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Am 1. Mai 1877 schrieb Johann Gustav Droysen an der Schwelle des neunundsechzigsten Jahres das Vorwort des Buches, das jetzt von neuem in seiner Substanz unverändert, wenn auch ohne die Anmerkungen und Anhänge Droysens dem Leser vorgelegt wird. Er berief sich darin auf die erste Auflage, der er am 24. Dezember 1833 den unvergeßlichen Widmungsbrief an Gottlieb Friedländer vorangestellt hatte: »Hat mir seit Jahren dieß Buch vom Alexander bei mancher Mühe und mancher Besorgniß, das Rechte würdig zu sagen, viele und stets neue Freude gewährt, so mag es mir jetzt zum Schlusse die noch bereiten, es Dir zu widmen mit dem einen Wunsche, daß es Dir meiner herzlichen Liebe ein Zeugniß sei. Vielleicht, daß mir spätere Arbeiten besser gelingen, lieber wird mir nicht leicht eine sein, als diese, von der ich wohl weiß, daß ich mit ihr von den schönen Jahren der Jugend Abschied nehme; Dir aber wollte ich geben, was mir das Liebste ist.« Eine leise Resignation spricht jetzt aus den Worten des greisen Gelehrten, der zeitlebens ein leidenschaftlicher Kämpfer gewesen war: »Ich würde mir nicht mehr so, wie ich damals gethan, die Aufgabe stellen, noch weniger sie in der Weise, wie ich damals für möglich hielt, zu lösen unternehmen.«
Ist es noch berechtigt, ein solches Buch heute wieder aufzulegen? Ist es nicht veraltet und ist nicht die Forschung längst darüber hinweggegangen? Nun, die Wissenschaft mißt nicht mit den Maßstäben, die der flüchtige Leser anlegt. Sie weiß, daß sie um ein Ziel ringt, das ganz zu erreichen ihr wesenhaft versagt bleibt, und sie vergißt darum nicht, daß es auf ihrem Wege unverrückbare Marksteine gibt. Das sind jene epochalen Werke, in denen sich der Genius eines begnadeten Forschers mit der geheimnisvollen Größe eines Stoffes begegnet. Dann werden die Grundlagen aller künftigen Arbeiten auf diesem Felde gelegt. Und haftet gar einem solchen Werke noch die große Form an, dann wird es zu einem unvergänglichen Besitz, der gültige Maßstäbe aufrichtet, und bleibt jung wie am ersten Tag. Ein solches Werk ist das Buch des jungen Lehrers am Grauen Kloster, der sich in eben diesem Jahre 1833 in Berlin habilitierte. Es hat in einem Sinne Epoche in der Wissenschaftsgeschichte gebildet, wie es nur ganz selten der Fall ist, weil es nicht nur eine der entscheidenden Perioden der abendländischen Geschichte erstmalig dem wissenschaftlichen Bewußtsein erschloß, sondern weil es zugleich auch die erste und damit schlechthin vorbildliche Gesamtbehandlung einer Periode der griechischen Geschichte überhaupt aus dem Geist der neuen kritischen Forschung war. Es ist bis auf den heutigen Tag die lebendigste und tiefsinnigste Deutung Alexanders geblieben.
Seiner Zeit weit vorauseilend, obwohl und gerade weil es von der kultivierten Geistigkeit der Berliner zwanziger und dreißiger Jahre – Droysen ist ja auch der erste kongeniale Übersetzer des Aischylos und Aristophanes und der vertraute Freund von Felix Mendelssohn gewesen! – und der deutschen Spätklassik getragen wird, ist es zunächst nicht selten auf scharfen Widerspruch gestoßen, um in seiner ganzen Größe erst durch die Arbeit der letzten Forschergeneration erschlossen zu werden. Nörgelnde Kritik hat sich kaum an die Neubearbeitung herangewagt. Julius Beloch, der das schärfste Urteil gefällt hat, war gewiß einseitig und darum ungerecht, aber er war zugleich doch auch ein Forscher von hohem Rang.
