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XXX
Nischnaja Kara. – Neues Leben. – ›Raubgold.‹

Der Ort Nischnaja Kara, wo sich die Strafkolonie befand, machte einen eigentümlichen Eindruck. Die Gehöfte lagen einige Minuten Weges von dem Gefängnis entfernt am Abhang eines Hügels gegen das Flüßchen Kara, dessen Bett Goldstaub führt und im Sommer nahezu austrocknet. Weder in bezug auf seine Bauart noch auf seine Bevölkerung hatte der Ort etwas mit einem russischen Dorfe gemein. Am zahlreichsten waren die Sträflinge vertreten, Männer und Frauen; außerdem gab es eine Anzahl Bauern, Nachkommen der Kronbauern, die ehemals hier angesiedelt waren und in den Goldschwemmen fronten, oder Nachkommen von Sträflingen. Dann war ein ganzes Bataillon »Kosaken zu Fuß« hier stationiert, das den Nachtdienst im Kriminalgefängnis zu verrichten hatte, und schließlich wohnte hier ein Teil der Gefängnisbeamten und Kosakenoffiziere.

Dieser zusammengewürfelten Bevölkerung entsprach die Verschiedenartigkeit der Bauten. Die Kriminalsträflinge wohnten, soweit sie nicht verheiratet waren, in großen Kasernen, wo auch die Kosaken kampierten; die Offiziere und Beamten bewohnten kleine, nette Häuser, die Staatseigentum waren; die »Politischen« und die verheirateten Kriminalsträflinge hausten in jämmerlichen, zerstreut liegenden Hütten. Außer den genannten Bewohnern hatte Nischnaja Kara noch drei Kaufleute aufzuweisen, von denen jeder einen Kramladen betrieb.

In den ersten Tagen hatten wir große Mühe, ein Unterkommen zu finden, denn für die zwanzig Mann, die auf einmal das Gefängnis verließen, waren nicht gleich Wohnungen aufzutreiben. Wir mußten daher mit Behausungen vorlieb nehmen, in denen eine ganze Anzahl Menschen in einem Zimmer kampierten. Auch sonst gab es in der ersten Zeit viele Unbequemlichkeiten und Verdruß. Aber im allgemeinen war es eine bedeutende Besserung unserer Lage. Schon daß man die verhaßten Schließer nicht sah, war ein Hochgenuß, und besonders freuten wir uns, daß die barbarische Prozedur des Rasierens und Scherens jetzt wegfiel; auch durften wir unsere eigenen Kleider anziehen. In bezug auf unsere Lebensweise war es uns freigestellt, irgendein Handwerk zu betreiben, dagegen war die Ausübung der sogenannten »freien Berufe« verboten. Die Kontrolle unserer Korrespondenz war hier minder peinlich. Wir durften Briefe an die Verwandten schreiben, auch eine Anzahl Zeitschriften, die im Gefängnis verboten waren, war hier gestattet. Vor allem aber: wir durften uns jetzt zu jeder Zeit im Freien bewegen und in der Umgebung des Ortes nach Herzenslust umherwandern.

Seit dem Verlassen des Kerkers waren wir der Verwaltung des Kriminalgefängnisses unterstellt. Die Kontrolle wurde in der Weise ausgeübt, daß jeden Morgen und Abend ein Gefängnisaufseher mit einem Buche die Runde bei uns machte und wir uns in dieses Buch eintragen mußten; so wußte die Behörde stets, daß niemand sich entfernt hatte. Das Verlassen des Ortes auf eine Entfernung von mehr als zehn Werst war nur auf spezielle Erlaubnis des Verwalters gestattet, eben jenes Pacharukoff, der Fomitscheff verwundet hatte.

Auch in materieller Hinsicht gestaltete sich unser Leben günstiger als im Kerker. Außer den bisherigen Unterhaltsmitteln – Überweisungen von Naturalien aus Staatsmitteln und Geldbezüge aus der Heimat – konnten viele von uns durch private Erwerbstätigkeit etwas verdienen.

Im allgemeinen behielten wir unsere Organisation, wie sie im Kerker bestanden hatte, bei, unter Modifikationen natürlich, die den neuen Verhältnissen entsprachen. Wir bildeten nach wie vor ein »Artel« und wählten uns einen Obmann zur Erledigung aller gemeinschaftlichen Angelegenheiten. Naturgemäß erweiterte sich aber jetzt unsere Hauswirtschaft bedeutend, und wir hatten vieles zu besorgen, was im Gefängnis nicht in Betracht gekommen war. So brachte der Herbst für alle gesunden Männer strenge Arbeit: es galt im Walde Holz zu fällen und herauszuschaffen, damit wir für den Winter mit Brennmaterial versorgt waren; dann mußte das Holz klein gemacht werden. Im Winter mußte das Heu herangefahren werden, dessen wir für unseren Viehstand bedurften, wir hatten nämlich sechs Milchkühe und vier Pferde. Im Frühjahr wurden die Gärten bestellt und im Sommer auf den Wiesen Heu gemacht. Gekocht wurde auch jetzt gemeinschaftlich, wobei die Arbeit gruppenweise verrichtet wurde.

