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Als ich in Kara eintraf, fand ich eine bereits vollkommen ausgebildete und wirksame Organisation vor, die das Leben der Kerkerinsassen regelte; es handelte sich da um Einrichtungen, die im Laufe der Zeit entstanden und erprobt waren. Grundprinzip dieser Organisation war Gleichheit der Rechte und Pflichten. Alle Insassen des Kerkers bildeten in wirtschaftlicher Hinsicht eine Kommune oder ein »Artel«; doch wurde, soweit es irgend möglich war, den individuellen Wünschen und Bedürfnissen Rechnung getragen. Es stand jedem frei, in dieses Artel einzutreten oder ihm fern zu bleiben, aber die materiellen und sonstigen Bedingungen blieben die gleichen für alle.
Der Staat lieferte pro Mann ein bestimmtes Quantum Lebensmittel: drei Pfund Brot pro Tag, ein drittel Pfund Fleisch, einige Lot Grütze und etwas Salz. Dabei war gestattet, daß die Gefangenen von Verwandten und Angehörigen mit Geldmitteln unterstützt wurden zur Beschaffung besserer Kost; einige, allerdings nur wenige von uns, erhielten regelmäßig derartige Zuschüsse. Sowohl die Lieferungen vom Fiskus als auch diese Zuschüsse wurden Gemeingut aller Mitglieder des Artels. Die Geldmittel wurden folgendermaßen verteilt: Ein Teil wurde dazu verwendet, die Kost zu verbessern, insbesondere zum Ankauf von Fleisch; in unserem Jargon hieß das den »Gemeindekessel unterstützen«; ein anderer Teil war für die sogenannten allgemeinen Ausgaben bestimmt: Unterstützung derer, die aus dem Kerker entlassen und in die Verbannungsorte geschickt wurden, für Abonnement der Zeitungen, die wir halten durften, Briefporto usw.; ein dritter Teil wurde unter alle gleichmäßig verteilt und hieß deshalb »Äquivalent«. Über diesen Anteil konnte jeder nach freiem Ermessen verfügen. Hauptsächlich diente dieses »Äquivalent« zum Ankauf von Tee, Tabak, Fische, Butter und ähnlichen Dingen, die als »Bedürfnisse zweiten Grades« betrachtet wurden. Doch kam es vor, daß einzelne monatelang, ja oft ein Jahr lang und noch länger derartigen Genußmitteln entsagten, um zu sparen und sich dann für diese Ersparnisse ein Buch oder was sie sonst begehrten, kaufen zu können. Wie gering jedoch die Zuschüsse waren, über die wir verfügten, ergibt sich daraus, daß während meiner Haft in Kara niemals mehr als drei bis vier Kopeken pro Mann und Tag für den »Gemeindekessel« ausgeworfen wurden und das »Äquivalent« nie über einen Rubel pro Monat ausmachte, oft aber bedeutend weniger. Dabei ist in Betracht zu ziehen, daß damals bei den primitiven Verkehrsmitteln alle importierten Produkte in Sibirien doppelt und dreifach teurer als im europäischen Rußland waren; ein Pfund Zucker zum Beispiel kostete 35 bis 40 Kopeken. Es ist daher erklärlich, daß die Gefangenen in materieller Beziehung die größten Entbehrungen zu ertragen hatten. Die meisten tranken zum Beispiel nur »Ziegeltee«, das heißt Tee der allergeringsten Sorte, dabei ohne Zucker; andere hielten selbst das für Luxus und begnügten sich mit kochendem Wasser; wer Zucker zum Tee nahm, begnügte sich mit einem Stückchen für den ganzen Tag.
