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Wenn man mit Insassen des Gefängnisses, die bereits längere Zeit hier eingekerkert waren, sprach und es sich um die Vergangenheit handelte, hörte man oft die Worte: »Das war vor den Maitagen« oder »Es geschah nach dem 11. Mai«. Diese Zeitrechnung war uns allen allmählich geläufig geworden; jeder kannte die Geschichte der »Maitage«, denn jenes Datum bedeutete einen Wendepunkt im Dasein der Gefangenen in Kara wie die »Februartage« in der Geschichte Frankreichs. Was vor den Maitagen lag, war sozusagen das goldene Zeitalter, später kam die Zeit schwerer Not, düstere Jahre qualvollen Daseins. Es ist daher wohl notwendig, die Geschehnisse hier kurz zu erzählen.
Das Gefängnis für Staatsgefangene bestand erst seit 1880. Vor dieser Zeit waren die politischen Gefangenen in einem Gefängnis eingesperrt, das nicht für sie speziell errichtet worden war, einem Gefängnis, wie es deren viele in diesem Sträflingsgebiet gab, wo längs dem Flüßchen Kara mehrere Goldwäschereien sich befanden, die Privateigentum des Zaren waren oder Eigentum »des Kabinetts Seiner Majestät«, wie es offiziell heißt. Die Staatsgefangenen mußten in gleicher Weise wie die Kriminalsträflinge Gold für den »Beherrscher aller Reußen« waschen. Die Arbeit war nicht besonders schwer, und die Gefangenen verrichteten sie gern; es war jedenfalls angenehmer und nützlicher, einige Stunden schwere Arbeit in frischer Luft zu verrichten, als im Gefängnis hinvegetieren. Zu jener Zeit genossen die Staatsgefangenen die gleichen Rechte, die die Kriminalsträflinge hatten, das heißt sie bekamen größere »Rationen«, nach Ablauf der gesetzlichen Frist wurden sie in die »Strafkolonie« entlassen (sie durften außerhalb des Gefängnisses sich ansiedeln), sie konnten mit ihren Verwandten korrespondieren usw. Die Staatsgefangenen waren mit dieser Gleichstellung mit den Kriminalsträflingen zufrieden. Jedoch im Dezember 1880 gab der Minister des Innern, Graf Loris-Melikoff, Befehl, die Staatsgefangenen fürder nicht in die Strafkolonie zu entlassen. Schon damals nahm sich der Kandidat Semjanowski der Petersburger Universität das Leben und hinterließ einen Brief an seinen Vater, in welchem er schilderte, wie der Gedanke, abermals ins Gefängnis gesperrt zu werden, ihn zum Selbstmord getrieben habe.
Jener grausame Befehl kam zu einer Zeit, da die politische Gärung besonders stark war; man glaubte am Vorabend gewaltiger politischer Umwälzungen zu stehen. Die revolutionären Ereignisse kamen, wenn auch verspätet, zur Kenntnis der Gefangenen im fernen Kara, und natürlich mußte die Sehnsucht nach Befreiung um so brennender werden. So beschlossen denn einige von denen, die besonders lange Kerkerstrafen zu erdulden hatten, zu flüchten. Erst im Mai 1882 gelang es, diesen Plan zu verwirklichen. Gelegenheit dazu bot die Arbeit in den Werkstätten, wohin man die Gefangenen täglich führte. Es sollten jede Nacht zwei Mann fliehen. Als erster floh auf allgemeinen Beschluß der Kameraden der bekannte Revolutionär Myschkin Myschkin wurde in dem »Prozeß der 193« und wegen bewaffneten Widerstands gegen die Staatsgewalt bei einem Versuch, Tschernyschewski aus der Verbannung in Wilusk (im Jakutengebiet) zu befreien, zu zehn Jahren Strafarbeit verurteilt (im Jahre 1878); als einer der Gefangenen, Dmochowski, in Irkutsk starb, hielt Myschkin dem Genossen die Grabrede in der Gefängniskirche und wurde deshalb zu weiteren fünfzehn Jahren verurteilt., der sich einen der Tüchtigsten zum Genossen wählte, den Arbeiter Nikolaus Chrustscheff. Dieser wurde in Kiew im Prozeß Popoff zu fünfzehn Jahren Katorga verurteilt.
