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Die Ermordung Tausender von unschuldigen Menschen hatte auf viele, unter diesen auch auf mich, einen furchtbaren Eindruck gemacht. Manchen war Blagoweschtschensk so zuwider geworden, daß sie es verließen, sowie das Bombardieren aufhörte.
Leider konnte ich solchen Beispielen nicht gleich folgen, aber ich war entschlossen, die erste Gelegenheit zu benützen, um nach dem fernen Osten zu übersiedeln, der mich schon lange interessierte. Ich wollte mich in der lebhaften, rührigen Handelsstadt Wladiwostok niederlassen und dort geduldig auf die Zeit warten, in der ich dem Gesetze nach würde in die Heimat zurückkehren können. Die Genehmigung der Verwaltung glaubte ich erhalten zu können. Indessen der Wunsch, Sibirien sobald wie möglich zu verlassen, ward immer lebendiger in mir. Daher kam ich öfter auf den Gedanken eines Fluchtversuchs zurück. Dann tauchte aber wieder der Zweifel in mir auf, ob es der Mühe wert sei, die, wenn auch beschränkte Freiheit aufs Spiel zu setzen, die ich mir während meines sechzehnjährigen Aufenthalts in den Gefängnissen Sibiriens errungen hatte. Im Falle meine Flucht vereitelt werden sollte, hätte ich mich auf die ganze Strenge der Verwaltung gefaßt machen müssen, und ich war schon in dem Alter, in welchem sich die harten Entbehrungen nicht mehr so leicht ertragen lassen wie in der Jugend – ich hatte schon lange mein vierzigstes Jahr überschritten.
So schwankte ich bis zum Frühling 1901 hin und her; dann aber veranlaßten mich verschiedene persönliche Angelegenheiten, einen endgültigen Entschluß zu fassen, der darauf hinausging, die »Brücken,« wie man zu sagen pflegt, »hinter mir zu verbrennen«. Ich war entschlossen zu fliehen, sobald die Schiffahrt auf dem Amur eröffnet sein würde.
Die Umstände waren meinem Vorhaben günstig: ein guter Bekannter von mir, der viele Verbindungen hatte, versprach mir seinen Beistand. Folgender Plan schien am leichtesten ausführbar: Ich wollte unbemerkt nach Chabarowsk fahren, von dort nach Wladiwostok und da Gelegenheit suchen, auf ein ausländisches Schiff zu kommen, das nach Japan fuhr. Dies gelang mir auch mit Hilfe des erwähnten Freundes.
Es versteht sich von selbst, daß ich die Einzelheiten meiner Flucht aus Sibirien, wo ich unter strenger Polizeiaufsicht stand, nicht alle beschreiben kann. So viel sei nur gesagt, daß, als ich – natürlich ohne jegliches Gepäck – auf das nach Chabarowsk abgehende Dampfschiff kam, auch der Adjunkt des Polizeikommissars an Bord erschien, in dessen Revier ich als »unter Polizeiaufsicht stehend« gemeldet war. Im ersten Augenblick dachte ich, mein Plan sei entdeckt und war natürlich nicht wenig erschrocken. Aber bald überzeugte ich mich, daß der Beamte nur gekommen war, um von Bekannten Abschied zu nehmen, die gleichfalls diesen Dampfer benutzen wollten. Es kam ihm sichtlich nicht in den Sinn, daß ich die Absicht hatte, der Polizei sozusagen vor der Nase aus Blagoweschtschensk zu entwischen; er dachte wohl, ich sei in derselben Absicht wie er an Bord gekommen. Dann suchte ich es so einzurichten, daß er mich aus den Augen verlor und daher denken mochte, ich sei nach Hause gegangen.
