tounens, sich in seinem Zorne der französischen Sprache bedienend. »Geben Sie Antwort!«
»Ich handle nur meinem Befehle gemäß«, erwiderte der Chilene in fließendem Französisch.
»Und der lautet natürlich auf Überfall, Mißhandlung, Knebelung und feigen Meuchelmord, nicht wahr?« höhnte Tounens. »Ihr seid alle elende Wichte!«
»Sparen Sie Ihre Worte! Sie nützen nichts.«
»Leider ja. Trotzdem sollen Sie hören, was ich von Ihnen und Ihrem Volk denke, und wäre ich nicht gebunden wie ein Verbrecher, so würde ich Ihnen mit ganz besonderem Vergnügen den Kragen umdrehen!« schrie Tounens, in neue Wut geraten.
»So ist es nur gut, daß Sie an dieser menschenfreundlichen Absicht gehindert sind«, erwiderte der Chilene lachend.
Tounens verfiel in dumpfes Brüten. Stunden vergingen so.
Vor einem größeren Hause, einer Fonda an der Straße, wurde Halt gemacht. Die Fußfesseln wurden dem Gefangenen abgenommen und ihm von dem führenden Offizier bedeutet, er könne aussteigen, würde aber beim geringsten Fluchtversuch sofort erschossen.
»Steigen Sie doch aus und genießen Sie etwas! Sie schaden sich nur selbst.«
»Sagen Sie mir zuerst, wohin ich gebracht werde und was aus meinem Gefolge in dieser Nacht geworden ist!« drängte Tounens den Offizier.
»Das sind zwei Fragen. Die eine beantworte ich damit, daß Sie nach Santiago geführt werden, die zweite lasse ich unbeantwortet.«
Eine entsetzliche Ahnung stieg in Tounens auf. »So habt Ihr meine Leute getötet, o großer Gott! Sprechen Sie, ich bitte darum!«
Der Offizier schwieg und sah verlegen zu Boden.
»Packen Sie sich!« rief der Franzose fast wahnsinnig vor Erregung, als er durch das stumme Benehmen des Chilenen die Bestätigung seiner Ahnung erhielt. »Packen Sie sich fort aus meinen Augen, Mörder und Räuber, der Sie sind! Aus Ihrer Hand nehme ich, der frei gewählte König von Arauko, nichts an; eher will ich sterben. Und nun kein Wort mehr!« herrschte er den Offizier an, als dieser etwas entgegnen wollte. »Fort mit Ihnen, mir aus den Augen!« Tounens legte sich in die Ecke des schlechtgepolsterten Wagens. Der Schmerz um das Verlorene, um Rupaillangs Vater, um die Gattin selbst drohte ihm die Besinnung zu rauben. Lautes Stöhnen drang aus seiner heftig arbeitenden Brust.
Der große Schmerz des Gefangenen verfehlte nicht, sogar auf die rohen Soldaten Eindruck zu machen. Sie enthielten sich aller boshaften Bemerkungen und verrichteten ihre Aufgabe der Bewachung in ruhiger Weise.
Die Reise wurde fortgesetzt; nur zeitweise wurde gehalten, um die Pferde zu wechseln und den Mannschaften eine kleine Ruhepause zu gönnen. So ging es Tag und Nacht fort. An die Stelle der Wutanfälle war bei Tounens nach und nach ein gleichgültiger Zustand getreten; die durchgemachten fürchterlichen Aufregungen, verbunden mit dem Mangel aller Nahrung, hatten seine Kraft vorübergehend gebrochen.
Mehr tot als lebendig wurde der Indianerkönig einige Tage später in Santiago eingeliefert. Hier wurde sofort alles getan, um dem Gefangenen seine Lage erträglich zu machen. Die veränderte rücksichtsvolle Behandlung, die ihm zugebilligte anständige Umgebung bewirkten schließlich, daß der unglückliche Mann wieder Nahrung zu sich nahm und sich wieder zu erholen begann. Aber alle seine Bitten um Auskunft über das Geschick seiner Araukaner und seiner Gattin wurden nicht erfüllt. Arauko mußte, wie es schien, für ihn ausgelöscht sein. Diese Ungewißheit schuf Tounens die schlimmsten Qualen. Eine düstere Schwermut, manchmal noch unterbrochen durch Rückfälle in Tobsucht, fing an, ihn mehr und mehr zu beherrschen, und gab den Machthabern der Republik den erwünschten Grund, den Franzosen für irrsinnig zu erklären. Mit diesem einfachen Auswege wurde nicht nur ein peinlicher öffentlicher Prozeß vermieden, sondern auch allen möglichen diplomatischen Verwicklungen am besten aus dem Wege gegangen. Tounens konnte also mit dieser Begründung des Landes verwiesen werden, ohne eine Strafe für die Gründung einer Monarchie auf chilenischem Gebiete zu erleiden. Er wurde auf ein Schiff gebracht und landete nach monatelanger Überfahrt 1863 in Bordeaux.