Die beiden entkamen glücklich. Um die Flucht zu verbergen, stellten die Kameraden Puppen her, die sie auf das Lager der Flüchtlinge legten, wenn der Appell stattfand. In jener Zeit war gerade der Chef des Gefängniswesens Galkin-Wrasski in Begleitung des Gouverneurs Iljaschewitsch in Kara eingetroffen, und trotz der Visitation des Gefängnisses durch diese Würdenträger wurde die Flucht nicht entdeckt. Die beiden Kameraden waren bereits auf dem Wege nach dem Osten und strebten den Gestaden des Stillen Ozeans zu.
Nach einigen Tagen floh auf die gleiche Weise und ebenso erfolgreich das zweite Paar, dann das dritte und endlich ein viertes Paar. Aber in dem Moment, da der letzte Flüchtling entsprang, feuerte die Schildwache einen Schuß ab und alarmierte die Wächter. Der Schuß ging fehl, aber das Fehlen der acht Gefangenen wurde entdeckt.
Das war am 11. Mai 1882.
Galkin-Wrasski und Iljaschewitsch weilten noch in Kara, und die Anwesenheit der Chefs feuerte die Behörden zu äußerster Anstrengung bei der Verfolgung der Flüchtlinge an. Bald waren sechs von ihnen eingefangen und wieder verurteilt, Moses Dikowski (fünfzehn Jahre Strafarbeit), Lewtschenko (fünfzehn Jahre), Krisanowski (lebenslänglich), Andreas Balamez (zwanzig Jahre), Jurkowski (lebenslänglich), Minakoff (lebenslänglich). nur die ersten zwei, Myschkin und Chrustscheff, blieben verschwunden.
Gegen die übrigen Gefangenen wurden strenge Repressalien ergriffen. Zuerst verbrachte man sie gruppenweise nach verschiedenen Gefängnissen, wobei einige während des Transports furchtbar zugerichtet wurden. Dann wurde der Kerker, in dem sie bisher eingesperrt waren, umgebaut, indem aus jeder der großen gemeinsamen Kammern drei Zellen hergestellt wurden, die so klein waren, daß man sich kaum darin bewegen konnte. Außerdem wurde in einer besonderen Umfriedigung ein Bau mit winzigen Zellen für Einzelhaft errichtet und hier einige der Gefangenen eingesperrt. Allen Gefangenen wurden die Bücher und alles, was sie sonst besaßen, entzogen, sie durften nur Gefängniskost genießen und ähnliche Schikanen mehr. Da beschlossen alle Inhaftierten, sich durch Hunger das Leben zu nehmen, und erst als sie bereits dem Tode nahe waren, machte man ihnen einige Zugeständnisse.
Myschkin und Chrustscheff waren noch lange Zeit unauffindbar. Sie waren bis Wladiwostok gelangt; erst in dem Moment, da sie sich auf einem ausländischen Schiffe in Sicherheit bringen wollten, erkannte man in ihnen die lange gesuchten Flüchtlinge. So waren alle Opfer vergebens gewesen, und sämtliche Gefangenen des mächtigen Zaren waren wieder zu Kara eingeschlossen.
In diesem Kerker waren unterdessen weitere Änderungen vorgenommen worden. Bisher war die Verwaltung gemeinsam für die Politischen und Kriminalgefangenen, jetzt wurde die männliche und weibliche Abteilung des Gefängnisses für Staatsgefangene unter Aufsicht der Gendarmerie gestellt; ein Stabsoffizier des Gendarmeriekorps war aus St. Petersburg eingetroffen und als Kommandant eingesetzt worden, als Schließer wurden eine Anzahl Gendarmerieunteroffiziere eingestellt. Im Zusammenhang damit änderte sich das gesamte Regime, natürlich zuungunsten der Inhaftierten; die Werkstätten wurden abgeschafft, die Gefangenen zur Untätigkeit gezwungen, das Gefängnis durften sie nunmehr überhaupt nicht verlassen, gleichzeitig verbot man ihnen, mit ihren Angehörigen zu korrespondieren. Außerdem waren dreizehn Mann nach der Peter-Pauls-Feste in St. Petersburg geschafft worden; von da wurden zehn nach Schlüsselburg verbracht; davon lebt nur noch einer, während neun den Qualen erlegen sind.
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In den vier Jahren, die seit den »Maitagen« bis zu meiner Ankunft vergangen waren, hatte bereits viermal ein Wechsel der Kommandanten stattgefunden. Einer derselben war überführt worden, gegen tausend Rubel von den Geldern, die den Gefangenen geschickt wurden, unterschlagen zu haben; er wurde deshalb nach dem Jakutengebiet deportiert. Bei jedem Wechsel des Kommandanten änderte sich naturgemäß das Regime; so waren die Zwischenwände in den Kammern wieder abgebrochen worden und andere kleine Erleichterungen eingetreten. Infolge der Beschwerde der Verwandten eines der Gefangenen wurden auch die Anordnungen Loris-Melikoffs als ungesetzlich annulliert und die politischen Gefangenen wieder ordnungsmäßig in die »Strafkolonie« entlassen.