Auf dem Dampfschiff fand ich einige Bekannte, die zu den ortseingesessenen Leuten gehörten, aber die ahnten begreiflicherweise nicht, daß ich Sibirien für immer verlassen wollte. Im Gespräch mit ihnen gab ich mir den Anschein, auf Grund einer amtlichen Erlaubnis zu reisen. Unser Schiff war ein Schleppdampfer und ging daher sehr langsam, hielt an den Dörfern, die wir unterwegs berührten, und brachte uns erst am fünften Tage nach Chabarowsk. Hier drohte mir eins der gefährlichsten Momente, denn beim Verlassen des Dampfbootes mußten alle Passagiere ihre Pässe vorzeigen, und ich hatte selbstverständlich keinen. Ich umging dies Hindernis, indem ich auf dem Schiffe über Nacht blieb. Am anderen Morgen begab ich mich zu einem Bekannten, der dann auf den Dampfer ging, meine Sachen nahm und in seine Wohnung brachte; bei ihm wohnte ich bis zur Abreise aus Chabarowsk.
Auf meiner Flucht nach dem Osten hatte ich unter anderem auch die Gelegenheit, die mir unbekannten Gegenden wenigstens oberflächlich kennen zu lernen, die sich besonders seit dem Bau der russischen Eisenbahn schnell entwickelten. Dort wachsen die Dörfer wie die Pilze nach dem Regen und verwandeln sich bald in ganz leidliche Städte. Aus einem unansehnlichen Dorfe, das am Zusammenflusse des Ussuri mit dem Amur lag, hat sich Chabarowska die Stadt Chabarowsk verwandelt, die die Residenz des Generalgouverneurs vom Amurdistrikt ist. Die Lage der Hauptstadt dieses ungeheuren und reichen Landes ist sehr malerisch; sie liegt auf einem hohen steilen Felsen, der von zwei mächtigen Flüssen umspült wird: vom Amur und dem in diesen mündenden Ussuri. Aber die Stadt selbst erinnert an eine große Kaserne; die Mehrzahl der Bauten gehört zum Typus der Amtsgebäude, und auf den Straßen stößt man überall auf Militär. Wie in fast allen russischen Städten gibt es auch hier nicht die geringste Bequemlichkeit: die Straßen sind nicht gepflastert und daher bei Regenwetter fast unpassierbar; bei Nacht werden sie von Petroleumlampen schwach erhellt, die in großer Entfernung voneinander angebracht sind. Aber das städtische Museum fand ich gar nicht übel eingerichtet.
Die Einladung eines meiner Freunde, der an meinem Reisewege, in Nikolsk-Ussurijsk, wohnte, bei ihm einzukehren, nahm ich gern an. Der Ort war seit einem Jahre zur Stadt ernannt worden. Wie viele andere Städte des Amurlandes wimmelte Nikolsk-Ussurijsk damals von Militär, was sich dadurch erklären läßt, daß das Abschlachten der Chinesen noch nicht ganz zu Ende war und, wie es damals hieß, Vorbereitungen zum Kriege mit Japan getroffen wurden. Da das Land in der Nachbarschaft von China, Korea und Japan liegt und den »wahrscheinlichen« Schauplatz künftiger Kriegstaten abgeben wird, so bereitet sich die russische Regierung augenscheinlich schon im voraus darauf vor; indem sie viel Militär dahin zieht, verwandelt sie dieses Gebiet in eine Art Kriegslager.
Nach einem Aufenthalt von vierundzwanzig Stunden in Nikolsk-Ussurijsk fuhr ich nach Wladiwostok. Dies ist eine wunderhübsche Hafenstadt von etwa dreißigtausend Einwohnern, der oft, und nicht ohne Grund, eine glänzende Zukunft prophezeit wird. Die Lage derselben ist reizend, und was ihre öffentlichen Einrichtungen betrifft, steht sie schon jetzt hoch über vielen nicht nur sibirischen, sondern auch russischen Städten.
In Wladiwostok blieb ich drei Tage, denn so lange dauerte die Bewerkstelligung meiner Abreise auf einem ausländischen Schiffe. Endlich war alles bereit. Nun kam die letzte Nacht, die ich in Sibirien zubringen sollte. Ich verlebte sie fast schlaflos. In dem Gedanken, daß ich am nächsten Morgen von allem scheiden müsse, woran ich mich mit der Zeit schon gewöhnt hatte, gesellten sich Befürchtungen für den Ausgang meiner Flucht. So oft in meinem Leben hatten verschiedene Überraschungen und Zufälle alle meine Pläne grausam zerstört, daß es ganz natürlich war, wenn ich auch jetzt für den glücklichen Ausgang fürchtete. Ich hatte selbstverständlich nicht die geringste Lust, mich plötzlich statt in den freien Ländern, nach denen es mich zog, irgendwo im kalten Jakutenlande wiederzufinden, und bereitete mich im voraus auf alle Möglichkeiten vor.