Als halbgebrochener, vor der Zeit gealterter, tiefernster und wortkarger Mann langte Tounens in seiner alten Heimat an. Jahrelang lebte er ruhig, für sich allein, aus der Rente des ihm noch gebliebenen Vermögens, im geheimen sorgfältig bewacht von Agenten der französischen Regierung. Alle seine Versuche, aus Arauko irgendwelche Nachrichten zu erhalten, blieben ohne Erfolg. Die Zeit heilte langsam die Wunden des so schwer getroffenen Mannes; sein Mut und seine alte Willenskraft kehrten zum Teil zurück und nährten in ihm die stille Hoffnung, seine Gattin, die ihm in der Erinnerung nur noch teurer erschien, wieder besitzen zu dürfen, sein ehemaliges Königreich allen äußern Gewalten zum Trotz eines Tages wieder betreten und mit den treuen Araukanern Rache an Chile für die ihm zugefügte schwere Unbill nehmen zu können. Diese Hoffnung ließ Tounens alles ertragen und geduldig die Zeit der Rückkehr erwarten, die seiner festen Überzeugung nach eines Tages sicher kommen würde, kommen mußte.
Er sollte sich in dieser Hoffnung nicht täuschen. Der Sommer 1870 war gekommen. Am 4. September war das französische Kaiserreich durch die Siege der in Frankreich eindringenden Deutschen zusammengebrochen. Das ganze Land und die übrige Welt war des Krieges wegen in ungeheurer Aufregung. Kein Mensch dachte mehr an eine Beobachtung Tounens'. Die Agenten waren verschwunden, der Kriegswind hatte sie ebenso plötzlich weggefegt wie die sie bis jetzt bezahlende Regierung. Tounens' Stunde hatte geschlagen. Während die deutschen Truppen gegen Orleans marschierten, schwamm Tounens bereits auf hoher See, Südamerika zu.
Die Jahre, die der frühere Araukanerkönig in seiner alten Heimat zugebracht hatte, waren von den Chilenen gegenüber Arauko tüchtig ausgenützt worden. Um jedem Aufstand oder Auflehnungsversuch der Indianer von vornherein rasch und sicher begegnen zu können, wurden Straßen durch die Urwälder des Araukanerlandes angelegt, ebenso da und dort Forts, und der Telegraph verband alle wichtigeren Orte. Ihrer Ohnmacht und zahlenmäßigen Schwäche bewußt, hatten sich die Araukaner diese in ihren Augen unverzeihlichen Eingriffe der Chilenen in ihre alten Rechte gefallen lassen müssen. Hätten die zu dieser Zeit unter den tapferen Indianern wütenden, ihnen von den Chilenen gebrachten Pocken nicht eine erschreckende Anzahl von Menschenleben dahingerafft, hätte Chile, ohne schweren Widerstand zu finden, seine Sicherheitsmaßregeln nicht ausführen können.
So lagen die Dinge, als Tounens wieder auf argentinischem Boden landete und mit einigen Pampasindianern – seine alten Freunde wagte er aus Gründen der Vorsicht nicht aufzusuchen – und gekauften Pferden den Kordilleren zustrebte. Eine finstere Entschlossenheit spiegelten seine Gesichtszüge wider, als er sich bewußt wurde, die Grenze von Argentinien überschritten zu haben und wieder auf Chiles Boden zu sein. Nach tagelangem Umherirren in der gewaltigen Gebirgswelt gelang ihm endlich der Übergang über die Ausläufer der Anden in der Richtung auf den Vulkan Villarica. Keine Menschenseele hatte er auf dieser Suche nach einem beschreitbaren Pfade angetroffen. Er atmete erleichtert auf. Es war ihm erspart geblieben, Menschenblut zu vergießen, um sich den Weg in sein ehemaliges Königreich zurückzubahnen. Tounens betrachtete diesen Umstand als ein gutes Zeichen.