Für uns hat es heute einen eigentümlichen Reiz, die beiden Fassungen miteinander zu vergleichen. Dabei geht es uns nicht so sehr um das wissenschaftliche Bemühen, den alten Text zu berichtigen und zu ergänzen und darum bestimmter auszuprägen und sicherer zu begründen. Das gehört vornehmlich der bloßen Wissenschaftsgeschichte an, so wichtig es auch für die Forschung geworden ist, und wir weisen nur darauf hin, daß Mommsen sich nicht entschließen konnte, nach den oft nur leichten Veränderungen der zweiten Auflage stärkere Eingriffe in seine römische Geschichte vorzunehmen. Wir lauschen dafür in das Buch hinein, um den Menschen herauszuspüren, der tiefer als sonst einer seiner Zeitgenossen über historische Methodik nachgedacht hatte und der es gerade darum nicht lassen konnte, ›mit dem Herzen‹ zu schreiben, weil er um die Grenzen der nur methodisch-rationalen Bemühungen wußte. Wir bedauern, daß er die Einleitung kürzte und die ersten Seiten strich, die das vielleicht Tiefste und Großartigste sind, was je ein deutscher Geschichtsschreiber ausgesprochen hat. Hier hat der Forscher dem Seher nicht mehr den Platz vergönnt. Er hat darum auch den Stil geändert, ohne ihn freilich nun in die herbe Strenge seiner York-Biographie zu verwandeln, in der das soldatische Preußen seine gültige Gestalt angenommen hat. Das Wort entfaltet sich jetzt nicht mehr in jenen hymnischen Kaskaden, die Helmut Berve mit Recht gefeiert hat, aber es fließt noch immer in großartig dichten Perioden dahin, die sich bisweilen in monumentalen Einzelsätzen zu letzter Wirkung zusammenfassen. Nur wer sie einmal laut liest und des vollkommenen Einswerdens von Gedanken und Ausdruck auch im Sprachrhythmus innewird, kann das Kunstwerk und die Gedankenfülle, die es umschließt, ganz in sich aufnehmen. Damit mag es auch zusammenhängen, daß dieses Buch davor bewahrt geblieben ist, zur Lektüre des deutschen Bildungsphilisters zu werden: es verlangt nun einmal ein feines Ohr und intensive Mitarbeit.
Diese Mitarbeit muß allerdings, wenn sie zum Verständnis der eigentlichen Hintergründe von Droysens Geschichtsauffassung gelangen will, weitverbreitete moderne Vorstellungen beiseite schieben und nach den geistigen Voraussetzungen dieses Buches fragen. Diese gehen nicht die äußere Methodik an: die ist grundsätzlich die gleiche, die die heutige Geschichtsforschung beherrscht. Die geistige Welt aber, die über allem liegt, vollzieht die Synthese von einem ganz unmittelbar erlebten Protestantismus mit dem Gedankengut der deutschen idealistischen Philosophie in Hegels Prägung. Weltgeschichte und Heilsgeschichte sind noch eins. Eine großartige eschatologische Geschichtsdeutung, die den Tag der Erfüllung allerdings, wie Augustinus einst schon, in eine unbekannte Ferne rückt, beherrscht auch dieses erste Meisterwerk einer schon historischen und zugleich auch eminent politischen Geschichtsschreibung. Die Kritik der Nachlebenden mag die Sprünge aufweisen, die dadurch entstanden sind: sie kann sich aber dem Zauber, den eine solche geistige Haltung über das Buch breitet, nicht entziehen.