Aber es gelang aufs beste: am nächsten Morgen betrat ich das ausländische Schiff, das nach Japan ging. Als das Schiff die Anker lichtete und mir keine Gefahr mehr drohte, bemächtigte sich meiner aber doch eine unaussprechliche Traurigkeit, als scheide ich nicht von dem Lande meiner Verbannung und Haft, sondern von der teuren Heimat; so gewöhnt sich der Mensch an alles, selbst an seine Knechtschaft und seine Fesseln. Meine Traurigkeit wurde in diesem Falle wohl mehr von dem Bewußtsein verursacht, daß ich meine Heimat vielleicht für immer verlasse.
*
Es war ein trüber Tag. Der Himmel war mit schweren Wolken bezogen; der Regen floß in Strömen. Unser Dampfer schwankte heftig und viele von den Passagieren wurden seekrank. Ich aber, der ich bis dahin noch wenig auf dem Meere gewesen war, blieb von der Krankheit verschont und war darüber sehr erfreut, da ich noch eine so lange Seereise vor mir hatte. Bald begann das Schiff die Küstenlinie der Halbinsel Korea zu umschreiben. Hier liefen wir in zwei Häfen ein, in den von Gensan und Fusan, und blieben in jedem vierundzwanzig Stunden. Mit anderen Reisenden fuhr ich ans Land und besah die Städte. Sie erinnern in mancher Hinsicht an japanische; sie haben dieselbe Bauart, denselben Überfluß an Läden und Lädchen. Die Japanesen scheinen dort schon das herrschende Element zu sein, und die Bestrebungen Rußlands, sie aus dieser Stellung zu verdrängen, werden wohl kaum von Erfolg gekrönt werden. Meiner Ansicht nach ist auch gar kein Grund dazu vorhanden, denn Japan hat das volle Recht, seinen kulturellen Einfluß auf Korea geltend zu machen.
Außer den erwähnten Städten gelang es mir, auch ein koreanisches Dorf in der Nähe von Gensan zu besuchen. Der primitive Charakter desselben setzte mich in Erstaunen. Es bestand nur aus einer außerordentlich engen Straße, die von strohgedeckten Holzhütten eingefaßt war; diese hatten weder Fenster noch Türen, die durch verschiebbare Bretter ersetzt wurden. Die ganze Bevölkerung wohnte eigentlich auf der Straße; hier wurden alle Arbeiten verrichtet, hier wurde gekocht, gegessen usw.
Fünf Tage nach unserer Abfahrt von Wladiwostok lag unser Schiff auf der Reede von Nagasaki. Als die Sanitärrevision durch die Ärzte vorüber war, stieg ich in eine der herbeigeeilten Schaluppen und ließ mich in ein in der Nähe der Küste gelegenes Hotel bringen. Im Vergleich mit russischen Gasthäusern erschien es mir billig, bequem und reinlich, und die japanesische Dienerschaft sprach auch ein gebrochenes Russisch.
In Nagasaki mußte ich mich entschließen, auf welchem Wege ich meine Reise fortsetzten wollte: ich konnte über Suez in einen der Häfen Westeuropas gelangen, und das wäre verhältnismäßig näher und billiger gewesen, aber ich hatte Lust, die Gelegenheit zu benutzen und Nordamerika kennen zu lernen; auf diese Weise konnte ich eine wider Willen begonnene Reise um die Welt zu Ende bringen. Ich erkundigte mich nach der Abfahrt des nächsten Schiffes nach San Franzisko und erfuhr, daß es erst in neun Tagen auslaufen sollte. Ich beschloß daher, diese Zeit zur Besichtigung der Stadt zu benutzen.
