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III
Ungewißheit. – Gefängniszustände. – Der Herr Staatsanwalt. Zellenwechsel.

Lange Zeit noch mußte ich im Freiburger Gefängnis bleiben, fortwährend zwischen der Hoffnung auf baldige Befreiung und der Verzweiflung, daß man mich an Rußland ausliefern würde, hin und her schwankend. Jeden Tag änderte sich daher meine Gemütsstimmung sehr oft. Dieser ewige Wechsel wirkte furchtbar deprimierend auf mich. Tödlich langsam schleppte sich die Zeit hin; endlos wurden die Tage, obgleich ich mich auf alle mögliche Weise zu beschäftigen suchte. Mit Büchern war ich versehen; dafür sorgten meine Kameraden und Professor Thun; Schreibzeug hatte man mir bewilligt. So las ich denn viel und suchte meine Gedanken, Eindrücke und selbst Erinnerungen zu Papier zu bringen.

Aber nicht nur die Ungewißheit des eigenen Schicksals und die quälende Befürchtung einer Auslieferung an Rußland wirkten auf mich ein, auch der Gedanke an das Schicksal meiner Freunde und die weitere Entwicklung des »Bundes für Befreiung der Arbeit« machte mir Sorgen. Unsere junge Organisation war noch im Stadium des Werdens. Wir waren ein an Zahl geringes Häuflein, und die Mittel waren gar karg. Als ich nach Deutschland ging, um unsere Erstlinge über die Grenze zu schaffen, hatte ich gleichzeitig den Plan, den Transport für die Zukunft zu organisieren. Nebenbei hatte ich noch verschiedene Angelegenheiten sowohl in bezug auf die Geldbeschaffung als auf die Organisation zu erledigen. Bei meiner Abreise aus der Schweiz hatte ich gleichfalls eine Menge der verschiedensten Geschäfte zurückgelassen, die meine möglichst baldige Rückkehr erforderten. Alle meine Genossen hatten die Hände voll zu tun, jedem war die Zeit kostbar. Und nun saß ich nicht nur hier im Gefängnis, verdammt zur Untätigkeit, sondern auch alle übrigen Mitglieder unseres Bundes waren in ihrer Tätigkeit gelähmt, weil sie den Lauf meiner Affäre verfolgen mußten, um auf diese oder jene Weise für meine Befreiung zu wirken. Das Bewußtsein, an dieser Hemmung unserer Zukunftspläne, wenn auch unfreiwillig, schuld zu sein, wirkte niederschlagend auf mich. Schon diese Dinge allein steigerten meine Ungeduld aufs höchste.

Meine Lage kann man sich, glaube ich, vorstellen, wenn man sich einen Menschen denkt, der ein höchst wichtiges und dringendes Geschäft zu besorgen hat und plötzlich ein Bein bricht, so daß er, statt sein Ziel zu erreichen, ins Krankenhaus gerät. Aber dieser Bedauernswerte würde dann von seinem physischen Schmerz gänzlich beherrscht; ich dagegen war frei von solchem Schmerz, aber gerade deshalb steigerten sich meine seelischen Folterqualen ins unendliche.

*

Die Zustände im Gefängnis ließen manches zu wünschen übrig. In der ersten Zeit war mir die Gefängnisordnung geradezu unausstehlich, bis ich mich dann allmählich an die deutschen Einrichtungen gewöhnte. – Wie bereits erwähnt, werden die Zellen bei Nacht niemals beleuchtet, und den Gefangenen bleibt dann nichts weiter übrig, als die ganze lange Zeit zu verschlafen. Wie ich später erfuhr, verweigerte man Licht aus Furcht vor Feuersgefahr, und aus demselben Grunde war das Rauchen verboten; was aber hier brennen sollte, war mir nicht recht klar, da außer den Türen, den Fensterrahmen und den Fußböden kein Holz vorhanden und das Gebäude ein massiver Steinbau war? Später, während meines Aufenthalts in Sibirien, fiel mir oft diese übertriebene Vorsorge in dem deutschen Gefängnis ein. Dort werden Tausende von Gefangenen, die zu Zwangsarbeit oder Verbannung verurteilt sind, in alten hölzernen Baracken untergebracht, die als Gefängnis und Etappenstationen dienen; stets werden diese Bauten beleuchtet und wird den Gefangenen das Rauchen ruhig gestattet. An Feuersgefahr denkt kein Mensch in diesen Gefängnissen. Dieser Zwang, die langen Abende ohne Licht zuzubringen, und das Rauchverbot müssen jedenfalls von vielen nicht nur als Entbehrung, sondern direkt als harte Strafe empfunden werden. Zu strafen hatte man aber in diesem Gefängnis überhaupt kein Recht, da es sich ja um Leute handelte, deren Schuld noch gar nicht erwiesen war.