So erhält mancher Satz, der uns hybrid erscheinen mag, einen ganz neuen Sinn. »Stets ist das stolze Recht des Sieges der Sieg eines höheren Rechtes; der Heldenkraft des geschichtlichen Berufes gegenüber wird die Ohnmacht persönlicher Tugenden und ererbter Rechte offenbar; die geschichtliche Größe, die höchste Herrlichkeit des Menschengeistes, ist mächtiger als Recht und Gesetz, als Tugend und Pflicht, als Raum und Zeit; sie siegt, so lange sie wagt, kämpft, zerstört, so lange dem Helden der That der Held des Leides entgegen ist; erliegt dieser, so ist der Sieger Erbe des Leides, das er verschuldet, des Zerstörens müde, der Gefahren frei, ohne Feind und Wunsch, beginnt er zu gründen auf der Zerstörung und seinen Thron zu bauen auf den Trümmern alter Rechte und Erinnerungen; die Stufen seines stolzen Thrones sind Furcht, Haß und Verrath.« Diese erschreckenden Sätze leiten in der ursprünglichen Fassung das fünfte Kapitel ein und bilden die Caesur, die das ägyptische Unternehmen von dem Feldzug in Babylon und Iran trennt. Die sentimentale Alexanderkritik der moralisierenden antiken Zeugen und ihrer Erben im 18. und frühen 19. Jahrhundert klingt hindurch und fordert die scharfe Antithese heraus, die wie ein rückhaltloses Bekenntnis zum Recht des Stärkeren erscheinen könnte, auch wenn der ernste Leser die tiefe Tragik, die hinter allem steht, nicht überhören kann. Droysen selbst muß es später empfunden haben und schirmt darum den Grundgedanken nun zu Beginn des dritten Kapitels des zweiten Buches gegen Mißverständnisse ab. Er läßt den mächtigen Aufklang unverändert, nimmt dann aber das Wort ›Recht‹ noch einmal auf und ergänzt es durch die erläuternden Bemerkungen, »das die höhere Spannkraft, die überlegene Entwicklung, die treibende Kraft eines neuen zukunftsreichen Gedankens giebt. In solchen Siegen vollzieht sich die Kritik dessen, was bisher war und galt, aber nicht weiter führt, mächtig und selbstgewiß schien, aber in sich krank und brüchig ist.« Dann mildert er die nun wieder aufgenommenen Gedankenreihen und unterstreicht zugleich die Tragik solcher Momente durch tiefer schürfende Weiterungen und vorsichtigere Formulierung der bejahenden Bemerkungen: »Nicht das Herkommen … schützt dann vor der überwältigenden Macht dessen, dem das Verhängniß geschichtlicher Größe zu Theil geworden ist … baut er auf, indem er noch zerstört, schafft so eine neue Welt, aber aus den Trümmern, auf dem Trümmerfeld seiner Zerstörungen. Was er besiegt und gebrochen hat, überdauert ihn in seinem Werk.«
Die Einsicht in die Dämonie der Geschichte ist tiefer geworden. Anders als Fritz Schachermeyr, der zuletzt noch unter dem unmittelbaren Eindruck der deutschen Katastrophe die Gestalt des Makedonen zu deuten versucht hat, wird Droysen aber auch der dadurch sichtbar gewordenen Abgründe Herr. Gewiß, wir werden ihm dabei nicht in allem mehr bedingungslos folgen können. Wir fragen, ob nicht die Dämonie der Geschichte in Kategorien sich bewegt, die sinnvoll zu deuten menschlichem Bemühen versagt bleibt, wenn wir uns nicht in den umhegten Raum dogmatischer Geschichtsauffassungen zurückziehen, und wir sehen darum auch die Zeitbedingtheit eines solchen Werkes. Droysens Geschichtsbild wurzelt in den Erlebnissen der Generationen, die das Erbe der Freiheitskriege bis in die Jahrzehnte der Reichsgründung hinüberretteten, wie er ja selber einer der leidenschaftlichsten Kämpfer für Preußens Aufstieg gewesen ist, den man nicht selten als Prototyp der borussischen Geschichtsauffassung bitter getadelt hat. Wir wissen heute aus einem unmittelbareren Verhältnis zum Raum politischer Entscheidungen, daß dieses preußische politische Gedankengut von einer schweren Hypothek antipolitischer Vorstellungen belastet war und darum mehr als einmal verhängnisvolle politische Entscheidungen herbeiführte: aber hüten wir uns davor, den großen sittlichen Ernst, der hinter alledem stand, zu vergessen und zu übersehen: er gehört zu dem kostbarsten geistigen Besitz unseres Volkes und kann unter Umständen auch heute noch Dämme gegen die nicht minder verhängnisvolle Relativierung politischer Entscheidungen nach bloßen Zweckmäßigkeitserwägungen aufrichten. Droysen wäre nicht der große Historiker und fromme Protestant gewesen, wenn er nicht ein feines Gefühl für die schuldhafte Verstrickung alles menschlichen Tuns gehabt hätte. Immer und immer wieder finden sich Sätze, die diese existentielle Tragik gerade in der Gestalt des ›geschichtlichen‹ Tatmenschen berühren. Und es mag uns wohl einmal fast wie Neid beschleichen, wenn wir uns eingestehen, daß es uns versagt ist, eine solche Erkenntnis aus der Tiefe des Credos zu überwinden, ohne an der Unabdingbarkeit der Forderung nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu rütteln.