Nagasaki ist eine ziemlich große Stadt, die etwas über hunderttausend Einwohner zählt. Sie ist hübsch auf mehreren Hügeln gelegen, die eine sehr ausgedehnte Bucht umringen. Die meisten Straßen, besonders in dem japanischen Viertel, sind so eng, daß man sie zu Pferde nicht passieren kann. Die letzteren werden von Menschen ersetzt, die mit ihren kleinen zweiräderigen Wägelchen die Rolle unserer Droschkenkutscher spielen. Sie heißen »Kurnei«. Es gibt ihrer so viele, daß sie buchstäblich vor jedem Hause zu finden sind; haufenweise stehen sie auf den Straßen vor den Läden und Hotels. Sie umringen jeden Fremden, der auf der Straße erscheint, bieten ihre Dienste an und suchen ihn für sich zu gewinnen, indem sie ein gebrochenes Russisch oder Englisch kauderwelschen. Für den geringen Preis von 10 Cents, ungefähr 20 Pfennig, die Tour oder 20 Cents die Stunde, fährt der »Kurnei« seinen Insassen mit der Schnelligkeit eines Pferdes bergauf und bergab. Obgleich ihm der Schweiß von der Stirne rinnt, kommt es nicht selten vor, daß ihm ein zivilisierter Europäer noch mit Stock oder Schirm in den Rücken stößt, um ihn anzutreiben. Von seiner Tageseinnahme muß dieser schwer arbeitende Unglückliche, der zum Zugtiere geworden ist, dem Eigentümer des Wagens fast die Hälfte für die Benutzung desselben abgeben und auch der Stadt etwas zahlen für die Berechtigung, seinen Unterhalt durch diese schwere Arbeit zu gewinnen. Seine Nahrung besteht aus Reis und billigen Fischen. Kehren wir jedoch zur Stadt zurück.
Die meisten Häuser in Nagasaki sind hölzerne, zweistöckige Gebäude, in deren Erdgeschoß sich entweder ein Laden, eine Gastwirtschaft oder eine Werkstatt befindet. Es ist mir ein Rätsel, woher allen diesen unzähligen Läden ihre Käufer kommen und wie sie existieren können. Auf meiner Wanderung durch die Straßen sah ich oft in einer ganzen Reihe von Läden nicht einen einzigen Käufer, tritt aber einer ein, so wird er umringt wie ein seltener Gast.
Die Häuser des japanischen Viertels sind merkwürdig leicht und luftig gebaut, als wären sie nur eilig zum Sommeraufenthalt zusammengezimmert. In der ganzen Stadt herrscht musterhafte Ordnung, die Straßen sind überall vorzüglich gepflastert und werden vor jedem Hause von dem Eigentümer desselben bespritzt und reingehalten. Es gibt nicht den geringsten Staub hier, die Luft ist wunderbar rein und mild, und man fühlt wirklich, wie sich die Lungen beim Atmen weiten. Es ist daher nicht zu verwundern, daß viele Russen und Engländer Nagasaki als Kurort aufsuchen.
Das europäische Viertel, das sich am Kai hinzieht, ist voll von Hotels und Restaurants, Banken und verschiedenen Handelshäusern. Hier sind die Straßen etwas breiter, die Häuser sind fester gebaut und haben gemauerte Erdgeschosse; viele von ihnen sind mit Verandas oder einem Vorgarten versehen. Das Leben in Nagasaki ist ungemein wohlfeil; aber es ist auch ziemlich eintönig, besonders für einen Ausländer, der der Landessprache nicht mächtig ist. An Sehenswürdigkeiten ist nicht viel vorhanden: zwei oder drei Buddhatempel mit ungeheuren Bildnissen des Sakjamuni, ein Gewerbemuseum mit Mustern der einheimischen Erzeugnisse und die berühmten japanischen Teehäuser, das ist alles, was dem Fremden zur Verfügung steht.