Bares Geld bekamen wir natürlich niemals ausgezahlt, es wurde darüber nur Buch geführt; in das Gefängnis durfte kein Geld kommen. Alle Geldsendungen nahm der Kommandant in Empfang und verständigte uns nur, daß für den und den so und so viel eingelaufen sei. Wir bestellten alsdann verschiedene Produkte und diese wurden dem Obmann ausgehändigt und in der gemeinsamen »Truhe« verwahrt. Der Obmann bewertete diese Produkte nach ihrem Preise und schrieb, wenn er jemand davon gab, den entsprechenden Posten auf dessen Konto; am Monatsschluß wurde für jeden der Insassen das Konto abgeschlossen; wer mehr bezogen hatte, als das Äquivalent ausmachte, dessen Konto wurde für den nächsten Monat mit einem Minus von so und so viel Kopeken belastet, wer dagegen Ersparnisse gemacht hatte, dem wurde ein Plus gutgeschrieben. Diejenigen, die in einem Monat ein Minus gemacht hatten, suchten es im nächsten zu tilgen; doch gab es stets eine Anzahl solcher Personen, die beim besten Willen zu sparen niemals ihre Ausgaben mit dem »Äquivalent« ins Gleichgewicht bringen konnten, ihr Konto war beständig mit einem Minus belastet; dafür wurde ihnen der Name »Minus« angehängt; dagegen hießen die Sparer »Plusse«. Es galt zwar nicht als Schande, ein »Minus« zu sein, aber es war auch nicht gerade ein Ruhmestitel, und deshalb trachtete jeder von uns, nicht gar zu sehr in die Minusse hineinzugeraten, und hatte er über den Strang gehauen, so suchte er wenigstens seine Schuld zu tilgen, wenn das Äquivalent infolge besonderer Zuflüsse, zum Beispiel zu Weihnachten oder zu Ostern, größer war. Aber trotzdem gelang es vielen nicht, aus dem chronischen Minus herauszukommen; es gehörte daher zur guten Sitte, daß bei irgendeinem Feste, zu Weihnachten, einem Gedenktag der Revolution und ähnlichen Anlässen, der Obmann oder sonst jemand den Antrag stellte, die »Minusse zu amortisieren«, das heißt die Schulden zu tilgen; derartige Anträge wurden stets von der Mehrheit angenommen; nur die »Minusse« selbst stimmten dagegen oder enthielten sich der Abstimmung.
Jeden Morgen kam der Obmann mit seinem Tagebuch an die Kammertüren und fragte nach dem Begehren; dann bestellte der eine um einen »Sous«, das heißt um eine Kopeke Zucker, jener einen »Ziegel« Tee usw. Diese Bestellungen wurden notiert und später ins »Hauptbuch« übertragen, und nach einiger Zeit kam der Obmann abermals und brachte jedem das Gewünschte, indem er es durch das Guckloch der Kammertür hineinreichte. Dem Obmann wurden auch vom Intendanten die sonstigen Sachen übergeben, die wir zu beanspruchen hatten, Kleidungsstücke, Wäsche, Schuhe und dergleichen. Außerdem hatte er in allen Dingen uns im Verkehr mit dem Kommandanten zu vertreten und war überhaupt der Repräsentant der Eingekerkerten. Die Wahl des Obmanns fand in geheimer Abstimmung statt und galt für ein halbes Jahr. Doch stand es natürlich dem Gewählten frei, abzudanken, was auch wiederholt geschah, da es zwar ein ehrenvolles, aber sehr mühevolles und unangenehmes Amt war.
Sowohl der Obmann als jedes Mitglied des Artels durfte Anträge auf »Änderung der Verfassung« stellen. Diese Anträge wurden niedergeschrieben und in den einzelnen Kammern eingehend beraten, worauf die schriftliche Abstimmung erfolgte. Sache des Obmanns war es, die Stimmzettel einzufordern, und dann verkündete er durch das Guckloch das Resultat.
Oft gab es aus diesem Anlaß heftige Debatten, es bildeten sich Parteien, die einander bekämpften, kurz, es spielte sich alles ab wie in einem Parlament. Doch kam es bei uns nie zur »Kabinettsfrage«, zum Vertrauens- und Mißtrauensvotum für die »Regierung«.
Alle Arbeiten, die innerhalb der Gefängnisumzäunung zu verrichten waren, verrichteten wir selbst, dagegen wurden Arbeiten, die ein Verlassen des Hofraums erforderten – Entfernung der Abfallstoffe, Transport von Wasser, Holz und dergleichen mehr –, von Kriminalsträflingen besorgt. Diese Sträflinge wurden, obwohl wir nicht dazu verpflichtet waren, aus unserer Küche mitbeköstigt.