Das Verhalten des Gefängnispersonals den Gefangenen gegenüber war jedenfalls von Milde recht weit entfernt. Mir passierte zum Beispiel gleich in den ersten Tagen folgendes: Der Spaziergang im Gefängnishofe war für alle Insassen eines Korridors gemeinsam; im Gänsemarsch mußten wir beständig herumtrotten, immer einige Schritte einer von dem anderen entfernt. Man kommt sich dabei vor wie ein Gaul, der am Seil in der Reitbahn herumgetrieben wird, und wie ich empfinden viele Gefangene diese Prozedur als eine beleidigende Erniedrigung und verzichten lieber ganz auf die Gelegenheit, frische Luft zu schöpfen. Bei einem solchen Spaziergang nun sah ich eines Tages, wie der militärische Wachtposten im Gefängnishofe abgelöst wurde. Das Schauspiel des deutschen Stechschrittes und der Gewehrgriffe war mir neu, und unwillkürlich blieb ich einen Moment stehen und störte damit die schöne Ordnung, indem ich den Abstand gegen meine Vorder- und Hintermänner nicht wahrte und vielleicht auch einen halben Schritt aus der Linie kam. Plötzlich fühlte ich, wie mich jemand an der Schulter packte und unter grobem Geschimpfe fortzerrte. Ich wußte nicht recht, was mir geschah, und kam erst zur Besinnung, als mich der Schließer in der Zelle, wohin er mich geschleppt hatte, anschnauzte. Der Mann gebärdete sich wie besessen und drohte, er würde mir den Spaziergang entziehen, wenn ich mich noch einmal unterstehe, mich derart zu betragen. Anfangs konnte ich absolut nicht begreifen, welches Verbrechen ich begangen haben sollte. Als ich dann dahinter kam, daß es sich einzig um den sekundenlangen unwillkürlichen Aufenthalt handelte, kam die Reihe wütend zu werden an mich, das war mir doch zu bunt! Jetzt fuhr ich den Wärter an, wie er sich unterstehen könne, mich derart zu behandeln; selbst ein Sträfling brauche es sich nicht gefallen zu lassen, daß man ihn puffe und zerre, wenn er zufällig aus der Reihe komme; und wenn ein so harmloser Vorgang derart als Verbrechen gegen die deutsche Gefängnisordnung betrachtet werde, so sei es verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, mir das vorher zu sagen, ich würde mir eine solche Behandlung noch lange nicht gefallen lassen usw. Das wirkte; der Mann zog alsbald sanftere Saiten auf, und seither standen wir auf friedlichem Fuße miteinander.

Die Kost im Gefängnis war quantitativ unbedingt ungenügend, reichte auf keinen Fall zur Sättigung eines erwachsenen Menschen. Wenn ich mich recht erinnere, bestand sie aus anderthalb Pfund Roggenbrot täglich, und zweimal am Tage wurde irgendeine Suppe oder ein Brei verabreicht. Fleisch bekamen die Gefangenen im ersten Monat nur zweimal wöchentlich und dabei in ganz mikroskopischen Portionen. Selbst die Wächter gaben zu, daß ein Gefangener, der nicht die Mittel besitzt, Extrakost zu bestreiten, sich nicht sattessen kann.

Die Zellen dagegen im ersten Stock, besonders soweit die Fenster nach der Straße lagen wie in der Zelle, die ich zu Anfang inne hatte, waren geräumig, hell und sauber. An Möbeln war ein Tisch vorhanden, ein Schemel und ein Bett; dieses bestand aus einer Matratze, einem Strohkissen und einer dünnen wollenen Decke. In einem Winkel der Zelle stand der Ofen, der vom Korridor aus geheizt wurde und von unten bis oben mit einem starken Eisengitter umgeben war; dies um einen Fluchtversuch durch den Kamin zu verhindern. An einer der Wände hing die Hausordnung, in der den Inhaftierten die verschiedensten Disziplinarstrafen für die geringfügigsten Übertretungen der Vorschriften angedroht wurden. Alle diese Vorschriften hatten den Zweck, der Verwaltung Mühe zu sparen und den Unterhalt der Inhaftierten möglichst sparsam zu gestalten. Auf den Inhaftierten wurde nicht die geringste Rücksicht genommen. Das eigentümliche war eben, daß in diesem Untersuchungsgefängnis die Inhaftierten nicht behandelt wurden als Leute, deren Schuld erst noch festgestellt werden soll, sondern schlechthin als Verbrecher, die ohne weiteres einer Strafe unterworfen werden, mit denen die Gefängnisverwaltung nach eigenem Ermessen verfahren darf. Dies wurde mir besonders bei folgender Gelegenheit deutlich:

Eines Tags wurde ich aus der Zelle in den Korridor im Erdgeschoß geführt, wo bereits eine Anzahl Gefangener längs der Wand aufgestellt waren; sie schienen etwas zu erwarten; auch mir wurde ein Platz angewiesen. Ich wünschte nun zu erfahren, was denn eigentlich los sei. Nachdem ich meine Frage mehrmals vergeblich wiederholt hatte, erklärte mir schließlich der Oberaufseher, der katholische Geistliche sei da und wünsche alle Gefangenen zu sprechen, die einzeln, der Reihe nach zu ihm geführt würden. Ich erklärte darauf rundheraus, daß ich als Sozialist absolut nichts mit dem katholischen noch sonst einem Geistlichen zu tun habe, und daher bitte, mich unverzüglich in meine Zelle zu bringen. Das schien dem Manne furchtbar komisch, und er schlug ein ironisches Gelächter an.

»Was Sie wollen, ist uns ganz egal; er will Sie sehen, und deshalb werden Sie ihm vorgeführt.«

Die Schließer, die dabei standen, wollten sich vor Lachen ausschütten. Sie taten, als wäre etwas Unglaubliches geschehen, indem ich einen Willen äußerte, und amüsierten sich über den russischen Barbaren, der in einem deutschen Gefängnis, und wenn's auch nur ein Untersuchungsgefängnis war, sich einbildet, Überzeugungen und Meinungen äußern zu dürfen. Und wirklich blieb mir nichts anderes übrig, als mich dem Geistlichen vorführen zu lassen. Unsere Unterredung war allerdings sehr kurz; auf seine Frage nach meiner Religion, antwortete ich ihm, daß ich als Sozialdemokrat keiner Kirche angehöre, worauf er mich mitleidsvoll anblickte und sofort entließ.

Ungemein lästig war auch das sonderbare Spionagesystem in diesem Gefängnis, besonders in der ersten Zeit. Oft, wenn ich mich in ein Buch vertieft hatte oder schrieb, tauchte plötzlich ein Schließer vor mir auf; er hatte sich auf den Zehen herbeigeschlichen, lautlos die Tür geöffnet und spähte umher. Bei mir hatte er es darauf abgesehen, mich abzufassen, wenn ich aus dem Fenster zu schauen wagte, eine Zerstreuung, die in der Hausordnung streng verboten war.

Geradezu lächerlich war die übertriebene Sorgfalt, mit der nicht nur in diesem, sondern auch in anderen deutschen Gefängnissen, die ich zu sehen bekam, die Gefangenen und ihre Sachen visitiert wurden. So zum Beispiel hatte ein Dutzend Orangen, die mir meine Freunde zuschickten, das Mißtrauen der Wächter erregt, und pflichtschuldigst hatte man jede einzelne Frucht in vier Teile zerschnitten, um zu untersuchen, ob nichts darin war. Das ging doch wirklich schon über Sinn und Verstand; kann man sich wohl vorstellen, daß man eine Attrappe herstellen kann, die einer Orange so ähnlich wäre, daß man sie nicht als solche erkennt, ohne sie aufschneiden zu müssen? Die russischen Gendarmen, die doch gewiß gerieben und mit allen Hunden gehetzt sind, bemühen sich meines Wissens niemals, das innerste Wesen einer Orange oder eines Apfels zu erforschen. Ihren Zweck erreichten die braven Leute trotz des ausgeklügelten Verfahrens doch nicht; auch in deutschen Gefängnissen ist der »Kassiber«, der Zettel mit Mitteilungen von und für Häftlinge, gang und gäbe, und keine Visitation war imstande, zu verhindern, daß ich streng verbotene Dinge durch alle deutschen Gefängnisse führte. All diese kleinlichen Schikanen und Formalitäten ärgern und verstimmen einen aber aufs äußerste. Besonders in der ersten Zeit waren sie mir wie gesagt unerträglich. Allmählich gewöhnte ich mich denn an die deutschen Gefängnissitten, auch das Personal gab seinen Übereifer mir gegenüber auf und wurde zutraulicher. Hierbei mochte der Umstand eine Rolle spielen, daß ich ein Fremder war, ein Russe; einen solchen hatten die Leute vielleicht noch nie im Leben gesehen, und deshalb interessierten sie sich für mich. Und dann: so pflichtgetreu immer der deutsche Beamte sein mag, er kann doch nicht umhin, dem materiellen Besitz desjenigen, mit dem er zu tun hat, einigen Einfluß auf sein Verhalten einzuräumen. Das Gefängnispersonal wußte, daß ich über einige Geldmittel verfügte – ich beköstigte mich zum Beispiel bei dem Oberaufseher, einem gewissen Roth –, sie sahen, daß ich alles hatte, was irgend im Gefängnis nötig und zulässig ist, und daß meine Freunde mich im Überfluß mit allen möglichen kleinen Bequemlichkeiten und Genüssen versorgten. Das schien den braven Leutchen zu imponieren. Dazu kam, daß ich ihnen bei jeder Gelegenheit versicherte, man würde mich bald freigeben; zum Teil war das ja wirklich meine Meinung, zum Teil kam es mir darauf an, ihre Wachsamkeit einzuschläfern; sie schienen denn auch der Ansicht zu sein, daß die Dinge sich so verhalten, wenigstens eine Zeitlang.