Aber besonders schön ist die Umgegend von Nagasaki. Auf jedem Schritt muß man hier den Fleiß des Japaners bewundern, der kein zollbreites Stück Erde brach liegen läßt; die Gipfel der felsigen Berge ausgenommen, ist alles aufs sorgfältigste bearbeitet. Trotz der ungeheuren Arbeit, die der Japaner auf seinen Boden verwendet, scheint seiner Existenz etwas Luftiges und Märchenhaftes anzuhängen. Vieles macht in diesem höchst originellen Lande den Eindruck, als geschehe es nicht in Wirklichkeit, sondern als zöge alles wie die Bilder eines Kinematographen an uns vorüber; selbst der Gang der Männer sowohl als auch der Japanerinnen, besonders der jungen, erinnert ungemein daran.
Die Fortschritte, die Japan in der zweiten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts gemacht hat, sind zweifellos ganz erheblich. Jedoch wird ihre Bedeutung von vielen Europäern, besonders aber von den Japanern selbst entschieden übertrieben. Von der europäischen Zivilisation ist nur ein geringer Teil der Bevölkerung berührt worden, nur die oberen Schichten der Einwohner in den Hafenstädten. Nicht nur der Glaube, die Sitten und Gebräuche, sondern die ganze Lebenshaltung auf dem Lande sowohl als in den Städten ist noch ganz dieselbe geblieben, die sie seit uralten Zeiten war. Das Primitive der japanischen Sitten erklärt auch die hier allenthalben herrschende Ehrlichkeit: noch jetzt wird in Japan kein Haus, kein Laden zur Nacht verschlossen, niemand rührt fremdes Eigentum an, und das zufällig Gefundene wird von jedermann zurückerstattet. Aber in den Hafenstädten macht sich der Einfluß der europäischen Kultur schon geltend, und es ist anzunehmen, daß sich die Japaner unsere Begriffe von »Ehrlichkeit« bald angeeignet haben werden.
Ich verließ Nagasaki am Deck des ungeheuren Pacificdampfers »China«, der einer amerikanischen Schiffahrtgesellschaft gehörte. Das Billet am sogenannten » Europe an steerage«, ein Mittelding zwischen unserer zweiten und dritten Klasse, kostete ganze 180 Jen, das heißt gegen 360 Mark. Trotz des hohen Preises waren Unterkunft und Verpflegung geradezu scheußlich. Etwas Schlimmeres als die Verhältnisse auf diesem Schiffe, das für das beste unter den Pacificdampfern gilt, kann man sich kaum vorstellen: die schlecht zubereiteten Speisen wurden so unappetitlich aufgetragen, daß man sie nur widerwillig anrührte; in den winzigen Kajüten, die in drei Abteilungen geteilt waren, wurden sechs Personen untergebracht; sie waren eng, schmutzig und unbequem; unsere Abteilung hatte keinen Raum zum Spazierengehen. In solchen Verhältnissen mußten wir einundzwanzig Tage zubringen.
Ich benutzte den zweitägigen Aufenthalt der »China« in Jokohama, um diese Stadt und Japans Hauptstadt, Tokio, zu besuchen, die mit der Eisenbahn in ungefähr zwanzig Minuten zu erreichen ist. Über die Eindrücke jedoch, die ich von diesen Städten erhalten, will ich mich nicht verbreiten, da sie der kurzen Zeit wegen, die ich dort zugebracht, nur oberflächlich sind.
Während der ersten fünf Tage meiner Reise, bis Jokohama, konnte ich mich mit keinem der Mitreisenden unterhalten, da ich nicht Englisch sprach; die Langeweile plagte mich daher ganz gewaltig. Aber in dieser Stadt gesellte sich ein Franzose zu uns, ein Deutscher und ein Japanese, der etwas Deutsch sprach, und bald bildeten wir eine interessante internationale Gesellschaft, die nun auch fest zusammenhielt. Gespräche, Scherze und Anekdoten füllten die Zeit aus, die uns neben Schlafen und Lesen übrig blieb.