Darin liegt einbeschlossen, daß wir Droysen gerade dann oft nicht mehr widerspruchslos zustimmen können, wenn Recht gegen Recht steht, weil wir die geschichtliche Entscheidung nicht ohne weiteres mehr als gültiges Kriterium anerkennen – ein Umstand, der es uns freilich auch nicht zu leicht machen sollte, nun das Richteramt der Geschichte zu bestreiten und die Gloriole des Leidens an die Stelle des Siegerkranzes zu setzen. Hier hat die Forschung mit Recht manche Urteile eingeschränkt und berichtigt. Ich greife einzelnes von grundsätzlicher Bedeutung heraus. Die Frontstellung gegen die klassizistische Verklärung der griechischen Polis und ihrer Wortführer macht ihn bisweilen blind vor den politischen Leistungen auch dieser Spätzeit und vor dem Werk ihrer Staatsmänner. Der orientalische Staat bleibt ihm irgendwie fremd, weil er ihn begreiflicherweise gern mit den Augen der westeuropäischen Kritiker an den ihnen so wesensfremden modernen orientalischen Staaten sah, ein Mißverständnis, das um so begreiflicher ist, als zwischen 1833 und 1877 ja weithin überhaupt erst die Grundlagen für ein echtes historisches Verständnis der altorientalischen Staaten und ihrer staunenswerten politischen und kulturellen Leistungen gelegt wurden. Wirklich erschlossen sind diese erst durch die Arbeiten der großen Forscher, die nach Droysens Tod wirkten! Darin liegt aber auch einbeschlossen, daß das Phänomen des »Hellenismus« – der einst von Droysen geschaffene Begriff ist trotz vereinzelten Widerspruchs zum festen Besitz der Forschung geworden! – in eine wesentlich andere Beleuchtung gerückt wurde. Erst jetzt ist es möglich geworden, die Voraussetzungen für den Austausch der kulturellen und politischen Güter und die Auswirkungen dieses Prozesses auf Orient und Occident herauszuarbeiten. Hier ist die Forschung noch mitten im Fluß und hat für viele brennende Fragen noch keine allgemein anerkannten Antworten gefunden, und zwar bisweilen auch darum nicht, weil außerwissenschaftliche Ressentiments von hüben und drüben die unbefangene Urteilsbildung beeinträchtigten. Darüber aber besteht bei allen Urteilsfähigen heute kein Zweifel mehr, daß der Weg von Alexander zu Jesus komplizierter gewesen ist und daß erst die Antwort des Ostens auf die Herausforderung des Westens die Entstehung des Spätjudentums und Jesu Auftreten möglich machte und daß das Christentum erst ganz langsam das jüdische Erbgut mit hellenistischen Einflüssen verschmolz, ein Vorgang, der ebenso sehr von dem Imperium Romanum wie von dem Erbe Alexanders bedingt wurde. Erkenntnisse dieser Art modifizieren das von Droysen entworfene Bild sicherlich, berühren aber die entscheidende geschichtliche Feststellung nicht, die der monumentale Eingangssatz unserer Auflage ›Der Name Alexander bezeichnet das Ende einer Weltepoche, den Anfang einer neuen‹, ausspricht.