Mit dieser für die Gefangenen ungemein wichtigen Angelegenheit hatte es folgende Bewandtnis: Nach dem Gesetz sind bei der Vollziehung der Strafe für alle zu Zwangsarbeit Verurteilten genaue Normen festgesetzt. Ein bis zwei Jahre, je nach der Gesamtlänge der Strafzeit, soll die »Prüfungszeit« sein, und während dieser Frist soll der Gefangene im Kerker bleiben; die übrigen Jahre gelten als »Besserungszeit« und werden je zehn Monate für ein Jahr gerechnet. Auf diese Weise hatte ich zum Beispiel nicht dreizehn Jahre vier Monate, sondern elf Jahre fünf Monate im Kerker zu verbleiben; da das Urteil am 12. Oktober 1884 in Kraft trat, hätte ich im Februar 1896 entlassen werden müssen. Außerdem bestimmt das Gesetz, daß nach zwei bis drei Jahren dieser »Besserungszeit« die zu Zwangsarbeit Verurteilten in die »Strafkolonie« zu entlassen seien, das heißt sie erhalten die Erlaubnis, ihren Aufenthalt in besonderen Wohnungen zu nehmen, die ihnen angewiesen werden oder die sie selbst erbauen, wobei sie aber im übrigen allen Bestimmungen, die für die Sträflinge gelten, unterworfen bleiben. Es trat also hier eine Erleichterung insofern ein, als der Gefangene in dieser Zeit nicht mehr Tag und Nacht in dem gemeinsamen Kerker zuzubringen hatte.
Es ist natürlich, daß gerade den Staatsgefangenen, den Kulturmenschen, diese Erleichterung von ungeheurem Werte erschien und sie die Entziehung derselben schwer empfinden mußten. Daher war die Freude der Gefangenen in Kara groß, als zwei Jahre nach den »Maitagen« der neue Kommandant, Rittmeister Burlei, der an Stelle des diebischen Manajeff kam, feststellte, daß schon vor einiger Zeit ein Senatsbeschluß jene Beschränkung aufgehoben hatte; der saubere Manajeff hatte nämlich das Schriftstück unterschlagen, um seine Diebstähle leichter verbergen zu können. Rittmeister Burlei tat denn auch sofort beim Gouverneur Schritte, damit alle Gefangenen in Kara, denen das Recht hierauf zustand, aus dem Kerker in die »Strafkolonie« entlassen würden. Aber noch ehe der Bescheid kam, wurde der humane Kommandant versetzt, und sein Nachfolger, der bereits mehrfach erwähnte Nikolin, veranlaßte, daß die segensreiche Maßnahme nur mit Einschränkungen ins Leben trat. Der Senat hatte zwar entschieden, das Gesetz war da und mußte zur Anwendung kommen, aber »auf administrativem Wege« wurde es eingeschränkt.
Rittmeister Nikolin war ein kleinlicher und boshafter Mensch, der stets nach einem Vorwand suchte, die Gefangenen zu schikanieren; er handelte auch in diesem Falle nur zu unserem Schaden. Er rapportierte nämlich an den Gouverneur, daß er nicht genügend Unteroffiziere habe, um die »Strafkolonie« zu überwachen, wenn alle Gefangenen, die rechtmäßig Anspruch darauf hatten, entlassen würden; deshalb bitte er, daß jeweils nur fünfzehn Personen dieser gesetzlichen Bestimmung teilhaftig werden sollen. Der Mangel an Gendarmen war ein nichtiger Vorwand, da schließlich zur Überwachung der Gefangenen in mehr oder weniger großer Anzahl die gleiche Zahl von Wächtern nötig war; trotzdem wurde der Wunsch des Kommandanten erfüllt. Somit wurden viele der Gefangenen ihres gesetzlichen Anspruchs auf Entlassung aus dem Kerker beraubt. Die Folge war, daß auf jede Vakanz oft ein ganzes Dutzend Kandidaten wartete, unter denen dann Nikolin willkürlich die Wahl traf. Natürlich trug diese Rechtsbeugung dem Urheber glühenden Haß seitens der Gefangenen ein, besonders da auch sein sonstiges Verhalten derart war, daß es diesen Haß stets von neuem schüren mußte.