Am sechzehnten Tage kamen wir nach Honolulu, der Hauptstadt der Sandwichinseln, wo unser Dampfer vierundzwanzig Stunden bleiben sollte. Noch in Blagoweschtschensk hatte ich zufällig erfahren, daß ein guter Bekannter von mir, Dr. N. Rassel, auf einer der hawaiischen Inseln wohne. Als wir in Honolulu landeten, beschloß ich, den Aufenthalt des Dampfers daselbst zu benutzen und ihn, falls er dort wohnen sollte, zu besuchen. Mit Hilfe meines französischen Reisegefährten gelang es mir erst gegen Abend zu erfahren, daß mein alter Bekannter auf einer anderen Insel lebe, aber gerade jetzt in Honolulu sei. Als ich in seine Wohnung kam, war er nicht zu Hause. Ich ließ also ein Billet zurück, in dem ich ihm mitteilte, daß ihn ein alter Kamerad, der von Sibirien nach Westeuropa fahre, gern sehen möchte, und bat ihn, am anderen Morgen auf die »China« zu kommen und den »Russen« rufen zu lassen; meinen Namen schrieb ich absichtlich undeutlich hin, denn ich wollte mich überzeugen, ob er mich noch erkennen würde: wir hatten uns volle zwanzig Jahre nicht gesehen.
Als ich am anderen Morgen auf Deck war, sah ich einen ganz grauhaarigen Herrn in weißem Sommerüberzieher an Bord kommen. Ich ging ihm sofort entgegen, obwohl er meinem einstigen Kameraden nicht im geringsten ähnlich sah. Als ich erfuhr, daß er einen »Russen« suche, nannte ich seinen Namen und fragte, ob er wisse, wer ich sei. Er betrachtete mich lange, konnte mich aber nicht erkennen, so sehr mußte ich mich, seit wir auseinandergegangen, verändert haben. Endlich nannte ich meinen Namen.
»Deutsch! Sie sind's! Wie kommen Sie hierher?« rief er, indem er mich umarmte.
Ich erzählte ihm in wenigen Worten die Geschichte meiner Flucht und daß ich nach Europa wolle.
»Und heute wollen Sie fahren? Nein, daraus wird nichts! Sie müssen bei mir bleiben! Ein paar Tage bleiben wir hier und dann fahren wir auf meine Farm auf Hawai.«
Seine Einladung war so herzlich, daß ich sie gern angenommen hätte, aber dann ging die für die Überfahrt von Honolulu bis San Francisco bezahlte, verhältnismäßig große Summe von fünfzig Dollars verloren. Als ich Dr. Rassel meine Bedenken mitteilte, rief er:
»Unsinn! Das darf Sie nicht abhalten! Wenn es mit Ihren Geldern knapp steht, bezahle ich die Überfahrt von hier aus.«
Nach kurzem Zögern gab ich seinem Drängen nach und fuhr mit ihm ans Land.
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Von Dr. Rassel erfuhr ich, daß er nicht nur als praktischer Arzt auf Hawai beschäftigt, sondern auch Mitglied des hohen Senats sei und jetzt nach Honolulu gekommen sei, um an den Sitzungen der gesetzgebenden Körperschaft teilzunehmen. Ich blieb also einige Tage in Honolulu und hatte vollauf Zeit, die wunderhübsche Stadt zu bewundern, die 40 000 Einwohner hat. Dann fuhren wir zusammen nach der Insel Hawai, wo uns Frau Dr. Rassel auf der Farm erwartete und ich ganze vier Wochen blieb.
Von Dr. Rassel und seiner Frau, von ihren Verwandten und auch aus Büchern lernte ich während dieser Zeit nicht nur die augenblicklichen Verhältnisse dieser wunderbaren Inseln, sondern auch ihre Vergangenheit kennen. Das Leben der Eingeborenen, der Kanaken, bietet viel Originelles, aber auch Tragisches. Jedoch es würde zu viel Raum erfordern, wenn ich alles wiedergeben wollte, was ich dort gelernt. Nur so viel will ich sagen, daß infolge der Art und Weise, auf die »die Kultur« von den Amerikanern unter die Eingeborenen getragen wird, die letzteren unglaublich schnell aussterben. Von dem gesunden, kräftigen Volke, das zur Zeit, da Cook den Archipel entdeckte, 400 000 Menschen zählte, sind im Laufe von etwa hundert Jahren nur zwanzigtausend Menschen übrig geblieben, und auch diese sind jetzt mit verschiedenen Krankheiten behaftet, die sie vor der Ankunft der Europäer nicht kannten. Aber die Nachkommen der Bostoner Missionäre, die das »Christentum« auf diesen gesegneten Inseln lehrten und dann durch Gewalt und Betrug Herren des besten Teiles von dem wundervollen Lande wurden, raffen jetzt auf den üppigen Zuckerplantagen Millionen zusammen.