Es gab da zweierlei Arbeitsbestimmungen: gemeinsame (Küchendienst, Reinigung der Kammern, Versorgung des Dampfbads usw.) und private (Wäschereinigung, Nähen usw.). Zu den ersteren waren alle verpflichtet, nur die Kranken und Schwächlichen wurden dispensiert. Der Küchendienst wurde von Gruppen zu je fünf Mann, die wöchentlich abgelöst wurden, verrichtet. Insgesamt waren sieben bis neun Gruppen tätig; die Wahl stand frei, sich dieser oder jener anzuschließen, ohne Rücksicht, in welcher Kammer man saß. Jede Gruppe hatte ihren Oberkoch, einen Gehilfen, einen Koch für Krankenkost und zwei Hilfsarbeiter. Die zu verrichtenden Arbeiten waren nicht leicht und jedenfalls nicht besonders anziehend. Zwischen sechs und sieben Uhr morgens wurde mit der Arbeit begonnen und dieselbe gewöhnlich gegen fünf Uhr abends beendet. Am Abend waren wir gehörig abgearbeitet und gegen Ende der Woche froh, es bald überwunden zu haben; man dachte mit Vergnügen daran, sich bald auf die faule Haut strecken zu können. Andererseits war es immerhin eine willkommene Abwechslung in dem monotonen Gefängnisleben. Nebenbei war auch die Küche der Ort, wo man sich versammelte, unser Klublokal gewissermaßen, weil hier die Insassen verschiedener Kammern sich zusammenfanden; es ging daher, wenn die dringendste Arbeit getan war, gewöhnlich in der Küche sehr lustig zu, hier wurden die Neuigkeiten besprochen, geschwatzt und debattiert. Natürlich ging es auch bei der Arbeit oft sehr heiter zu und allerhand Possen wurden dabei getrieben. Da gab zum Beispiel der Oberkoch unerfahrenen Neulingen höchst sonderbare Aufträge: dem einen wurde aufgetragen, aus dem gewaltigen Kessel Kartoffeln mit der Gabel herauszufischen; ein anderer erhielt den Auftrag, sich mit einem großen Knüppel an ein Mauerloch zu stellen, worauf er dann ernsthaft angewiesen wurde, jeden »Schwaben«, der sich zeigen würde, niederzuschlagen; ich bekam den Auftrag, mit einem großen Messer die Hirsenkörner zu hacken, und was der Einfälle mehr waren.
Überhaupt war bei uns Arbeit und Spiel, Ernst und Scherz nah bei einander, und in dieser Beziehung hatte unser Treiben viel gemeinsam mit dem Leben in einer Erziehungsanstalt, mit dem Unterschied freilich, daß wir als Erwachsene und gesittete Menschen Scherz und Spiel nicht zur Roheit ausarten ließen.
Die Aufgabe der Köche war nicht leicht; sie mußten mit den spärlichsten Mitteln auskommen, und da oft jedes Gemüse fehlte, war es schwer, irgendwelche Abwechslung der Kost zu erreichen. Im Sommer des Jahres, als ich eintraf, hatten sogar die Kartoffeln gefehlt. Aus Sparsamkeitsrücksichten wurde zu Mittag nur Suppe zubereitet, das Fleisch dagegen wurde aus der Brühe genommen und erst zum Abendessen aufgetischt. Als ich am ersten Tage mich an den Mittagstisch setzte, war ich auf ein recht frugales Mahl vorbereitet, da ich bereits unterwegs gehört hatte, wie armselig die Kost im Gefängnis zu Kara war; als ich aber diese magere Brühe ohne jede Zutat ausgelöffelt hatte, und dies das ganze Mittagessen sein sollte, war ich trotzdem enttäuscht; ich stand ebenso hungrig auf, wie ich mich hingesetzt hatte. Lange Zeit dauerte es, bis ich mich an diese Nahrungsweise gewöhnte. Die Kunst unserer Köche äußerte sich also hauptsächlich darin, wie sie das ausgekochte Suppenfleisch später herzurichten wußten. Gewöhnlich wurde es gehackt und mit irgendeinem Gemüse aufgewärmt. Als Lieblingsgericht der meisten galt Fleisch mit Grütze, wobei das Fleisch in kleine Stückchen geschnitten war; man nannte dieses Gericht »Jeder hat's«, und es war der Stolz der Köche, mindestens zweimal in der Woche den Küchenzettel mit diesem originellen Namen zu zieren. Die Gourmands unter uns pflegten daher sorgfältig in der Küche zu spionieren und verfehlten nicht, in den Kammern mit Jubel zu verkünden: »Heute machen sie »Jeder hat's'!« Besonders aber strengten sich unsere Köche am Samstag an, wenn ihre Woche ablief. Seit Jahren war es Sitte, daß es an diesem Tage ein Extragericht gab, einen »Pirog«, das heißt ein Gebäck aus Weizenmehl mit Reis und gehacktem Fleische gefüllt. Die ganze Woche sparten daher die Köche ganze Fleischstücke auf, und der »Pirog« wurde dann so groß, daß viele ihn nicht bewältigen konnten und ein Stück zum Morgentee für Sonntag aufbewahrten.