Was für Alexanders Stellung zu den Griechen und zum Orient gilt, das trifft auch auf sein Verhältnis zu seinem eigenen Volk und seinen Wortführern zu. Nicht, als ob Droysen je der Gefahr verfallen wäre, die Konflikte zu verharmlosen! Aber er ist doch bereit, das Recht des Königs in einem höheren Grade zu bejahen als wir, eben weil er es zutiefst aus seinem eschatologischen Gesichtsblick deutet. Die Tragik ist da, wenn er von Philotas und Parmenion und von Kleitos spricht. Stehen wir aber schaudernd vor dem Abgrund, der die letzten existentiellen Hintergründe des Menschen und seiner geschichtlichen Rolle aufreißt und Schuldverstrickungen schafft, die zu tragen das Verhängnis des großen Täters ist, das niemand ihm abnehmen kann, und folgen wir erschüttert dem Weg in die letzte Einsamkeit, so hat Droysen auch hier noch die Kraft, die Tragik mit seiner Sicht zu überwölben und die Einsamkeit, nicht aber die erbarmungslose Härte des dämonischen Täters zu übersehen. Ungerecht wird er in diesem Räume eigentlich nur Kallisthenes gegenüber. Sicherlich ist dieser Grieche kein Mann von hohem Rang und klarer Einsicht in die Verhältnisse gewesen, der dem Makedonen kraft eigenen Rechtes entgegengetreten wäre: aber er verkörpert nun einmal in Alexanders Umgebung das Denken und die Ansprüche des Polisbürgers, d. h. aber auch, er verkörperte ein Menschenbild von zeitloser Geltung, das sich nun tödlich bedroht sah. Daran ändert die Tatsache nichts, daß nicht die Weigerung, die Proskynese zu vollziehen, sondern erst die sekundäre Verbindung mit der spezifisch makedonischen Opposition seinen Untergang herbeiführte. Aus diesen Gegebenheiten heraus nahm sein Schicksal die Dichte einer symbolhaften Entscheidung an.
Erkenntnisse dieser Art berühren auch das Bild, das Droysen von Alexanders Erscheinung entwirft. Dieses steht unter dem Eindruck der antiken Auffassung, die geneigt ist, eine Persönlichkeit statisch zu sehen, während wir die beharrende Kraft des Persönlichkeitskernes zwar anerkennen, aber mit besonderer Liebe seiner allseitigen Entfaltung unter den Einwirkungen der naturgegebenen Reifephasen und der mannigfachen äußeren Einwirkungen nachgehen. Selbstverständlich hat auch Droysen das schon getan; aber er ist doch geneigt, die Einheitlichkeit der großen politischen Konzeptionen in einem ungleich höheren Maße als die moderne Forschung anzuerkennen, die bemüht ist, die entscheidenden Wandlungen zeitlich und kausal herauszuarbeiten. Darüber besteht heute weitgehend Einhelligkeit, daß der Gedanke, das Perserreich ganz zu okkupieren, erst unter dem Eindruck der Erfolge und der dadurch geschaffenen neuen politischen und militärischen Aufgaben konkrete Gestalt annahm. Dagegen geht noch ein lebhafter Streit um die letzten Ziele, d. h. darum, ob Alexander, wie ich selber etwa annehme, unter dem Bann auch der unzureichenden geographischen Zeitvorstellungen die ganze bewohnbare Erde zusammenfassen wollte, um der ganzen Menschheit Frieden, Gerechtigkeit und Wohlfahrt zu spenden, oder ob er, wie Droysen selber meint, nur noch räumlich klar umgrenzte Aufgaben wie die Eroberung Arabiens vor sich sah, als er nach der Eingliederung des Indusraumes in die Herzlandschaften des Achaimenidenreiches zurückgekehrt war.