In stiller Majestät und im Glanze des sommerlichen Februartages erhob sich die schneeige Pyramide des Villarica. Mit welchen Gefühlen der Freude und Hoffnung hatte Tounens vor mehr als zehn Jahren diesen Berg aus der Ferne begrüßt! Und heute? Was lag nicht alles zwischen damals und eben diesem Heute! Keine freundlichen Gedanken wollten in des Mannes Geist einziehen, der da einsam, entfernt von seinen Dienern, auf dem Boden lag und unverwandt nach dem Berge hinüberstarrte, an dessen Fuß der See lag, wo er die schönsten Stunden seines Lebens verbracht hatte. Ein tiefer Seufzer hob Tounens' Brust und stahl sich über seine Lippen. Wie es jetzt wohl aussehen mag da, wo ich mit Rupaillang einst gewohnt? Ob sie meiner auch noch so gedenkt, wie ich ihrer, ob mein Kind, ein Knabe, ein Mädchen, mich mit der Mutter erwartet? Wie gerne will ich auf mein Königreich, auf alles verzichten, wenn mir nur die Gattin, die Mutter meines Kindes, dieses selbst erhalten geblieben sind! Großer Gott, sei nicht so grausam und raube mir nicht diese letzte Hoffnung! Eine heiße Träne rollte aus dem Auge des ernsten Mannes in den völlig ergrauten Bart.
Er stand auf. »Bald werde ich Gewißheit haben, ob ich noch an ein letztes Glück auf Erden glauben darf. Einstweilen habe ich keine Ursache, kleinmütig zu sein. Die verdammten Nerven spielen mir oft übel mit; aber daran sind diese Schurken schuld!« Zornig schüttelte Tounens die Faust gen Norden. »Oh, wenn ich es noch vermag – die Abrechnung mit euch Banditen soll nicht ausbleiben! – Vorwärts«, befahl er seinen Dienern, »hinein ins Araukanerland zu meinen Freunden!«
Zwei Tage später ritt Tounens auf die ehemalige Residenz seines Schwiegervaters zu. Wie traut, wie wohlbekannt erschien ihm hier noch alles! Kinder spielten vor dem Hause. Ob eines davon wohl sein eigenes war? Erschrocken über des Fremden Erscheinen, stob die Kinderschar schreiend auseinander und flüchtete sich in das Haus. Ein Indianer mit dem Kazikenabzeichen trat aus der Tür, um die Ursache des kindlichen Schreckens zu erforschen.
»Kalvun!« rief Tounens vom Pferde herab, als er den Araukaner sah. »Kalvun, ich bin es, Antonio!«
Der Kazike eilte auf Tounens zu und fing, sprachlos vor Überraschung und Freude, den vom Pferde Steigenden in seinen Armen auf.
»Kalvun, wo ist mein Weib, wo ist Rupaillang und unser Kind?« fragte Tounens hastig.
»Komm, Antonio, fasse dich, sei ein Mann!« antwortete Kalvun. »Ich habe dir viel zu erzählen.«
Tounens begann am ganzen Körper zu zittern; die Worte seines Schwagers erschreckten ihn furchtbar und erfüllten ihn mit schlimmen Ahnungen; er vermochte sich im ersten Augenblicke nicht von der Stelle zu bewegen.
Voll Mitgefühl betrachtete der Kazike die seelische Erschütterung Antonios. »Komm, Antonio, komm herein!« Damit führte er den nicht mehr Widerstrebenden ins Haus, den Dienern Tounens' Befehl zum Absatteln erteilend.
Neugierig umstanden die Frauen und Kinder den Fremden, der sich, teilnahmslos gegen seine Umgebung, auf eine Matte gelegt hatte. Kalvun wechselte einige leise Worte mit einer der Frauen, worauf die ganze Familie still und geräuschlos aus dem Hause verschwand.
»Ich dachte mir wohl, daß du noch einmal kommen würdest, Antonio«, begann Kalvun nach langer Pause. »Es hat sich viel, sehr viel geändert, seit du uns geraubt wurdest. Die Chilenen haben Straßen in unser Land hereingebaut, Festungen angelegt und ...«
»Das alles will ich nicht wissen«, unterbrach Tounens den Schwager fast heftig. »Sag mir zuerst, wo und was ist mit Rupaillang!«
Kalvun blickte Tounens traurig an; leise zögernd kamen die Worte aus seinem Munde: »Sie ist tot, tot dein Kind, ein Knabe, tot, alles, alles tot.«
Ein fürchterlicher Schrei war die Antwort Tounens' auf diese wie ein Blitzstrahl all sein Hoffen zerschmetternde Botschaft.
Der Kazike stand auf und ließ seinen Schwager allein. Angesichts dieses grenzenlosen Schmerzes konnten Worte nicht trösten; das fühlte auch der einfache Sohn der Natur. Tounens mußte mit sich selbst und seinem Unglück allein fertig werden.