Das Personal bestand aus drei Mann, zwei Schließern und dem Oberaufseher, der zugleich Verwalter des Gefängnisses war. Alle drei suchten mich auf, um mit mir zu plaudern; sie fragten mich dann über die Zustände in Rußland aus und erzählten ihrerseits über die deutschen Zustände, über Gefängnisse, Gerichtswesen und was sie sonst interessierte. – Sie machten alle den Eindruck, daß sie mit ihrer Stellung zufrieden seien. In der Tat war ihr Gehalt auch relativ hoch, bis zu 2000 Mark und mehr jährlich, wenn ich nicht irre. – Besonders der Schließer, mit dem ich das erwähnte Rencontre hatte, besuchte mich später gern und oft. Er war, wie die beiden anderen auch, Soldat gewesen, hatte also die strenge deutsche militärische Disziplin in sich, die auch das Vorbild für das deutsche Gefängniswesen geworden ist; äußerlich schien er nicht nur hart, sondern direkt roh, in Wirklichkeit war er ein gutherziger Mensch. So zum Beispiel schlug er mir aus eigenen Stücken vor, er wolle die Speisen, von denen ich stets einen Teil übrig ließ, einem meiner Zellennachbarn bringen, weil der arme Mensch gar keine Mittel besäße und hungere; natürlich ging ich mit Freuden darauf ein. Ein kräftig gebauter, großer Mann, von ungefähr dreißig Jahren, hatte er die Stelle eines Schließers gefunden, als ihm nach der Dienstzeit sein eigentliches Metier, die Schreinerei, nicht mehr behagte. Wie die meisten deutschen Arbeiter hatte er nur eine Volksschule besucht, aber diese Schulbildung gibt unvergleichlich mehr als bei uns in Rußland; im Vergleich mit Leuten in ähnlicher Stellung bei uns war dieser Mensch geradezu gebildet zu nennen. Wir plauderten oft über alles mögliche, auch über Politik. Als Reichstagswähler stimmte er, wie er mir erzählte, für eine der damaligen Regierungsparteien, für die Nationalliberalen, wenn ich nicht irre. Meine Kenntnisse schienen ihm große Bewunderung einzuflößen, besonders die Kenntnis des Deutschen und Französischen, außer der russischen Muttersprache.

»Wie Sie das nur alles behalten können!« staunte er, wenn er sah, daß ich von einem französischen zu einem russischen oder deutschen Buche überging.