Bald nach meiner Ankunft bekam ich den Mann zu sehen; er kam damals oft in das Gefängnis. Er mochte gegen fünfundfünfzig Jahre alt sein, war mittelgroß, untersetzt, mit einem stattlichen Schmerbauch, das Gesicht rund und fett, hatte kleine, hinterlistige Augen und einen borstigen Bart; er machte den Eindruck eines alten, fetten, bissigen Katers und wurde auch allgemein mit diesem Spitznamen bezeichnet. Besonders katzenartig aber war sein Blick; er machte stets den Eindruck, als bereite er sich vor zum Sprunge gegen ein Opfer, dem er die Krallen einschlagen würde. Er sprach immer mit leiser Stimme und schnalzte dabei mit der Zunge. Sein ganzes Benehmen war abstoßend, widerwärtig. Gewöhnlich blieb er bei seinen Besuchen im Gefängnis neben unserem Obmann stehen, der an seiner Truhe beschäftigt war, und schwatzte unaufhörlich, unbekümmert, ob es diesem angenehm war oder nicht. In diesen endlosen Monologen flunkerte und prahlte er in haarsträubender Weise und klagte über sein Schicksal; wenn es nach Recht und Gerechtigkeit ginge, hätte er seiner Meinung nach mindestens General sein müssen, war der ewige Refrain. Er hatte seine Laufbahn bereits in den sechziger Jahren unter Murajeff, dem Henker von Wilna, begonnen und erzählte, welch unschätzbare Dienste er damals geleistet habe; trotzdem war er Mitte der achtziger Jahre immer noch Rittmeister.
Vielleicht hatte sein Übereifer seine Karriere verdorben, wenigstens erzählte er selber folgendes Stückchen, das ihm in Kara passiert war. Eines Tages schickte er ein Schriftstück an den Gouverneur mit der höchst wichtigen Frage: Wenn in einer Kammer die Diele gescheuert wird und die Gefangenen daher im Korridor sich aufhalten, darf dann der Schließer die Gefangenen einer anderen Kammer ins Freie führen?
»Denken Sie sich,« sagte der »Kater«, »darauf hat man mir geantwortet: ›Richten Sie sich nach § 13 der Instruktion.‹ Dabei hat aber die Instruktion nur zwölf Paragraphen!«
Die Ironie dieses Bescheids schien er nicht zu begreifen; er fuhr fort, mit Lappalien endlose Schriftstücke anzufüllen. Dabei schien ihm der Posten des Gefängniskommandanten noch nicht genügend Stoff zum Querulieren zu bieten, denn er steckte seine Nase in alles, was im Rayon von Kara vorging.
In einem Falle allerdings trug er dazu bei, einen dreisten Raub an der Staatskasse aufzudecken. Es handelte sich um den Major Potuloff, der das Gefängnis für Kriminalverbrecher verwaltete, denselben, bei dem Herr Kennan als Gast in Kara geweilt. Unter der Verwaltung dieses Herrn war eines Tages das Magazin abgebrannt, in welchem sich einige tausend Pud Mehl zur Verpflegung der Gefangenen befinden sollten. Nun verbrennt aber Mehl nicht, wenn es in großen Haufen liegt, sondern es wird nur angeröstet; das Gebäude war jedoch niedergebrannt und von dem Mehl keine Spur zu finden. Es wurde daher allgemein behauptet, das Mehl sei überhaupt nicht vorhanden gewesen, der brave Major habe mit dem Lieferanten ein kleines Geschäft gemacht und dann mit Hilfe seiner Untergebenen das Magazin rechtzeitig verbrennen lassen. Wahrscheinlich wäre dieser Diebstahl wie so viele andere unentdeckt geblieben, wenn nicht unser »Kater« die Sache in die Hand genommen und mit seinen Denunziationen die Einsetzung einer Kommission erzwungen hätte, zu deren Mitglied man ihn machte; jetzt entfaltete er sein herrliches Talent und brachte in der Tat einen ganzen Rattenkönig von Diebstählen und Unterschlagungen an den Tag. Der gastfreie Gentleman, als welchen Kennan den Major Potuloff beschreibt und der er in der Tat war, hatte skrupellos den Staat bestohlen. Da figurierten zum Beispiel Hunderte von Sträflingen, die entweder schon lange entlassen oder geflüchtet waren, in den Registern, und es wurde für diese »Registerseelen« Verpflegung, Kleidung usw. dem Staate in Rechnung gestellt, während der brave Major und die Lieferanten den Betrug brüderlich teilten. Der Mann wurde seines Amtes enthoben, aber vor Gericht wurde er trotzdem nicht gestellt, ganz einfach: er hatte Protektion.