Im allgemeinen war unsere Kost sehr ungenügend, wenig nahrhaft und noch weniger schmackhaft. Nur Brot hatten wir zur Genüge, da die Portionen, die uns von der Intendantur geliefert wurden, ausreichend groß waren, so daß noch ein Teil übrig blieb. Wer jedoch nicht imstande war, so viel Brot zu genießen, war beständig hungrig. Nur an den großen Festtagen aßen wir uns satt, weil dann nicht nur das »Äquivalent« erhöht, sondern auch eine Extrasumme für die Küche ausgeworfen wurde. Die Köche schwelgten dann und brachten Leckerbissen auf den Tisch: Braten oder Koteletts und Weißbrot. Man konnte unseren Köchen das Lob nicht absprechen; es fanden sich wirklich Virtuosen unter ihnen, oder wie es in unserem Jargon hieß: »wie in besseren Häusern«.
Die Krankenkost war nicht im vorhinein bestimmt, der Koch hatte selbst dafür zu sorgen, daß sie abwechslungsreich war, mußte aber natürlich auch haushälterisch dabei sein. Schwerkranke hatten wir übrigens zu meiner Zeit nicht, und die Krankenkost war für Schwächliche oder chronisch leidende Personen bestimmt, zum Teil auch für solche, die gesund, aber verweichlicht waren. Die Bestimmung darüber, wer Krankenkost haben müsse, traf unser Genosse Pribyleff, der auch unser ärztlicher Ratgeber war und in der Tat großes Geschick und viel Kenntnisse zeigte, obwohl er eigentlich von Hause aus Tierarzt war. Sein Ruf als Heilkünstler war weit verbreitet, und später, als er in Kara außerhalb des Gefängnisses lebte, holten sich auch andere bei ihm Rat, obwohl drei diplomierte Ärzte in der Nähe wohnten.
Hilfsarbeiter in der Küche waren gewöhnlich diejenigen, die nichts von der Kochkunst verstanden, oder auch solche, die gern schwere Arbeit verrichteten. Beide Gründe trafen bei mir zu, weshalb ich mich niemals als Koch produzierte. Wir Hilfsarbeiter hatten also Wasser herbeizutragen, Holz zu hacken, Teewasser und Holzkohlen für den Samowar nach den Kammern zu schaffen, die Speisen in hölzernen Kübeln zu verteilen, das Geschirr zu waschen, die Öfen zu heizen und die Küche zu reinigen. Dies waren also nicht gerade immer angenehme Beschäftigungen. Dafür bekamen aber alle, die in der Küche beschäftigt waren, nach altem Brauche etwas reichlichere Portionen.
Außer dem Obmann, der unsere Speisekammer verwaltete, war noch ein besonderer »Brotverteiler« ernannt, dessen Aufgabe es war, das Brot zu schneiden, in den Kammern zu verteilen und andererseits die Brotkrumen, die übrig blieben, zu sammeln; wir legten sie sorgfältig in Leinwandbeutel und übergaben sie jeden Morgen dem »Brotverteiler«, der sie dann in die »freie Ansiedlung« schickte, wo man ein paar Kühe und ein Pferd, die dem Artel gehörten, damit fütterte.
Eine weitere Amtsperson war der »Hühnervogt«. Wir hatten nämlich eine Anzahl Hühner im Hofe, die wir sorgsam pflegten, und die uns viel Freude machten, wenn sie im Hofe herumliefen, dann wenn die Küchlein ausschlüpften oder die jungen Hähne ihre Kräfte im Kampfe erprobten.