Der Aufenthalt bei Dr. Rassel machte mir viel Vergnügen. Wir unternahmen verschiedene Ausflüge nach allen Seiten der Insel Hawai, besichtigten die dortigen Sehenswürdigkeiten, den Vulkan Kilauea, besuchten die Zuckerplantagen, die Wohnungen der Eingeborenen usw. Im Gespräch kamen wir immer wieder darauf zurück, wie wunderbar unser Zusammentreffen auf diesen einsamen Inseln des Stillen Ozeans sei.
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Endlich, Ende Juli, nachdem ich den Aufenthalt auf diesen Inseln nach Herzenslust genossen, setzte ich meine Reise fort, diesmal mit einem Segelschiff. Von Hawai nach San Francisco mußte ich volle einundzwanzig Tage fahren. Während der langen Überfahrt war das Wetter meistens schön, aber eine Seereise wird einem schließlich doch überdrüssig, und ich war sehr erfreut, als wir am 25. August abends in den Hafen von San Francisco einliefen.
Dr. Rassel hatte mir Empfehlungen an seine Bekannten in San Francisco mitgegeben, und mit ihrer Hilfe wurde es mir leicht, mich in der Hauptstadt Kaliforniens zu orientieren. Nachdem ich mich ausgeruht und die dortigen Sehenswürdigkeiten besichtigt hatte, fuhr ich nach zehn Tagen über Chicago nach Newyork.
In Chicago wurde ich infolge einer vorhergegangenen brieflichen Verständigung von zwei dort wohnenden polnischen Sozialisten empfangen, die aus dem Königreich Polen emigriert waren. Sie nahmen mich sehr herzlich auf, aber leider konnte ich nur zwei Tage in Chicago bleiben, da mein Billet sonst seine Gültigkeit verloren hätte. Außerdem war Mac Kinley, der Präsident der Vereinigten Staaten von Nordamerika, gerade am Tage vor meiner Ankunft in Chicago ermordet worden, und die Amerikaner hatten den Kopf ganz verloren und fielen über friedliche Sozialisten her, indem sie dieselben des Anarchismus ziehen. Daher gaben mir meine Bekannten den Rat, auf meiner Reise durch Amerika vorsichtig zu sein und meine politische Gesinnung nicht hervorzukehren.
In Newyork wurde ich auch von einem Genossen, Dr. Ingermann, empfangen, der mich in sein Haus nahm. Verschiedene Gründe bestimmten mich, einige Zeit bei ihm zu bleiben, und erst nach vier Wochen fuhr ich mit dem englischen Dampfer »Satrapia« nach Liverpool.
Ich will weder meine Reise über den Atlantischen Ozean, noch den dreimonatlichen Aufenthalt in London, noch die Reise nach Paris und die vierzehn Tage, die ich dort zugebracht, beschreiben, denn sie sind durch nichts Besonderes ausgezeichnet. Auf dem Kontinent fand ich überall alte Kameraden, von denen sich viele in der langen Trennungszeit sehr geändert hatten. Die einen erkannten mich gar nicht, die anderen nur mit Mühe, alle aber sahen sie mich an, als wäre ich aus dem Jenseits wiedergekehrt.
Anfangs November verließ ich Paris und fuhr nach Zürich. Das war der Endpunkt meiner sechsmonatlichen Reise von Blagoweschtschensk. Hier wohnten meine alten Freunde – die Familie Axelrod –, von denen ich vor siebzehn und einem halben Jahre geschieden war. Nach einer, wenn auch nicht ganz fahrplanmäßigen Reise um die Welt kehrte ich am 5. November 1901 wieder zu ihnen zurück.
»Sieh, er hat sich fast gar nicht verändert!« rief P. Axelrod auf dem Bahnhof, indem er sich an seine Frau wandte und auf mich wies.