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Obwohl mir die Kameraden in der »Adelskammer« durchaus sympathisch waren, hegte ich doch den Wunsch, in die Kammer überzusiedeln, wo mein Freund Stefanowitsch war. Dazu bedurfte es jedoch der Erlaubnis des »Katers«, und dieser verweigerte sie, indem er erklärte, er müsse erst die Erlaubnis des Gouverneurs einholen; ich hatte jedoch erfahren, daß er fürchtete, wenn wir beide zusammenkämen, würden wir ausbrechen. Das war einfach Unsinn, denn seitdem die Gendarmen die Wache ausübten, war eine Flucht aus Kara ganz unmöglich, aber der »Kater« liebte es, seine kleinlichen Schikanen mit dem Vorwande der Fluchtgefahr zu bemänteln. Erst viele Wochen später gab er schließlich seine Einwilligung, ich siedelte in die Kammer genannt »Synedrion« über und wurde Lagergenosse meines Freundes.
In dieser Kammer war das Treiben ein ganz anderes als in der »Adelskammer«. Ein großer Teil der Insassen waren Arbeiter, und auch von den übrigen hatten einige große Vorliebe für Handarbeiten; sie glich infolgedessen einer großen Lehrwerkstätte. Zwar war der Besitz von Handwerkszeug jeder Art streng verboten, aber man besaß es trotzdem, und das beste war: bei den allwöchentlich vorgenommenen Revisionen wurde nie etwas gefunden! Die Revisionen waren nämlich »sorgfältig, aber oberflächlich«, wie die Gendarmen es nannten, das heißt, persönlich wurden wir nicht visitiert, deshalb steckten wir einfach unser Handwerkszeug in die Taschen, wenn die Revision begann. Einige der Handwerker waren geradezu hervorragende Meister in ihrem Fache. Besonders zeichnete sich der bereits erwähnte Chrustscheff in dieser Beziehung aus, ein anderer Tausendkünstler war der Schlosser Bubnowski. Aus kleinen Eisenstückchen, alten Nägeln und ähnlichem verfertigte er eine winzige Drehbank, die man in die Tasche stecken konnte; auf dieser Drehbank verfertigte er sodann alle Teile eines Uhrwerkes und stellte schließlich, obwohl er niemals Uhrmacher war, eine kunstvolle Uhr her, die später in einem sibirischen Museum Aufnahme fand. Es gab kaum ein Handwerk, das nicht in unserer Werkstätte betrieben worden wäre und von den Betreffenden durch das Studium von Lehrbüchern, durch Geduld und Ausdauer, die man im Gefängnis lernt, in vollkommenster Weise erlernt wurde. Es wurde auch sonst eifrig in dieser Kammer gelernt, wobei die Studierten den Arbeitern halfen. Jazewitsch und Zlatopolski kamen jeden Tag in diese Kammer, um Unterricht in Mathematik und Naturwissenschaften zu erteilen, Fomitscheff hatte den Lehrstuhl für russische Sprache inne usw. Aus diesem Grunde wurde unsere Kammer zuweilen auch »Akademie« genannt.
Unter den Arbeitern erregte ein gewisser Karl Iwanein mein Interesse, er war von Geburt Finnländer, aber gänzlich russifiziert; seine Leidenschaft war die Lektüre schöngeistiger Literatur, und er war auf diesem Gebiete sehr belesen. Besonders aber zeichnete er sich aus als begeisterter Anhänger der Lehre des Grafen Tolstoi. Jeden Einwand, den man gegen diesen Weisen erhob, stachelte ihn zu lebhaftestem Widerspruche auf. Er war ein höchst begabter Mensch, aber ein Sonderling. Er wurde bald, nachdem ich ihn kennen gelernt hatte, in die Strafkolonie entlassen und nahm sich dort nach kurzer Zeit das Leben.