Etwas sonderbar war es, wie man mit meinem Gelde umzugehen beliebte. Wie erwähnt, hatte man bei der Verhaftung das Geld aus meiner Brieftasche genommen. Einige Tage später präsentierte mir der Oberaufseher eine Rechnung über die Ausgaben, die man davon bestritten hatte. Da zeigte sich, daß die Polizisten, ohne mich nur zu fragen, recht freigebig waren: das Zimmer im Gasthofe, das ich kaum einige Minuten benutzt hatte, hatten sie für einen Tag bezahlt, und außerdem hatten sie dem Gastwirte eine »Entschädigung für die Ruhestörung« ausbezahlt, drei oder fünf Mark waren es wohl. Dessen nicht genug; da die braven Leute den einen Koffer nicht hatten öffnen können, obwohl sie im Besitz des Schlüssels waren, so hatten sie mit meinem Gelds den Schlosser, und zwar sehr reichlich, für das Öffnen des Schlosses bezahlt. – Ich hieß die Rechnung ohne weiteres gut, weil ich nicht um Lappalien streiten wollte, aber amüsiert hat mich die Geschichte noch oft. Man ließ mich zahlen für meine Verhaftung, für »Ruhestörung«, die doch wahrhaftig nicht ich verursacht hatte, und für das Erbrechen meines Koffers, was doch wirklich nicht in meinem Interesse geschah! Das ist ungefähr so, als wenn man einem Delinquenten den Strick oder das Beil und die Mühewaltung des Henkers in Rechnung stellen wollte. Einem Einheimischen gegenüber hätte man sich jedenfalls derartiges nicht erlaubt, aber mit dem Ausländer machte man nicht viel Federlesens, – damals wenigstens.

*

Kurz nach meiner Verhaftung wurde ich zu einem Photographen geführt, der eine Aufnahme machte. Mir war nicht ganz geheuer dabei, denn ich mußte befürchten, daß mein Bild nach Rußland geschickt werde, wo man mich erkennen könnte; aber ich konnte natürlich nichts dagegen tun, weil ich nicht zeigen durfte, daß ich nach dieser Richtung etwas zu befürchten habe. Außerdem war ja die Photographie auch notwendig für die Recherchen in der Schweiz; es kam darauf an, daß man dort auf Grund derselben mich als Buligin anerkannte.

In der Tat wurde denn auch von den schweizerischen Behörden bestätigt, daß diese Photographie Buligin darstelle, auf dessen Paß ich reiste. Dieser Teil der Untersuchung war also erledigt. Auch die Beweise, die ich beibrachte, daß ich an den »Missetaten« des Jablonski und des Schweizers nicht beteiligt war und keine verbotenen Bücher in Deutschland verbreitet hatte, wurden anerkannt. Die russischen Bücher und Schriften, die in meinem Besitz waren, waren eben sozialdemokratischen Charakters und in Deutschland nicht verboten.

Immerhin vergingen Wochen, bis alle Formalitäten erledigt waren. Nach ungefähr anderthalb Monaten nach meiner Verhaftung erklärte mir endlich der Untersuchungsrichter, daß er in den nächsten Tagen die Sache abschließen werde, und zwar werde er berichten, daß keine Anhaltspunkte für eine Strafverfolgung gegen mich vorliegen. Die Entscheidung liege dann beim Staatsanwalt, dieser könne entweder zustimmen und mich unverzüglich in Freiheit setzen, oder aber er könne trotzdem die Sache an das Gericht übergeben. Im letzteren Falle aber würden die Richter zweifellos dem Antrage des Untersuchungsrichters zustimmen, und selbst wenn man wider alles Erwarten den Prozeß eröffnen sollte, so könne nicht daran gezweifelt werden, daß entweder meine Freilassung erfolgen müsse oder im schlimmsten Falle eine Strafe festgesetzt werde, die durch die Untersuchungshaft als verbüßt betrachtet werden würde. Auf diese Weise wäre meine Freilassung nur die Frage einiger Tage, und ich könnte ganz sicher sein, daß die Sache glatt ablaufe.

Ich glaubte ihm gern und wies den Gedanken von mir, daß hinter den Worten des Untersuchungsrichters noch etwas anderes verborgen sein könnte. Zwar kamen bald einige Umstände hinzu, die Argwohn erregen mußten, aber es ist ja so menschlich, das für wahr zu nehmen, was man heiß begehrt; wenn Hoffnung winkt, da findet sich stets ein Mittel, alles in rosigem Lichte zu sehen. So ging es mir damals auch.