Zwei andere hatten das Amt der Badeverwaltung; sie sorgten für die Reinhaltung des Dampfbades und waren dafür ebenso wie die übrigen »Amtspersonen« vom Küchendienste befreit.
Schließlich gab es noch ein höchst wichtiges Amt, das eines Bibliothekverwalters. Dieser rangierte gleich nach dem Obmann und wurde durch Ballotage gewählt, während die übrigen »Würdenträger« in der Regel sich selbst ihr Amt wählten. Unsere Bibliothek war im Laufe der Jahre recht stattlich geworden; zum Teil bestand sie aus Büchern, die die Inhaftierten mitbrachten, zum Teil aus solchen, die uns zugeschickt wurden. Fast alle Wissensgebiete waren hier vertreten, aber besonders Geschichte, Mathematik und Naturwissenschaften. Dabei waren Bücher in nahezu allen europäischen und auch den klassischen Sprachen vorhanden. Zwei mächtige Schränke im Korridor bargen diesen Schatz, aber ein großer Teil war gewöhnlich in den Händen eifriger Leser. Unser Kustos hatte dabei auch das Einbinden zu besorgen, wobei ihm natürlich willig Hilfe geleistet wurde. Die Werkzeuge, über die wir dabei verfügten, waren ziemlich primitiv, und außerdem hatten wir keine Pappdeckel, weil die Pappe zu teuer war; daher kamen wir auf den Gedanken, uns selbst welche zu fabrizieren, indem wir Papier zusammenkleisterten. Tschuikoff, der mit mir zusammen nach Kara gekommen war, entpuppte sich als ein vorzüglicher Kustos, er wußte nicht nur auswendig, welches Buch jemand entliehen hatte, sondern er war selbst imstande, jede beliebige Abhandlung in einer Zeitschrift sofort zu ermitteln. Er wurde denn auch bis zuletzt immer wieder gewählt.
In den Kammern war der Dienst ebenfalls geregelt; der Reihe nach mußten wir täglich zweimal auskehren, die Öfen heizen, die ominösen Kübel morgens heraus- und abends hereintragen usw. Wir hielten unsere Räume peinlich sauber. Alle vierzehn Tage war großes »Reinemachen«. Die Dielen wurden mit heißem Wasser gescheuert, die Betten gelüftet, Stühle und Bänke im Hofe gewaschen. Auch für sorgfältige Lüftung wurde gesorgt. Überhaupt beobachteten wir, so gut es uns irgend möglich war, hygienische Anforderungen. Das Dampfbad besuchte jeder von uns einmal in der Woche. Die Leibwäsche wusch jeder für sich; auch das gehörte nicht zu den angenehmsten Arbeiten.
Das war im allgemeinen unsere wirtschaftliche Organisation. Wenn man bedenkt, daß die meisten der in Kara Inhaftierten Studenten waren, die direkt von der Universitätsbank kamen, oder aus Leuten bestand, die nicht viel vom praktischen Leben, von häuslichen Arbeiten und Wirtschaftsbetrieben verstanden, und wenn man andererseits die äußeren Bedingungen, die uns aufgezwungen waren, und die Kargheit unserer Mittel in Betracht zieht, so muß man füglich staunen, wie praktisch, zweckmäßig und gerecht das Ganze organisiert war.
Freilich war diese Einrichtung nicht auf einmal geschaffen, sondern wurde allmählich den Bedürfnissen und allgemeinen Bedingungen entsprechend ins Leben gerufen, auch zeigte sich hier und da die Notwendigkeit, einige Details den Umständen entsprechend zu ändern; aber im allgemeinen erwies sich das Prinzip, auf dem alles beruhte, als gut.
Daß unser Leben viel Unerquickliches und schwer zu Ertragendes bot, ist bei den Umständen, denen wir unterworfen waren, nur zu erklärlich. Das Beisammensein während vieler Jahre mußte notwendigerweise zu kleinlichem Zank und Streit führen, um so mehr, da das ewige Einerlei kaum auf die Dauer zu ertragen war und alle nervös machte. Das waren Übelstände, die zu beseitigen nicht in unserer Macht lag.