Es gab also alle Hände voll zu tun, und die Arbeit war oft sehr hart. Mir persönlich fiel besonders die Winterarbeit recht schwer: es mußte ziemlich weit – 10 bis 12 Werst – mit dem Schlitten gefahren werden, wobei es so einzurichten war, daß wir vor Abend zurückkehren konnten. Da hieß es denn um drei oder vier Uhr Morgens aufstehen und die Pferde einspannen; bei der sibirischen Kälte ist das schon an und für sich keine leichte Aufgabe, aber bei Nacht wird sie einfach zur Qual. Zu zweit hatten wir dann vier große Fuder Heu aufzuladen und heimzubringen. Natürlich waren wir recht ungeschickt bei der ungewohnten Arbeit, und es kam oft genug vor, daß die Stricke rissen oder die Pferde vom Wege abirrten; in unseren schweren Schafpelzen und Filzstiefeln konnten wir uns kaum rühren und wenn wir dann glücklich zu Hause anlangten, so waren wir trotz der grimmen Kälte in Schweiß gebadet.

Doch hatte diese Arbeit ihren eigenen Reiz. Es war ein sonderbares Gefühl, wenn man in tiefer Nacht über die schneeweiße Ebene in den finsteren Wald hinausfuhr; tiefste Stille ringsum, nur der Schnee knirschte unter den Hufen der Pferde und den Schlittenkufen, und zuweilen heulte ein Wolf in der Ferne. Miriaden Sterne funkelten am Firmament, ringsum nicht das kleinste Anzeichen menschlicher Ansiedlung. Aber die grimme Kälte, die gegen Morgen immer strenger wurde, ließ bald alle Poesie vergessen. Der Frost drang durch die Pelze, und man hatte ein Gefühl, als ob man am ganzen Körper mit scharfen Nadeln gestochen werde. Oft war es so entsetzlich kalt, daß der Branntwein, den wir zuweilen mitführten, in den Flaschen gefror, trotzdem wir ihn möglichst gut verwahrten; das Glas zersprang, und die Flüssigkeit bildete einen Eisklumpen.

Diese Fahrten waren glücklicherweise nicht gar zu häufig; etwa drei bis viermal im Laufe des Winters kam die Reihe an jeden von uns. Dagegen waren die Holzfahrten häufiger; doch war diese Arbeit lange nicht so beschwerlich, obwohl es auch hier zuzugreifen galt.

Nach solchen Fahrten war es besonders angenehm zu Hause. Die kleine Bauernhütte, die ich bewohnte, schien mir dann fast ein Palais. Ich fand mein Heim überhaupt recht gemütlich, obwohl ein verwöhnter Mensch sicher viel daran auszusetzen gehabt haben würde. Nahezu ein Drittel des Raumes nahm ein großer russischer Ofen ein, der leider nur zu oft rauchte und qualmte. Türen und Fenster schlossen schlecht, Wände und Diele hatten arge Ritzen, durch die der Wind hereinpfiff, obwohl ich fortwährend beschäftigt war, diese vermaledeiten Löcher zu stopfen. Aber das waren alles Kleinigkeiten, die der Wonne eines eigenen Heims keinen Abbruch tun konnten. Nur wer die Marter durchgemacht hat, keinen Augenblick allein sein zu dürfen, stets fremde Augen auf sich gerichtet zu sehen, weiß, was es bedeutet, ein »eigenes Heim« zu besitzen. Um diesen Genuß zu haben, lohnte es sich schon, kleine Mühen und Beschwerden zu ertragen, die vielfach zu vermeiden waren, wenn man sich zu zweit einrichtete. Es waren auch nur Busenfreunde, die diesen Modus wählten, alle übrigen zogen es vor, die Mühen des Haushaltes, wie Ofen heizen, Wasser schleppen, Zimmer fegen, allein zu tragen.

Meine Hütte, die ich im Zustande furchtbarster Verwahrlosung antraf, war Staatseigentum; ich hatte auf eigene Faust ausgebessert, was auszubessern war. Sie lag abseits von anderen Gebäuden am Ende des Dorfes an einem Hügelabhang; dicht daneben war der Friedhof. Anfangs machte es mir Sorge, daß die Tür von so jämmerlicher Beschaffenheit war, ein Stoß von außen genügte, um sie zu öffnen; das war nicht verlockend, wenn man bedenkt, daß ringsum viele Sträflinge hausten, unter denen es recht unheimliche Gestalten gab. Trotzdem hatte ich niemals Ursache, über diese Leute zu klagen, und wenn ich spät in der Nacht auf einsamen Wegen heimkehrte, fühlte ich mich so sicher, als wenn ich in der bestverwalteten Stadt wäre.

