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VI.

»Was für ein Gift?« fragte Krag.

»Blausäure«, antwortete der Arzt ernst. »Anfangs war ich ein wenig im Zweifel über die Art des Giftes, aber nun bin ich fest davon überzeugt, daß es Blausäure war. Betrachten Sie nur das krampfverzerrte Gesicht des Mädchens. Außerdem merke ich auch noch den Mandelgeruch. Aber er ist bei weitem nicht so hervorstechend wie sonst bei Blausäurevergiftungen. Von einer Austernvergiftung kann jedenfalls nicht die Rede sein.«

Krag untersuchte eine Austernschale nach der anderen. Eine davon reichte er dem Arzt.

»Riechen Sie,« sagte er, »und Sie werden Ihre Annahme bestätigt finden.« In dieser Auster war Blausäure.«

Der Arzt hielt die Schale lange an die Nase.

»Ganz recht,« antwortete er dann, »in dieser Auster war Blausäure.«

»Ja,« sagte Krag, »aber das ist auch die einzige. Bei keiner anderen Schale finde ich den charakteristischen Geruch.«

»Sehr merkwürdig«, meinte der Arzt. »Wie kommt denn Blausäure in eine Auster? Das ist ja ganz unmöglich.«

»Nein, das ist ganz klar«, erwiderte Krag. »Die Geschichte ist sehr einfach.«

Der Arzt sah ihn verblüfft an.

»Natürlich hat irgendeiner Blausäure hineingeträufelt.«

Die Bestürzung des Arztes wuchs.

»Irgendeiner?« fragte er. »Das Mädchen hat sich doch selbst das Leben genommen.«

»Ausgeschlossen«, erklärte Krag. »Hätte sie das gewollt, so würde sie hundert bequemere und leichtere Methoden gefunden haben. Die Annahme, daß sie selbst das Gift in die Auster geträufelt haben sollte, ist ja völlig sinnlos.«

»Aber wer kann es denn getan haben?«

»Er, der andere, der Mörder«, antwortete Krag ruhig.

»Also ermordet«, murmelte der Arzt. Er war sehr bleich geworden.

Krag nickte.

»Das ist ganz sicher«, bestätigte er.

»Ich weiß aber immer noch nicht, wie es geschehen konnte«, sagte der Arzt. Das Mädchen war doch ganz allein hier bei Tisch.«

»Sie war nicht allein.«

»Wer kann denn mit ihr zusammen gewesen sein?«

»Der Mörder.«

Der Arzt sah Krag verständnislos an.

»Ich bin noch immer so klug wie zuvor«, sagte er.

Krag hatte zerstreut und abwesend gesprochen. Seine Gedanken waren offenbar stark beschäftigt, um die Sache vollkommen zu klären. Plötzlich zuckte er zusammen.

»Kommen Sie her«, sagte er zu dem Arzt. »Setzen Sie sich hierher.« Er wies dem Doktor den Stuhl an, auf dem man die Tote gefunden hatten. Er selbst setzte sich ihm gegenüber.

»Nehmen wir nun an,« sagte er, »daß Sie das Mädchen sind und ich der Mörder. Wie würde ich dann die Blausäure in eine Ihrer Austern praktizieren?«

»Ohne daß ich es bemerke?« fragte der Arzt.

»Ohne daß Sie ahnen, daß es Blausäure ist«, erwiderte Krag.

Und er ergriff eine der ausgepreßten Zitronenscheiben, die auf dem Tisch lagen.

»In dieser Zitronenscheibe,« fuhr er fort, »befindet sich Blausäure. Das riecht man. Der Mörder hat also das Gift in die Zitrone eingespritzt, ehe er heraufkam. Wahrscheinlich brachte er die Austern mit den Zitronen selbst her. Die Zitronen sicher. Daß es deren zwei waren, erkennen wir an den Schalen. Und er reichte dem jungen Mädchen ein Stückchen von der vergifteten Zitrone. Vielleicht hat er den giftigen Saft selbst auf eine Auster für sie geträufelt. So, wie ich es jetzt tue. Wie Sie sehen, ist das ganz einfach. Gleich den meisten Verbrechen.«

Der Arzt sprang auf.

»Natürlich!« rief er aus. »So muß es zugegangen sein. Nun sehe auch ich alles klar und deutlich vor mir.«

»Sicher hat der Mörder sich gemerkt, welches die vergiftete Zitrone war, damit er sich nicht irre. Ja, ganz recht! Hier haben wir das Kennzeichen auf einem kleinen Stück der Schale. Sehen Sie, Doktor, hier ist ganz deutlich ein kleines Zeichen eingeschnitten.«

»Ja, ich sehe es,« antwortete der Arzt, »es sind zwei Kreuze.«

»Du großer Gott!« rief Krag aus. »Ja, gewiß sind es zwei Kreuze. Also das Zeichen, das sich auch auf dem Elfenbeinstock und auf der Visitenkarte befindet. Was, um des Himmels willen, kann das nur für eine unglückselige Bedeutung haben?«

Der Detektiv sammelte sorgsam die Austernschalen, die Zitronenreste, die Flasche und das Glas, aus dem das junge Mädchen getrunken hatte.

»Nun gilt es, den Mörder zu finden,« sagte er, »und das dürfte nicht schwer sein, da ich solche Spuren habe.«

Der Arzt sah ihn erstaunt an.