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In jeder Kammer hing in der Mitte eine Lampe mit einem dunkeln Schirm; wir hatten sie selber hergestellt. Leider waren aber die Tische schmal und lang, so daß es immer eine Anzahl spärlich beleuchteter Plätze gab; es war somit für deren Inhaber jede Beschäftigung ausgeschlossen. Das führte zu argen Kalamitäten, denn die auf diese Weise zur Untätigkeit Verdammten störten andere an der Arbeit. Aber selbst wenn diesem Übelstand hätte abgeholfen werden können, wäre es doch unmöglich gewesen, Bedingungen für ungestörtes ernstes Studium zu schaffen; wo sechzehn Menschen in einem kleinen Raume sich aufhalten mußten, Menschen von verschiedenem Temperament und verschiedenen Neigungen, konnte niemals die nötige Ruhe herrschen, und es wäre zu viel verlangt gewesen, daß an den endlos langen Winterabenden und Nächten jedes Gespräch hätte aufhören sollen. Im Gegenteil, wenn man sich abends zu Tisch setzte, um zu arbeiten, ging gerade das Geplauder erst recht an, man schwatzte, machte Witze, scherzte und lachte. Infolgedessen mußten diejenigen, die ernsthaft arbeiten wollten, zu besonderen Mitteln greifen; sie wurden »Siriusse«, wie es in unserem Jargon hieß. Die »Siriusse« legten sich nämlich, sobald es dunkel wurde, zu Bette, und wenn das Gros schlafen ging, standen sie auf und arbeiteten bis zum Morgengrauen, wenn der Sirius am Horizont aufstieg, um dann noch eine oder zwei Stunden der Ruhe zu pflegen. Es gehörte schon eine große Wißbegier und Ausdauer dazu, ein »Sirius« zu werden. Es war nicht leicht, am Abend einzuschlafen, wenn die Kameraden ringsumher schwatzten und rumorten; war man endlich eingeschlafen, so dauerte es nicht lange, bis man wieder aufstehen mußte; schon diese Teilung der Nachtruhe ist schwer zu ertragen; ich wenigstens konnte mich trotz aller Anstrengung nicht daran gewöhnen. Doch waren einige unter uns, die fast die ganze Zeit, die ich in Kara verbrachte, zu den »Siriussen« zählten; besonders Jazewitsch, Kaljuschni und Adrian Michailoff (von diesen beiden wird weiterhin noch die Rede sein) hielten diese Lebensweise die ganze Zeit aus.
Gleich an einem der ersten Tage lernte ich eine sonderbare Sitte kennen, die sich im Gefängnis eingebürgert hatte und Erwähnung verdient.
Wir waren in eifrigem Gespräch über die politischen Zustände Rußlands begriffen, als einer der Kameraden, M., sich mit Fragen an mich wendete:
»Sagen Sie, Deutsch, was meinen Sie, wird man den Zaren bald umbringen?«
»Ei nun, ich glaube, man wird ihn überhaupt nicht umbringen, der Mann wird seine Tage ruhig in seinem Bette beschließen.«
Meine Antwort rief heftigen Widerspruch hervor. Von allen Seiten wollte man mir durchaus beweisen, daß Alexander III. unfehlbar das Schicksal seines Vaters teilen werde.
Zu jener Zeit glaubten alle Revolutionäre, mit ganz wenigen Ausnahmen, noch felsenfest an die unerschütterliche Macht der »Narodnaja Wolja« und sahen im Terrorismus die einzige zweckmäßige Kampfesweise gegen den Absolutismus in Rußland. Mir dagegen erschien die Lage der Dinge in der revolutionären Bewegung in durchaus anderem Lichte. Ich hatte an revolutionären Organisationen teilgenommen, als die terroristische Strömung gerade im Anfangsstadium war; ich war Zeuge gewesen, wie diese Kampfesweise sich weiter entwickelte und nachher zur ausschließlichen, alleinherrschenden wurde; ich hatte die Terroristen, sowohl die großen als die kleinen, persönlich gekannt und war zu dem Schluß gekommen, daß die »Narodnaja Wolja« sich bereits überlebt hatte. Die Strömung, die diese Partei groß gemacht, erreichte im Jahre 1881 ihren Höhepunkt; seit dem erfolgreichen Attentat gegen Alexander II. ging es reißend bergab. Wie bereits erwähnt, wurden damals alle erfahrenen und erprobten Terroristen beseitigt, während die jüngeren, die ihnen folgten, bei den bestehenden Umständen nicht mehr in der Lage waren, ihre Kräfte zu erproben und zu stählen. In Rußland und im Ausland hatte ich die Beobachtung gemacht, daß der frühere Enthusiasmus einer verhängnisvollen Skepsis gewichen war; man hatte den Glauben verloren, wenn auch die meisten es nicht offen bekennen mochten. Mir war vollkommen klar, daß die Reaktion für viele Jahre eingetreten war.