Einer der bemerkenswertesten Sträflinge in der Siedelung war ein gewisser Lyssenko. Es wurde erzählt, er habe eine ganze Familie abgeschlachtet, Männer, Frauen und Kinder, um zu rauben. Er war ein riesenstarker Mensch und damals an sechzig Jahre alt; er machte den Eindruck, daß er ein sehr verschlagener, aber kein böser Mensch sei; dabei war er sehr fromm. Wer ihn persönlich kannte, konnte sich nicht vorstellen, daß dieser Mann unschuldige Kinder gemordet haben sollte. Ich war neugierig, von ihm selbst zu erfahren, was an den Gerüchten sei, die über ihn verbreitet wurden, und fand auch Gelegenheit, ihn auszufragen.

»Ja freilich ist's wahr. Was ist da zu tun?«

»Aber wie konnten Sie es übers Herz bringen, Kinder zu töten?« fragte ihn ein Freund von mir.

»Da heult man schier, aber man schlachtet sie doch ab,« gab er zur Antwort. »Das war einfach Gottes Wille. Hätte er es nicht gewollt, hätte ich nicht morden können. Also hat Gott mir diese Tat auferlegt.«

Mein Freund, den Lyssenko scheinbar gut leiden konnte, fragte ihn dann:

»Nun, und mich, würden Sie mich morden, wenn Sie mich an einem sicheren Orte antreffen würden?«

»Wenn ich wüßte, daß Sie einen Haufen Geld bei sich haben, würde ich Ihnen den Hals umdrehen,« meinte er mit erfreulicher Offenherzigkeit – aber so ... Man tötet doch nicht ohne vernünftigen Anlaß.«

Zu jener Zeit trieb Lyssenko einen schwunghaften Handel, der eigentlich streng verboten war: er kaufte nämlich sogenanntes »Raubgold« auf und verkaufte Schnaps. Hier ist zu bemerken, daß ein Teil der Einwohner von Kara damals unter besonderen Verhältnissen lebte. Die Verdienste waren groß, weil ringsum bedeutende Goldfunde gemacht wurden. Mit einer Schaufel und einer Holzschüssel zum Schwemmen ausgerüstet, zogen Männer und Frauen nach der Kara und an Bäche und fanden leicht pro Tag für ein bis zwei Rubel Goldstaub. Dieses Goldsuchen ist von der Regierung aufs strengste verboten, aber trotzdem wird es geübt, und zwar nahezu öffentlich; wer nicht selbst Gold sucht, handelt damit, so daß schließlich die gesamte Bevölkerung, außer den politischen Gefangenen, an diesem Erwerb beteiligt ist. Mit Ausnahme vielleicht einiger wirklich ehrlicher Beamten, macht sich niemand Skrupel, das Verbot zu übertreten. Ich kannte Familien, von denen regelmäßig einige Mitglieder auf die Goldsuche gingen, als ob es sich um den legalsten Erwerb handle. Die gesamte Bevölkerung fand es ganz in der Ordnung, daß die Goldsucher die Schätze hoben, die der Boden bot; man kümmerte sich eben nicht um das Gesetz, wonach diese Schätze als Privateigentum des Zaren oder, wie es offiziell heißt, »des Kabinetts Seiner Majestät« gelten. Es ist daher auch erklärlich, daß trotz der großen Ausgaben, die die betreffende Behörde macht, um die Goldlager dieses Distriktes zu schützen, weit mehr Gold auf gesetzwidrige als auf legale Weise gewonnen wird. Hehler und Vermittler wissen stets Wege, um dieses Gold über die Grenze nach China zu schaffen. wo sie bei weitem höhere Preise erzielen als die vom »Kabinett« gezahlten.

Indessen sind alle Kenner der Verhältnisse darüber einig, daß die »Raubgoldsucher« dem Lande unermeßlichen Nutzen gebracht haben. Sie sind die eigentlichen Pfadfinder, die die »Taiga«, den Urwald, nach allen Richtungen durchstreifen, um die verborgenen Schätze an Edelmetall zu heben, und man verdankt ihnen die Entdeckung zahlreicher Goldfelder, darunter einige überaus ergiebige. Freilich für die Goldsucher selbst fällt dabei recht wenig ab; die meisten von ihnen sind Trunkenbolde und bleiben ihr Leben lang Schuldsklaven der Hehler und Vermittler. Es würde zu weit führen, das Leben und Treiben der Goldsucher hier eingehend zu beschreiben; es sei nur erwähnt, daß sie eine höchst interessante Welt für sich bilden, sozusagen einen Staat im Staate, mit eigenen, streng gehandhabten Gesetzen und eigenartigen Sitten.


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