»Was wollen Sie mit den ausgepreßten Zitronenscheiben?« fragte er. »Mit deren Hilfe können Sie doch wahrlich keinen Mörder finden.«

»Wir Detektive haben oft viel unbedeutendere Anhaltspunkte«, sagte er lächelnd. »Kommen Sie, Herr Doktor, gehen wir jetzt. Sie bleiben hier und ordnen das Nötige für die Überführung der Leiche an«, wandte er sich an den Unterbeamten.

»Soll ich das Zimmer noch immer verschlossen halten?« fragte dieser.

»Nein, das ist nicht mehr nötig. Ich sah nun alles, was ich brauche.«

Der Detektiv nickte ihm zu und ging mit dem Arzt hinaus. Im Korridor blieb er stehen und untersuchte das Türschloß. Es war das Werk eines Augenblicks.

»Glauben Sie, daß er einen falschen Schlüssel benutzt hat?« fragte der Arzt.

»Das ist kaum anzunehmen. Aber sollte er es getan haben, so war es eine Kleinigkeit für ihn. Denn das hier ist ja ein erbärmliches Schloß.«

»Ja, ich könnte mir aber auch nicht erklären, wie er anders hereingekommen sein sollte.«

»Die Tür stand wahrscheinlich offen.«

»Die Wirtin behauptet ja das Gegenteil.«

»Wollen Sie einen Moment warten, so werden Sie den Zusammenhang gleich begreifen.«

Er rief die Wirtin.

»Ist nicht das junge Mädchen gegen Abend bei Ihnen gewesen?« fragte er sie.

Sprachlos sah die Frau ihn an.

»Ja. Aber woher wissen Sie das?«

»Und Sie hielten sie ein paar Minuten mit Schwatzen fest?« fuhr er unbeirrt fort.

»Ja, das stimmt. Doch begreife ich nicht...«

»Nunwohl,« sagte Krag, indem er den Arzt an den Arm nahm und mit ihm die Treppe hinunterging, »da sehen Sie, lieber Freund, wie alltäglich und einfach schließlich alles zuging. Die beiden, die Ermordete und der Mörder, hatten natürlich die Zeit für seinen Besuch verabredet. Er hatte wohl seine Gründe, nicht gesehen werden zu wollen. Nun hätte das Mädchen ihm ja natürlich ihren Korridorschlüssel geben können, aber Sie wissen ja, wie es sich mit solchen Wirtinnen, wie die dort oben, verhält. Sie ist von grenzenloser Neugier und ebenso großer Klatschsucht. So überredete er das Mädchen dazu, die Korridortür zu öffnen und anzulehnen und dann die Wirtin in deren Zimmer zurückzuhalten.

Ganz deutlich liegt der Gang der Handlung vor mir. Es ist ein schlauer Bursche, mit dem wir es hier zu tun haben, Doktor, ein Teufelskerl, der kalt jede Chance berechnet. Aber ich werde ihn dennoch fassen, ich werde ihn fassen...«

Krag war ungewöhnlich lebhaft und gesprächig. Fast zu lebhaft, fand der Arzt, den die unheimliche Tragödie und der nervenaufreizende Anblick, den er soeben gehabt, stark ergriffen hatte.

Die Neugierigen waren nun aus dem Tor und von der Straße verschwunden. Der Wagen aber wartete noch immer. Krag schickte ihn fort.

»Wir brauchen ihn nicht«, sagte er. »Der Abend ist so mild und schön, gehen wir lieber zu Fuß.«

Der Arzt sagte sich sofort, daß der Detektiv hiermit eine Absicht verbinde. Krag schaute sich aufmerksam um. Plötzlich blieb er vor einem Geschäftslokal stehen.

»Versuchen wir es hier«, murmelte er. »Kommen Sie, Doktor.«

Und er zog den Arzt mit sich hinein. Hinter dem Ladentisch stand der Inhaber selbst. Kaum war Krag eingetreten, als er in aufgeregtem, wütendem Ton zu schelten begann:

»Was ist das für eine unerhörte Schweinerei! Wie können Sie es wagen, verfaulte Zitronen zu verkaufen!«

»Verfaulte Zitronen?« wiederholte der Händler verwundert. »Wir führen nur die besten Zitronen, die es gibt.«

»Unsinn!« schalt Krag weiter. »Riechen Sie doch mal an dem Zitronenstückchen hier. Ja, was sagen Sie nun? Das ist ja ein Skandal. Diese Zitronen hat mein Bruder heute nachmittag bei Ihnen gekauft.

»Das ist unmöglich«, antwortete der andere. »Ich habe den ganzen Nachmittag über keine einzige Zitrone verkauft.«

»Dann muß es ein Mißverständnis sein. Entschuldigen Sie, bitte«, sagte der Detektiv, verbeugte sich höflich und verließ den Laden.

Dem Arzt war der Auftritt sehr peinlich gewesen, aber er begriff nun, wo Krag hinaus wollte.

Dieser ging von Geschäft zu Geschäft, die ganze Straße hinunter. Doch es gelang ihm nicht, festzustellen, wo die Zitronen gekauft waren. Dagegen gelang es ihm, all die Händler durch seine Grobheit in Wut zu bringen.

Endlich fand er jedoch in einer Seitenstraße einen kleinen Laden, in dem er scheinbar mehr Glück haben sollte.


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