Von den Studierten in dieser Kammer zeichneten sich Fomitscheff und Fomin durch eisernen Fleiß aus. Fomin kannte ich noch von der Schweiz her, wo er einige Zeit als Flüchtling gelebt hatte. Er war Infanterieoffizier gewesen und 1879 wegen Propaganda unter den Soldaten verhaftet und in Wilna eingekerkert worden, aber mit Hilfe eines Kameraden geflohen. In der Fremde duldete es ihn jedoch nicht lange, er kehrte bald nach Rußland zurück und konnte sich einige Zeit verbergen, aber 1882 wurde er abermals in Petersburg verhaftet und zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Im Gefängnis zu Kara vertiefte er sich in das Studium der Naturwissenschaften, besonders interessierte er sich für Mineralogie. Fomitscheff hatte ich früher nicht gekannt, aber viel von ihm als einem sehr tätigen Revolutionär gehört. Er war der Sohn eines armen Kirchendieners und studierte in Odessa. Hier wurde er 1877 wegen Propaganda unter den Soldaten verhaftet und vor ein Kriegsgericht gestellt. Aber selbst dieses Gericht brachte es nicht fertig, ihn zu verurteilen, und unter dem Jubel der Zuhörer, die ihm und dem Verteidiger lebhafte Ovationen bereiteten, wurde er freigesprochen, bald darauf jedoch abermals verhaftet und gemeinsam mit Lisogub, Tschubaroff und anderen abgeurteilt; das Urteil lautete auf lebenslängliche Zwangsarbeit. Während des Transportes nach Kara war er, wie bereits erwähnt, geflohen, aber wieder eingefangen worden; zur Strafe wurde er ein Jahr lang an die Karre geschmiedet. Er beschäftigte sich viel mit Geschichte, besonders der Geschichte Rußlands, und war in dieser Beziehung ziemlich belesen; aber leider war unsere Bibliothek auf diesem Gebiet etwas einseitig, und so war er auf das Studium der vielbändigen und zum Teil veralteten Werke von Schlosser, Weber, Mommsen, Solowjeff, Kostomaroff und einiger anderer angewiesen. Zum Teil mochte es an dieser Lektüre liegen, zum Teil an einer sonderbaren Gedankenrichtung, genug, unser Freund Fomitscheff, ein kluger und ungemein fleißiger Mensch, vorzüglicher Kamerad und ein fester Charakter, kam zu den sonderbarsten Anschauungen: er war nicht nur eifriger russischer Patriot und Russophile, sondern, was fast unbegreiflich erschien, ein eingefleischter Monarchist und leidenschaftlicher Anhänger der Dynastie Romanoff geworden. Ein politischer Gefangener, lebenslänglicher Sträfling – als Fanatiker des russischen Absolutismus! Jedenfalls eine recht sonderbare Kombination. Nun wäre es durchaus als folgerichtig erschienen, wenn dieser Mann ein Begnadigungsgesuch eingereicht hätte, das jedenfalls erfolgreich gewesen wäre; keiner der Kameraden hätte auch an der Aufrichtigkeit und Ehrenhaftigkeit eines solchen Schrittes gezweifelt, aber Fomitscheff tat es nicht. Er hatte sich in den sonderbaren Gedanken verbissen, daß er einfach sein Schicksal zu dulden, sein Leben im sibirischen Kerker hinzuschleppen habe, als Sühne seiner Empörung gegen den Zaren, an dessen besten Absichten für das Wohl seiner Untertanen Fomitscheff jetzt nicht den leisesten Zweifel hegte. Man darf füglich behaupten, daß Alexander III. unter seinen Hofschranzen und Würdenträgern keinen einzigen in gleicher Weise treuen und vor allem keinen so selbstlosen Anhänger hatte wie diesen politischen Sträfling im Kerker zu Kara. Die ungerechtesten und selbst grausamsten Ukase der zarischen Regierung fanden einen Verteidiger in diesem Manne, er fand die reaktionärsten Maßnahmen durchaus folgerichtig, zweckmäßig und für das Wohl des Volkes ersprießlich; er liebte dieses Volk über alles und hätte ihm jederzeit sein Leben zum Opfer gebracht, aber trotzdem wußte er stets die Regierungspolitik des Zarismus in Einklang mit dem Wohle des Volkes zu bringen. Jeder Angriff gegen den Zaren regte ihn auf, und oft brach er in solchen Fällen jeden Verkehr mit dem Betreffenden ab. Manche von uns hegten berechtigten Zweifel, ob der Mann wirklich noch normal zu nennen sei.