Als ich jetzt dieser Anschauung Ausdruck gab, fragte M. plötzlich:
»Wollen Sie vielleicht ›Ihre Meinung bekräftigen‹?«
»Was soll das heißen?« fragte ich.
»Das bedeutet bei uns einfach, eine Wette eingehen,« antwortete er. »Ich behaupte, man wird den Zaren umbringen, Sie sind anderer Meinung. Ich biete Ihnen also eine Wette an: bis zu einer bestimmten Frist ist der Zar von den Revolutionären gerichtet.«
»Schön, ich nehme jede Frist an!«
»Sagen wir fünf Jahre, bis zum 16. Dezember 1890. Nehmen Sie an?«
»Es gilt! Was ist der Einsatz?«
Die letzte Frage war nicht leicht zu entscheiden. Wetten dieser Art waren hier, wie ich dann erfuhr, allgemein im Schwange; man wettete bei allen möglichen Gelegenheiten. Bald gab ein ernster Streit den Anlaß, bald handelte es sich um Bagatellen, und es gab kaum eine Kontroverse, wo nicht schließlich der eine oder andere Teil die Frage stellte: »Wollen Sie vielleicht Ihre Meinung bekräftigen?« Wenn dann der also Gefragte Ausflüchte machte, so wurde im Chore von den Zeugen verkündet: »Er drückt sich!«, und man kam bald in den Ruf eines »Drückebergers«, ein Titel, der nicht gerade schmeichelhaft war. Gewöhnlich galt die Wette irgendeinen kleinen Einsatz an Produkten, Tabak, Tee usw., je nach der Tragweite der Streitfrage. In der Regel galt sie »ein Sous« Zucker, dagegen war eine Wette, da der Verlierende für die ganze Kammer Tee aufbrühen ließ, schon sehr hoch und wurde mit Interesse verfolgt. Obwohl diese Wetten einen scherzhaften Charakter trugen, kam ihnen auch ein ernster Sinn zu. Es gibt Leute, die um jede Lappalie streiten und dabei unglaubliche Dinge reden. In unserer Mitte war, offen gestanden, infolge des gezwungenen Müßiggangs, dieses Übel besonders verbreitet; wenn nun so ein leichtfertiger Schwätzer einigemal die Wette verlor, hütete er später seine Zunge. Allerdings gab es solche, die weder durch Verluste noch durch den Spottnamen »Drückeberger« sich abhalten ließen, ins blaue hinein zu debattieren.
Ich hatte also mit M. gewettet, und als Einsatz wurde bestimmt, daß der Verlierende für alle Insassen der »Adelskammer« Kuchen spendieren sollte. Das war eine sehr hohe Wette; sie galt einige Rubel, und da das »Äquivalent«, aus dem die Ausgabe bestritten werden mußte, wie gesagt, sehr gering war, so riskierte der Verlierende, mehrere Monate sich jeder Ausgabe für »Bedürfnisse zweiten Ranges« enthalten zu müssen. Da aber die Frage von großer Tragweite war, mußte auch der Einsatz dementsprechend sein. Der Lauf der Dinge gab mir recht. Am Ende des Jahres 1890 hatte M. seine Wette verloren und wollte sie begleichen; ich schlug es aber aus unter dem Vorwand, daß die Bedingungen nicht mehr zu erfüllen seien, weil an dem Schmaus die Insassen der »Adelskammer« teilnehmen sollten, und diese waren nicht mehr zugegen, da viele bereits das Gefängnis verlassen hatten. M. wollte anfangs nichts davon wissen, gab aber schließlich nach.