Einige Tage nach dieser Erklärung des Untersuchungsrichters wurde ich in das Besuchszimmer gerufen. Hier fand ich die Frau meines Freundes Nadjeschda Axelrod und einen greisen Herrn, den Staatsanwalt. In strengem, drohendem Tone erklärte er uns beiden, er gestatte nur unter der Bedingung eine Unterredung, daß wir deutsch sprechen; bei dem ersten russischen Worte würde er uns trennen. Dieser Ton und das ganze Verhalten des grimmigen Greises stimmte durchaus nicht mit der Perspektive einer baldigen Befreiung, wie sie mir der Untersuchungsrichter eröffnet hatte. – »Welche Gründe hat dieser Herr für sein Verbot, russisch zu sprechen,« fuhr es mir durch den Sinn, »wenn ich ohnehin bald befreit werden soll?« Er war bereits im Besitz der Akten, und er kannte das Ergebnis, zu dem der Untersuchungsrichter gekommen war. Aber ich hatte in jenem Moment kaum die Möglichkeit, den Gedanken nachzugehen, und zog den Schluß, er sei einfach ein eingefleischter Formalist. »Das Gesetz schreibt vor, daß die Unterhaltung eines in Untersuchung befindlichen Gefangenen zu überwachen ist,« dachte ich mir, »und so zwingt er mich und Frau Axelrod, deutsch zu sprechen, damit er uns verstehen kann; es liegt also nichts Verdächtiges vor, was auf die Vereitelung meiner Hoffnung hindeuten könnte.«

Das strenge Auftreten des grimmigen Staatsanwalts – v. Berg war sein Name – hatte jedenfalls einen niederschlagenden Eindruck auf mich und Frau Axelrod gemacht, und wir wußten kaum, was wir einander sagen sollten. Infolgedessen wechselten wir einige inhaltslose Phrasen und nahmen sehr bald Abschied.

Die nächsten Tage sind mir besonders in Erinnerung geblieben. Gleich am folgenden Tage kam der Verwalter Roth in meine Zelle und erklärte mir in liebenswürdigster Weise, mit der Miene eines vollendeten Biedermannes ohne Arg und List, daß ich in eine Zelle im Erdgeschoß übersiedeln müsse, weil das obere Stockwerk, wo ich bisher untergebracht war, renoviert würde. Er tat dabei, als entschuldige er sich vor mir ob der Störung und bedauere, daß die andere Zelle nicht so bequem sei.

Diese Änderung kam mir jedenfalls sehr ungelegen, denn vor allem basierte der Fluchtplan gerade auf der Lage der Zelle, in der ich mich befand. Einer meiner Freunde hatte ein Zimmer im Hause gegenüber dem Gefängnis gemietet, und da das Fenster meiner Zelle nach der Straße lag, so verständigten wir uns in außerordentlichen Fällen durch verabredete Zeichen. Die Lage im ersten Stockwerk bildete kein Hindernis für die Flucht. – Neben diesen sozusagen geschäftlichen Erwägungen wurde mir der Abschied aus der bisherigen Zelle aus anderen Gründen schwer. Es waren mit diesen vier Wänden bereits mancherlei Erinnerungen und nicht nur finstere und traurige, sondern auch freundlicher Art verbunden. Besonders unangenehm war mir der Gedanke, daß das Fenster im Erdgeschoß jedenfalls nicht nach der Straße liegen würde, und das Beobachten der Straße war meine liebste Zerstreuung. An den Markttagen spielten sich dort allerhand interessante Szenen zwischen den Käufern und Verkäufern, Bauersleuten aus der Umgebung, ab; an anderen Tagen fanden auf dem Platze militärische Übungen statt, und dieses mir fremde Getriebe interessierte mich. Besonders liebte ich es aber in der Dämmerstunde, auf das Fenster zu klettern und die Kinder zu beobachten, die zu dieser Stunde sich auf dem Platze herumtummelten und alle möglichen Spiele anstellten. Ihrem fröhlichen Gelächter und Geschrei lauschend, versetzte ich mich im Geiste nach der Heimat, nach dem Süden Rußlands und gedachte der eigenen Kindheit ...

Das alles sollte mit der Übersiedelung in die neue Zelle fortfallen. Diese erschien weniger geräumig, finster, und die Fenster führten nach dem Hofe. Dieser letzte Umstand machte die Flucht nahezu unmöglich. Zwar blieben mir noch zwei, drei andere Fluchtpläne, doch zeigte sich später, daß keiner von ihnen wirklich ausführbar war. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß schließlich ein solcher Versuch überhaupt nicht nötig sein würde, weil man mich doch auf legalem Wege freilassen werde. Ich berechnete schon, wieviel Tage mich noch von diesem Augenblick trennen. Die Überführung in die andere Zelle erschien mir als nebensächlicher Zufall, der sich aus der Erzählung des Verwalters ganz harmlos erklärte. Meine Freunde faßten die Sache allerdings anders auf. Als sie mich einige Tage nicht am Fenster sahen, glaubten sie, man habe mich bereits insgeheim nach Rußland geschafft.


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