Handelt es sich dabei aber noch um Ideen, die uns zwar fremdartig und utopisch anmuten, aber nicht unverständlich sind, so entzieht sich die Stellung, die Alexander als Spitze der neuen Ordnung einnehmen wollte, unserer Vorstellungswelt fast ganz. Wir lesen, daß er im Ammonium als eines Gottes Sohn angesprochen wurde und daß er selber später an die Griechen die Aufforderung richtete, als Gott anerkannt und verehrt zu werden. Droysen geht nicht einfach darüber hinweg, unternimmt aber keinen ernsthaften Versuch, den Gehalt dieser Ansprüche herauszuarbeiten, während er sonst keiner Schwierigkeit ausweicht, wenn er ein zentrales Problem sieht. Es wäre aber falsch, darüber mit ihm zu rechten. Unsere Quellen sind von Männern geschrieben, die selbst die religiösen Vorstellungen, die zu der Vergottung eines Menschen führen konnten, nicht teilten und darum bald phantastisch aufbauschten und bald skeptisch ablehnten. Erst eine Reihe von Jahren nach seinem Tode unternahm es ein französischer Forscher, das Phänomen des antiken Herrscherkultes zu klären. Trotz allen Fleißes blieb dieser Versuch unzulänglich. Vielleicht sind erst heute die wesentlichen Voraussetzungen für ein solches Unterfangen durch die unermüdliche Arbeit einer langen Reihe von Forschern aller Nationen gelegt.
Einhelligkeit ist aber auch jetzt noch nicht einmal in den Grundfragen erzielt. Wer, wie ich selber, die Bemühungen der älteren Forscher, Alexanders Gottkönigtum als das fast zwangsläufig entstandene Ergebnis der griechischen oder orientalischen Religionsentwicklung zu erklären, als einen Irrweg betrachtet und wer die Spontaneität eines zwar von vielfachen Anregungen beeinflußten, aber in den geheimsten Tiefenschichten ruhenden Selbstverständnisses als den entscheidenden Faktor ansieht, der wird von hier aus nicht nur ganz neue Aspekte für die mannigfach verschlungene Geschichte des Herrscherkultes, sondern auch für die Deutung von Alexanders Gestalt und Wirken gewinnen.
Wir schmälern die epochale Leistung Droysens daher nicht, wenn wir auch an dieser Stelle auf einige wenige jüngere Arbeiten hinweisen, die Wesentliches zu dem modernen Alexanderbild beigetragen haben. Trotz der Neigung zu rationalistischen Konstruktionen wurde Julius Kaersts Geschichte des Hellenismus (I3, 1927) wichtig. Auch Julius Belochs Griechische Geschichte (III/IV2, 1922 ff.), die sich B. Nieses Kritik zu eigen machte und vertiefte, muß noch gelesen werden, auch wenn sie oft zu berechtigtem Widerspruch herausfordert. Glänzend geschrieben und inhaltlich wertvoll ist auch R. Cohens Alexandre et l'hellénisation du monde antique2, 1945. Noch wichtiger sind aber die Arbeiten Helmut Berves und W. W. Tarns geworden, von denen hier nur Das Alexanderreich auf Prosopographischer Grundlage, 1926, und Alexander the Great, 1948, genannt seien. Von deutschen Alexanderbiographien verdienen nur Ulrich Wilckens Alexander der Große, 1931, und Fritz Schachermeyrs gleichnamiges, 1949 veröffentlichtes Buch genannt zu werden. Meine eigenen Bemühungen um die Erhellung der religionsgeschichtlichen Hintergründe von Alexanders Gestalt und epochaler Bedeutung hoffe ich in Kürze vorlegen zu können (Charisma, Studien zur Geschichte der charismatischen Vorstellungen im Altertum I, 1955). Über Droysen unterrichtet jetzt knapp Fritz Wagner, Geschichtswissenschaft, 1951, 213 ff. Alle hier erwähnten Schriften, zu denen sich zahllose andere gesellen, sind der Dank der Wissenschaft an den Mann, in dem sie auch heute noch ihren Meister verehrt.
Marburg, den 21. November 1954
Fritz Taeger