Aber es war ihm nur im ersten Moment unseres Wiedersehens so erschienen.
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Ein Jahr ist nun schon vergangen, seit ich wieder in freien Landen leben und von Stadt zu Stadt wandern kann. Ich habe mich in dieser Zeit mit und in den Verhältnissen der westeuropäischen Länder zurechtgefunden und dieselben kennen gelernt. Aber es versteht sich von selbst, daß mich die Vorgänge in meiner Heimat vor allem interessierten.
Siebzehn Jahre sind eine kurze Spanne Zeit im Leben eines ganzen Volkes; und doch sind in diesen Jahren in Rußland Umgestaltungen eingetreten, die selbst bei einer nur oberflächlichen Kenntnis dieses Landes in die Augen fallen. Zur Zeit meiner Verhaftung in Freiburg revoltierte hauptsächlich nur die studierende Jugend gegen die in Rußland herrschenden sozialen und politischen Verhältnisse. Langsam schwand auch diese Opposition, und Ende der achtziger Jahre sehen wir nur noch die krasseste Reaktion. In den letzten Jahren ist es anders geworden.
Auf viele Tausende steigt wohl die Zahl der Schriften, die in geheimen Druckereien herausgegeben und über das ganze ungeheure russische Reich verbreitet werden, die das Volk zum Ansturm gegen die zarische Selbstherrschaft aufrufen und bei der Bevölkerung der Großstädte und der Fabrikorte energischen Wiederhall finden. Massenweise gehen die Arbeiter mit den Studenten auf die Straße und geben durch laute Demonstrationen kund, daß sie die Abschaffung der Selbstherrschaft und politische Freiheit fordern. Der russische Zar und seine Minister greifen zu den strengsten und empörendsten Mitteln, um den im Lande auflodernden Brand zu ersticken. In einem überwiegenden Teile von Rußland ist das Standrecht eingeführt, die Gefängnisse können die Eingekerkerten kaum fassen, ganze Eisenbahnzüge von Protestierenden werden nach Sibirien gebracht. Aber keine Repressalien sind imstande, die in Fluß gekommene Bewegung aufzuhalten. Sie wird immer mehr anwachsen, immer weitere Kreise der Bevölkerung umfassen, und die Stunde ist nicht mehr fern, in der die Selbstherrschaft auch in Rußland der Geschichte angehören wird. Aber auch nur dann erst wird man sagen können, daß die Blutopfer in Rußland und Sibirien nicht umsonst gebracht worden sind.
Auch in vielen westeuropäischen Ländern sind in den letzten zwei Jahrzehnten große Veränderungen vorgegangen, wenn sie auch nicht so auffallend sind. In Deutschland sind die Ausnahmegesetze gegen die Sozialdemokratie aufgehoben worden, und schon dieser Umstand allein hat nicht nur im Leben dieser Partei, sondern auch in den Verhältnissen des ganzen deutschen Volkes eine bedeutende Veränderung hervorgerufen.
In einer Hinsicht nur ist Deutschland, wie es scheint, nicht einen Schritt vorwärts gekommen, nach wie vor ist es immer bereit, dem russischen Despotismus Dienste zu leisten. Wie ich, der ich mir in Deutschland nicht das geringste hatte zu schulden kommen lassen, vor achtzehn Jahren der russischen Regierung ausgeliefert wurde, so hat auch jetzt einen meiner Landsleute ein ähnliches Schicksal in diesem Lande ereilt. Als ich diese meine Erlebnisse zu Ende schrieb, wurde der vormalige russische Student Kalajeff ohne jeden Grund in Myslowitz verhaftet und den russischen Gendarmen überliefert. In dieser Hinsicht hat sich die preußische Polizei im Laufe der Jahre nicht im geringsten geändert. Aber zu Ehren der deutschen Nation muß ich sagen, daß außer den offiziellen Blättern die deutsche Presse über die Liebedienerei des offiziellen Deutschlands der russischen Regierung gegenüber ihrer Empörung kräftigen Ausdruck gegeben hat. Ob es etwas nützen wird – wer weiß es?