Stundenlang lag der Unglückliche da. Hin und wieder sah Kalvun besorgt nach ihm. Erst gegen Abend hatte sich Tounens so weit gefaßt, daß er seines Schwagers Erzählung mit Ruhe anhören konnte.
»Die Chilenen werden sicherlich wieder auf dich Jagd machen, sobald sie von deiner Anwesenheit im Lande vernehmen, Antonio«, schloß Kalvun seinen inhaltsreichen Bericht.
»Ich will dich und die deinen, meine Araukaner überhaupt, nicht der Gefahr aussetzen, meinetwegen in schwere Bedrängnis zu kommen. Wohl träumte ich noch kürzlich von Rache, ja ich sehnte mich geradezu nach ihr. Nun aber, da ich alles, alles verloren habe, hätte sie für mich keinen Sinn, keine Befriedigung mehr; für euch aber würde sie nur vermehrtes Unglück bedeuten.«
»Wir stehen trotz alledem zu deiner Verfügung, Antonio, wenn du bleiben willst. Wir fürchten den Kampf nicht«, entgegnete der Kazike blitzenden Auges.
»Gleichviel, ich werde schon um euretwillen nicht bleiben. Laß mich ein paar Tage ruhig hier bei dir rasten! Dann reite ich wieder fort.«
»Mein Haus ist das deine, Antonio. Im übrigen ist dein Heim noch in demselben Zustande, wie du es verlassen hast.«
»So will ich dahin gehen, wo ich mit Rupaillang so glücklich war. Die Erinnerung daran wird Balsam für mein krankes Herz sein.«
Kalvun brachte seinen Schwager in den ehemaligen Herrschersitz.
Einige Tage waren still verflossen, als der Kazike eines Abends aufgeregt in Tounens' Haus trat. »Mach dich rasch fertig, Antonio!« rief er. »Die Hunde sind bereits auf deiner Spur.«
Tounens sprang kampfesmutig auf, den geladenen Revolver ergreifend. »Ah! Etwas Rache für die Schandtaten werde ich an den Schuften am Ende doch noch nehmen.«
»Gehen wir, Antonio!« drängte Kalvun den Wütenden. »Alles ist zur Abreise gerüstet. Ich bringe dich auf sicherem Pfade hinüber über die Berge. Meine Leute kommen ebenfalls mit zum Schutze deiner Person.«
»Laß mich noch einige Andenken an Rupaillang mitnehmen!« bat Tounens. »So viel Zeit wird mir wohl noch bleiben.«
Kalvun willfahrte der Bitte und half seinem Schwager beim Einpacken all der verschiedenen mitzunehmenden Dinge.
Darüber war es dunkel geworden. Im Schatten der Nacht brachen Tounens und seine Begleiter auf. Kein Mond leuchtete am Himmel; dafür aber funkelten an ihm ungezählte Sterne, als die Reiter Osten zu ritten. Die Nacht ging ohne Unfall vorüber. Am nächsten Morgen begann der langsame Anstieg gegen das Gebirge und die Grenze des Araukanerlandes. Da tauchten plötzlich zur Rechten des Weges, wie aus dem Boden gewachsen, chilenische Soldaten aus dem sie verborgen haltenden Waldesdunkel auf und schnitten den Reitern den Weg ab. Ein Vorwärtskommen war ebenso unmöglich wie ein Rückzug.
»Ergebt euch!« forderte der chilenische Befehlshaber die Schar auf.
Als Antwort sprengte Tounens auf den Offizier zu und schoß ihn vom Pferde.
Der Schuß war das Zeichen zum allgemeinen Kampfe. Die chilenische Abteilung war nach kurzem Gefechte vollständig vernichtet; nicht ein Soldat blieb übrig. Aber auch die Araukaner hatten Verluste. Zu Tode getroffen lag Kalvun auf der Erde; er vermochte nicht mehr zu sprechen und drückte Tounens nur noch einmal schwach die Hand zum Abschiede für immer. Ein plötzliches Zittern lief durch den Körper des Kaziken, dann brachen seine Augen.
Die den Kampf überlebenden Indianer nahmen die Leiche ihres Kaziken mit nach Hause, nachdem sie sich von ihrem einstigen König ehrerbietig verabschiedet hatten. Dieser aber zog wieder hinüber über das Weltmeer – diesmal als völlig gebrochener Mann.
Im Jahre 1878 starb bei Bordeaux Orélie Antoine de Tounens, der erste und letzte König von Arauko.