Natürlich stand Fomitscheff mit seiner Begeisterung für den Zaren allein, aber in bezug auf seine russophilen Anschauungen hatte er ziemlich viel Gesinnungsgenossen. Insbesondere war ein Teil unserer Kameraden felsenfest überzeugt, daß die wirtschaftlichen und sozialen Zustände Rußlands weit über die Westeuropas erhaben seien. Unendlich waren die Debatten über die Vorzüge Rußlands, manch eine Wette entstand aus diesem Anlaß; in zahlreichen Fällen wurde diese Frage zur Ursache ernstlicher Zerwürfnisse unter Freunden, zu »klimatischen Störungen«, wie es in unserem Kauderwelsch hieß. Dieser für Sozialisten jedenfalls recht sonderbare Glaube an eine Präponderanz des rückständigen Rußland erklärte sich wohl zum Teil aus der damals herrschenden Geistesrichtung. Die gesamte fortschrittliche Presse jener Zeit war in diesem Sinne »russophil«, und selbst in die sozialistische Literatur bahnte sich diese Strömung einen Weg. Bekanntlich wurde in dieser Literatur der Gedanke vertreten und leidenschaftlich verteidigt, daß die russischen sozialen Zustände in jeder Hinsicht von den Zuständen, die jemals in anderen Ländern bestanden haben, verschieden seien, und hieraus leitete man die Konsequenz ab, daß der revolutionäre Kampf in Rußland notwendigerweise ganz anders geführt werden müsse. Ich muß gestehen, daß es mir sehr oft wehe tat, von Menschen, die für ihre Überzeugung litten, derartige Ansichten zu hören, die eine verzweifelte Ähnlichkeit mit dem Räsonnement eingefleischter Reaktionäre aufwiesen.
Einer der unermüdlichen Verfechter dieser Anschauung war in unserer Kammer Nikolaus Posen, der sonderbarerweise als einer der klügsten Menschen im Gefängnis galt. Er war Schullehrer in einer Dorfschule gewesen und hatte sich nicht besonders in der revolutionären Bewegung betätigt, war aber zufällig Teilnehmer des bereits beschriebenen bewaffneten Widerstandes bei der Verhaftung in Kiew geworden und wurde zusammen mit Marie Kowalewskaja, Natalie Armfeld und anderen vor Gericht gestellt und zu vierzehn Jahren zehn Monaten Zwangsarbeit verurteilt; wegen eines Fluchtversuchs aus dem Gefängnis in Irkutsk wurde diese Strafe um weitere vierzehn Jahre erhöht. Er war ein zweifellos geistreicher und gebildeter Mensch, aber politische Überzeugungen hatte er eigentlich gar nicht. Seine Passion war Schwatzen und Debattieren; er war imstande, über alles und jedes stundenlang zu sprechen, und stets bereit, alles zu beweisen, was man wollte. Seine Schwatzsucht war derart, daß er jede Gelegenheit zu streiten vom Zaune brach; bald verteidigte er eine philosophische These, bald stritt er um irgendeine Lappalie. Lernen und arbeiten waren nicht seine Sache, und mit dem ewigen Geschwätz störte er andere am Arbeiten; kaum hatte er morgens die Augen aufgetan, setzte er sein Mundwerk in Bewegung und hörte nicht auf bis zum späten Abend. Ein stehendes Thema war bei ihm das Essen.
»Was meinen Sie,« fragte er irgend jemand, dessen er habhaft wurde, »was gibt es heute zum Abendessen? Ich bin sicher, die machen heute ›Jeder hat's‹.«
»Vielleicht! Vielleicht gibt es aber auch Hackfleisch mit Grütze,« antwortete man ihm, um ihm einen Gefallen zu tun.
Dann legte er unfehlbar los und bewies haarklein, warum er zu seiner Anschauung gekommen sei und schwatzte mindestens eine halbe Stunde. Der Refrain war dann: »Wollen Sie Ihre Meinung bekräftigen?«
»Schön, wetten wir! Was gilt's?«
»Drei Streichhölzer!« ruft er.
Alles lacht, und Posen ist seelenvergnügt über seinen »Witz«.
Im übrigen war er ein kleinlicher, sehr eitler Mensch. Später stellte sich heraus, daß er bereit war, zur Befriedigung seiner kleinlichen Gelüste jedes Kompromiß mit der Regierung zu schließen.
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Die mangelhafte Nahrung wirkte bald in verhängnisvoller Weise auf meine Gesundheit, trotzdem ich in dieser Beziehung durchaus nicht verwöhnt und stets kerngesund gewesen war. Schon nach wenigen Monaten fühlte ich Schlaffheit in den Füßen und konnte mich nicht aufrecht halten, es zeigten sich blutunterlaufene Stellen; bald fing auch das Zahnfleisch zu eitern an, die Zähne wurden wackelig. Ich wandte mich an unseren Heilkundigen Pribyljeff.
»Eh, mein Freund, Sie haben ja den schönsten Skorbut!« sagte er, nachdem er mich untersucht hatte. »Ist aber schnell gegangen bei Ihnen!«
Er ordnete Krankenkost für mich an, und ich bekam täglich ein Kotelett mit viel Knoblauch darin. Übrigens war ich nicht der einzige, dem die schlechte Kost Schaden brachte; im nächsten Frühjahr fiel eine ganze Anzahl von uns der bösen Krankheit anheim, und sonderbarerweise waren es stets die Kräftigsten, die daran erkrankten. Die bessere Kost und die Kunst des braven Pribyljeff ließen mich das Schlimmste überwinden; nach einiger Zeit konnte ich wieder ohne Krücken gehen, das Zahnfleisch heilte, und bald konnte ich auch die Krankenkost entbehren. Die Nachwirkungen der Krankheit spürte ich allerdings noch lange Zeit.
Besonders lebhaft ist mir der erste Frühling im Kerker zu Kara in Erinnerung. Es war ein Gefühl unbeschreiblicher zehrender Sehnsucht, das ich empfand. Wenn ringsherum alles in der Natur zu neuem Leben erwacht und rasch emporsprießt, lastet das zweck- und sinnlose Leben innerhalb der Kerkermauern bleischwer auf dem Gemüt. Selbst die einzige Beschäftigung, die man sich machen kann, das Lesen, wird dann unmöglich. Die Lettern tanzen vor den Augen, nichts bleibt im Bewußtsein hängen, das Gedächtnis versagt; nur die Phantasie arbeitet unermüdlich. Das erklärt sich einfach aus den Lebensbedingungen und dem physischen Zustand der Gefangenen. Im Frühling aber, wenn alles lebt und zu Taten drängt, ist es kaum noch möglich, das Gefängnis zu ertragen.
Unser Gefängnis lag in einer schmalen Talmulde zwischen Hügelketten; vom Hofe aus sahen wir diese Hügel. Es war nur spärlicher Pflanzenwuchs auf diesen sibirischen Höhen, aber im Frühling schienen sie uns aus der Ferne ein Paradies und lockten unbezwinglich zu sich hin. In nächster Nähe hatte man den glattgetretenen Hofraum, ohne jeden Grashalm, die verwitterten schwarzen Holzwände der Gefängnisbauten und die hohen Pfähle der Umfriedigung. Das Auge schweifte in die Ferne, und man malte sich aus, wie wunderbar schön es dort sein müsse auf dem weichen Rasen im Schatten der Bäume.
Wir baten unseren »Kater«, er möchte uns im Hofe einen Garten anlegen lassen. Platz genug war vorhanden; die Arbeit wäre von größtem Nutzen für uns gewesen, und schließlich hätten wir etwas Gemüse für unseren Tisch ziehen können, dessen Mangel schädlich auf unsere Gesundheit einwirkte. Der »Kater« schlug es rundweg ab: wir hätten Spaten haben müssen, und damit kann man ja ein Loch graben und entfliehen. Als dann einer von uns etwas Blumensamen zugeschickt bekam und diesen in einer Holzkiste aufpflanzte, ließ der »Kater« die Kiste entfernen: es könnte die Erde in der Kiste dazu dienen, etwas Verbotenes darin zu verstecken!
Derartige Schikanen und Drangsalierungen erbitterten uns immer mehr gegen den verhaßten »Kater«. So friedlich wir sonst gesinnt waren, es konnte der Haß gegen diesen Menschen bei der nächsten Gelegenheit jäh emporlodern. Der Kommandant mochte das ahnen; er wurde immer mißtrauischer und zeigte sich bald gar nicht mehr im Gefängnis. Überhaupt war er mit der Zeit auf seiner Hut, da er fühlte, daß er sich ringsum Feinde geschaffen hatte und daß man ihn allseitig gründlich haßte. Einsam saß unser »Kater« in seiner Behausung, zankte mit seiner Köchin und wagte kaum noch, sich zu zeigen. Und in der Tat darf man sich wundern, daß nicht einer seiner vielen Feinde ihm den Garaus gemacht hat; das wäre in Kara der natürliche Lauf der Dinge gewesen. Schließlich hielt er dieses Leben nicht länger aus und bewarb sich um Versetzung. Im Frühjahr 1887 wurde sein Gesuch gewährt; er reiste ab, begleitet von den Verwünschungen der gesamten Bevölkerung von Kara.